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Die Heirath im Omnibus

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Ich entsinne mich nicht mehr der Ausdrücke, deren ich mich bediente, oder Dessen, was ich zu meiner Vertheidigung geltend machte. Ich war wie in einem Schwindel befangen, oder vielmehr, ich sank immer mehr in eine tödtliche Erstarrung. Ich sprach, ohne mich sprechen zu hören, schnell und ohne strengen Zusammenhang, bis ich durch die Stimme meines Vaters abermals zum Schweigen gebracht und zu mir selbst zurückgerufen ward. Ich glaube, ich war bei dem letzten, bei dem schmachvollsten Theile meines Geständnisses angelangt, als er mich unterbrach.

»Erspare mir alle diese Einzelheiten,« sagte er in hastigem, trockenem Tone. »Du hast mich hinreichend gedemüthigt – Du hast mir genug gesagt«

Er zog das Buch, auf welchem während dieser ganzen Zeit seine Hand geruht hatte, aus dem Schranke und näherte sich damit dem Tische. Einen Augenblick blieb er bleich Kind schweigend stehen, dann schlug er langsam die erste Seite des Buches auf und setzte sich.

Ich erkannte das Buch sofort. Es war eine biographische Geschichte unsrer Familie, welche bis zu seinen ersten Ahnen zurückreichte und bis auf die Geburt seiner eignen Kinder fortgeführt war. Die Quartblätter von starkem Pergament waren nach Art der alten Manuscripte mit schönen Malereien geschmückt. Dieses Buch hatte ihm jahrelange Forschungen und angestrengten Fleiß gekostet. Auf jedem Blatte standen in regelrechter Ordnung die Tage der Geburt und des Todes, die Vermählungen und die Güter, die Waffenthaten und die mittelalterlichen Titel eines jeden der normannischen Barone, von welchen er seine Abstammung herleitete.

Mein Vater wendete langsam und schweigen die Blätter dieses Buches um, welches seiner Ansicht nach, wie ich glaube, nächst der Bibel das ehrwürdigste war, welches es für ihn gab, die bis er zum letzten Blatte kam, welches meinem Namen gewidmet war. oben am Rande dieses Blattes befand sich mein Miniaturportrait, welches gemalt worden, als ich noch Kind war. Unten stand der Tag meiner Geburt, mein Name, der der Schule und der Universität wo ich meine Studien gemacht, so wie der des Standes, welchem ich mich gewidmet. Der leer gelassene Raum war bestimmt, später andere Nachrichten über meine Person aufzunehmen.

Dieses Blatt war es, auf welches mein Vater seinen Blick heftete. Er beobachtete immer noch dasselbe Schweigen und sein Gesicht hatte immer noch denselben starren, kalten Ausdruck.

Die Drehorgel war verstummt, aber das sanfte Rauschen der Bäume, so wie, das dumpfe Rollen der Wagen schlug immer noch an unser Ohr. In dem Garten eines benachbarten Hauses kamen einige Kinder heraus, um zu spielen, »-

In demselben Augenblicke, wo ihre frischen, muntern, fröhlichen Stimmen in der weichen Sommeratmosphäre zu uns herauf drangen sah ich meinen Vater, während er noch immer die Augen auf das Blatt geheftet hielt, seine zitternden Hände nach meinem Bildnisse ausstrecken, so daß mir der Anblick desselben entzogen ward.«

Hierauf sprach er, aber ohne die Augen aufzuheben und als ob er mehr mit sich selbst spräche als zu mir. Seine sonst, so helle, biegsame und wohlklingende Stimme, hatte jetzt etwas so Rauhes und Heiseres, daß sie an mein Ohr schlug wie die eines Fremden.

»Als ich heute Morgen hierher kam,« hob ernst, »hatte ich mich auf eine peinliche und schmerzliche Unterredung gefaßt gemacht Ich wußte, daß das Geständniß gewisser Fehltritte und beklagenswerther Verirrungen mich betrüben und daß es vielleicht trotz meines guten Willens nicht von mir abhängen würde, sie später vergessen zu können. Weit entfernt aber war ich, darauf gefaßt zu sein, zu hören, welchen Makel mein eigner Sohn mir und den Meinigen aufgedrückt welchen Mißbrauch er mit dem Vertrauen getrieben, welches ich so stolz war, ihm zu bezeugen. Ich brauche meiner Entrüstung nicht Worte zu leihen – Deine Verdammung hängt nicht von mir ab – Du bist der Strafbare und schon hat die Strafe Dich ereilt. Aber nicht Dich allein treffen die Wirkungen derselben, sondern auch Deinen Bruder und seinen Vater – ja sogar der reine Name Deiner Schwester kann jetzt –«

Er schwieg und schauderte. Als er weiter sprach, ward seine Stimme immer matter und sein Kopf neigte sich auf die Brust herab.

»Ich sage Dir nochmals, Du bist zu tief gesunken, als daß ich Dir Vorwürfe machen oder ein Verdammungsurtheil über Dich aussprechen könnte. Ich habe aber eine Pflicht gegen meine beiden Kinder, die nicht hier zugegen sind, zu erfüllen – nachdem diese Pflicht erfüllt sein wird, hebe ich zu Dir ein letztes Wort zu sprechen. Auf diesem Blatte er zeigte mit dem Finger auf das Familienstammbuch, sein Ton ward fester, während seine Züge sich auf seltsame Weise verdüsterten, »auf diesem Blatte war ein freier Raum reserviert, um die künftigen Ereignisse Deines Lebens darein zu schreiben. Wenn ich Dich daher noch als meinen Sohn anerkennte, wenn ich glaubte, daß Deine Gegenwart mit der Gegenwart meiner Tochter in einem und demselben Hause vereinbar wäre, so müßte ich hier eine infamirende Thatsache niederschreiben, welche niemals seit Jahrhunderten eine einzige Seite dieses Buches besudelt hat. Dieser entehrende Schandfleck Deiner Heirath und ihre Folgen würde sich nothwendig auf Alles erstrecken, was vor Deiner Zeit rein von Makel ist, und eben so bis zum Ende über Alles hinwegreichen, was später diesem Buche noch hinzugefügt werden würde. Dies darf aber nicht geschehen. Ich setze keine Hoffnung und kein Vertrauen mehr auf Dich. Ich sehe in Dir nur noch meinen Feind, den Feind meines Hauses. Wollte ich Dich noch meinen Sohn nennen, so wäre dies ein Spott, eine Heuchelei. Es hieße Clara und sogar Ralph beleidigen, wenn ich Dich noch als mein Kind betrachten wollte. In diesem Buche der Erinnerungen ist Dein Platz auf immer vernichtet. Wollte Gott, ich könnte die Vergangenheit eben so aus meinem Gedächtnisse reißen, wie ich dieses Blatt aus diesem Buche reißen kann!«

Während er noch sprach, schlug die Stunde und die alte französische Uhr ließ dasselbe kleine silberne Glockenspiel hören, welches ich in Gegenwart meiner Mutter so oft mit kindischer Freude in ihrem Zimmer angehört. Es war lange; sehr lange her. Der muntere Glockenton verschmolz sich mit dem Geräusche des Pergamentblattes, welches mein Vater aus den Buche und dann in kleine Stücken riß, die er auf die Diele warf. Nachdem er das Buch zugeschlagen, erhob er sich rasch.

Seine Wangen rötheten sich noch ein Mal, und als er wieder zu sprechen begann, ward seine Stimme immer lauter. Es war, als wenn er seinem Entschlusse, mich zu verstoßen, selbst nicht traute und in seinem Zorne die Kraft der Entschließung suchte, welche er in ruhiger Stimmung nicht im Stande gewesen wäre, gegen mich aus sich selbst zu schöpfen.

»Jetzt mein Herr,« hob er an, »wollen wir mit einander sprechen wie ein Fremdling zu dem andern. Sie sind Mr. Sherwins Sohn aber nicht mehr der meinige. Sie sind der Gatte seiner Tochter und gehören nicht mehr zu meiner Familie. Stehen Sie auf mein Herr, wie ich Ihnen das Beispiel dazu gegeben habe – wir Können nicht länger mit einander in einem und demselben Zimmer sitzen. Schreiben Sie – »er schob mir Schreibzeug und Papier hin – »schreiben Sie Ihre Bedingungen nieder. Ein schriftliches Versprechen werden Sie vielleicht respektieren. Schreiben Sie die, Bedingungen nieder, unter welchen Sie sich dazu verstehen, auf Zeit Ihres Lebens dieses Land zu verlassen, und nennen»Sie den Preis Ihres Schweigens so wie dessen Ihrer Mitschuldigen – verstehen Sie mich? Schreiben Sie, was Ihnen beliebt. Ich bin, zu allen Opfern bereit, dafern Sie nur England verlassen ewiges Schweigen bewahren und auf den Namen verzichten, den Sie geschändet haben. Mein Gott! Muß ich es erleben, das Schweigen über die Schande meiner Familie mit Geld zu erkaufen und einen solchen Handel mit meinem Sohne zu machen!«

Verzweiflung und Scham hatten bis jetzt meine Zunge« gefesselt. Ich hatte kein einziges Wort zu meiner Verteidigung gewagt, aber diese letzte Anrede rüttelte mich wieder zur Energie empor. Ein Grad von dem Stolze meines Vaters erwachte in meinem Herzen dieser Verachtung gegenüber.

Ich richtete den Kopf empor un zum ersten Male schauten meine Augen direct in die seinigen. Ich schob die Schreibmaterialien weit von mir hinweg und verließ meinen Platz neben dem Tische.

»Bleib,« rief er, »Du wirst noch nicht gehen. Willst Du vielleicht thun, als hättest Du mich nicht verstanden?«

»Eben weil ich Dich verstanden habe, Vater, gehe ich. Ich habe Deinen Zorn verdient und mich ohne Murren Allem unterworfen, was er über mich verhängen würde. Mit welcher Demüthigung aber ich auch gestraft worden bin und wie groß mein Unglück auch sein mag, so kann ich doch nicht vergessen, daß ich eine so harte Züchtigung nicht verdient habe. Ich habe unrecht an Dir gehandelt, ich habe vergessen, was ich dem Range unsrer Familie schuldig war. Nach der andern Seite dagegen habe ich ehrenwerth und vollkommen gewissenhaft gehandelt. Vielleicht hatte ich das Recht, zu erwarten, daß Du dies als eine Milderung meines Fehlers betrachten würdest; vielleicht durfte ich nicht glauben, daß den Gefühlen, mit welchen Du meinen Fehltritt betrachtest, sich einiges Mitleid beigesellen würde, aber dennoch hatte ich, glaube ich, das Recht, zu hoffen, daß Deine Verachtung eine stillschweigende und daß die letzten Worte, die Du an mich richtest, keine Beleidigung sein würden.«

»Du sprichst von Beleidigung und wagst diesen Ton anzunehmen? Ich sage Dir nochmals, ich verlange von Dir eine schriftliche Verpflichtung, wie ich sie von einem fremden Menschen, dem ich mißtraue, verlangen würde. Ich will sie haben, ehe Du dieses Zimmer verlässt.«

»Alles, was diese demüthigende Schrift mir auflegen soll, werde ich ohnehin thun und mehr noch. Die Ehre Deiner Familie wird mir stets so heilig bleiben als Dir selbst. Ich werde Deinen Namen vor dem Brandmale bewahren, das sich an den meinigen heftet. Dabei aber will ich nur meinem eignen Willen folgen. Ich will nur durch eine gegen mich selbst übernommene Verpflichtung verbunden sein. Ich will mich nicht dafür bezahlen lassen. Ich bin noch nicht so tief gesunken, daß ich Lohn für Erfüllung einer Pflicht verlangte. Es steht Ihnen frei, zu vergessen, daß Sie mein Vater sind, aber ich werde niemals vergessen, daß ich Ihr Sohn bin.«

 

»Mögen Sie dies vergessen oder nicht, so frage ich weiter nicht darnach. Ich bestehe darauf, diese schriftliche von Ihnen unterschriebene Verpflichtung zu haben, wäre es auch nur, um zu zeigen, daß ich aufgehört habe, Ihrem Worte Vertrauen zu schenken. Schreiben Sie auf der Stelle, mein Herr – verstehen Sie mich? Schreiben Sie!«

Ich rührte mich nicht und antwortete nicht.

Die Züge meines Vaters, in denen eine neue Veränderung vorging, wurden noch bleicher. Seine Finger zitterten krampfhaft und zerknitterten den Bogen Papier, als er ihn von dem Tische hinweg nehmen wollte.

»Sie weigern sich!« rief er in kurzem Tone.

»Ich habe es Ihnen schon gesagt, mein Herr.«

»Hinaus!« rief er nun, indem er mit zorniger Gebärde auf die Thür zeigte; »hinaus mit Ihnen aus diesem Hause, welches Sie niemals wieder betreten werden! Hinaus mit Ihnen! Sie sind von nun an für mich nicht bloß ein Fremdling, sondern ein Feind! Ich habe kein Vertrauen zu dem einfachen Versprechen, welches Sie mir gegeben. Es giebt keine Nichtswürdigkeit, deren ich Sie nicht fähig glaubte. Aber ich sage Ihnen – Ihnen sowohl als den Elenden, mit welchen Sie gemeinschaftliche Sache gemacht haben – nehmen Sie sich in Acht. Ich besitze Vermögen, ich besitze Einfluß – ich bekleide einen Rang, ich werde Alles gegen den Mann oder das Weib aufbieten, welche den makellosen Ruf meiner Familie compromittiren würden. Gehen Sie merken Sie sich das! Gehen Sie!«

Als er, diese letzten Worte sprach und in demselben Augenblicke, wo meine Hand sich auf das Thürschloß legte, ließ ein halb ersticktes Seufzen oder Schluchzen sich. in der Richtung des Bibliothekzimmers hören.

Mein Vater schwieg und ließ seine Blicke-umherschweifen.

Durch, ich weiß nicht welche Inspiration bewogen, blieb ich ebenfalls stehen. Meine Augen folgten den seinigen und hefteten sich auf den Vorhang, der die in Bibliothek führende Thüre verdeckte.

Dieser Vorhang hob sich ein wenig, fiel wieder, ward aber, mit Einem male gänzlich auf die Seite geschlagen.

Clara trat langsam und-geräuschlos in das Zimmer. Ihr stilles und so unvorhergesehenes Eintreten in diesem Augenblicke, ihr hohler stierer Blick, ihr bleiches Gesicht, ihre weiße Kleidung, ihr langsamer Gang und die Sorgfalt, mit der sie das Geräusch ihrer Tritte gedämpft hatte, Alles trug dazu bei, ihrer Erscheinung etwas Uebernatürliches zu verleihen. Es war, als wenn Clara's Geist und nicht sie selbst auf uns zukäme.

Als sie an meinem Vater vorüber schwebte, nannte er im Tone des Erstaunens ihren Namen, aber es war mehr ein verhaltenes Murmeln als ein Ruf.

Einen Augenblick lang blieb sie zögernd stehen.

Ich sah sie zittern, als ihre Augen denen unsres Vaters begegneten, dann richtete sie dieselben wieder auf mich, näherte sich einige Schritte, ergriff mich bei der Hand und stellte sich neben mich, unserem Vater gegenüber.

»Clara,« rief nochmals in demselben gedämpften Tone.

Ich fühlte die kalte Hand des armen Mädchens fest die meine drückend, so fest, daß ihre schlanken Finger mir fast Schmerz verursachten. Ihre Lippen bewegten sich, brachten aber nur unartikulierte Laute hervor, so gebrochen keuchte ihr Athem.

»Clara!« wiederholte mein Vater zum dritten Male in festerem Tone.

Bei den ersten Worten aber, die er hinzufügte, ward seine Stimme wieder hohl und umschleiert, denn in demselben Augenblicke erfuhr er jenen mächtigen Einfluß, den die Ritterlichkeit seines Charakters, die sich im vorliegenden Falle mit seiner väterlichen Liebe zu meiner Schwester verschmolz, auf ihn ausübte.

»Clara,« sagte er in traurigem, mattem Tone, laß seine Hand los – Deine Gegenwart ist hier am unrechten Orte. Verlaß uns – ich bitte Dich, Du darfst nicht seine Hand ergreifen. Er hat eben so aufgehört, mein Sohn als Dein Bruder zu sein. Clara, hörst Du mich nicht?«

»Verzeihe mir, mein Vater, ich höre Dich,« antwortete sie. »Gebe Gott, daß meine Mutter im Himmel Dich nicht auch höre!«

Er näherte sich ihr, aber bei den letzten Worten, die sie sprach, blieb er plötzlich stehen und wendete das Gesicht von uns ab. Wer konnte sagen, welche Erinnerungen an vergangene Tage in diesem Augenblicke in seinem Herzen erwachten?

»Du hast« gesprochen, Clara, wie Du nicht sprechen solltest,« fuhr er fort, ohne den Kopf emporzurichten. »Deine Mutter-« seine Stimme zitterte und versagte ihm. »Wirst Du nach Dem, was ich Dir so eben gesagt, fortfahren, ihm die Hand zu reichen? Ich sage Dir nochmals: Er ist unwürdig, vor Deinen Augen zu erscheinen. Mein Haus ist fortan nicht mehr das seine – muß ich Dir befehlen, von ihm abzulassen?«

Der Instinct des Gehorsams behauptete die Oberhand. Clara ließ meine Hand los, aber ohne sich deswegen von mir zu entfernen.

»Verlaß uns jetzt, Clara,« fuhr mein Vater fort. »Du hast unrecht daran gethan, in dem Nebenzimmer unser Gespräch anzuhören. Wenn ich hinaufkomme, werde ich mit Dir sprechen, hier darfst Du nicht länger bleiben.«

Sie faltete ihre zitternden Hände und seufzte schwer.

»Ich kann nicht gehen,« sagte sie sehr rasch und ohne Athem zu schöpfen.

»Dann« muß ich Dir wohl zum ersten Male sagen, daß Du als ungehorsame Tochter handelst.«

»Ich kann nicht,« antwortete sie wieder in dem selben bittenden Thone, »ich kann nicht eher, als bis Du mir gesagt hasts daß Du ihm verzeihen wirst.«

»Ich sollte ihm verzeihen? Ich sollte vor solchen Gräueln die Augen verschließen? Clara, bist Du so verändert, daß Du mir offenen Widerstand zu leisten wagst?«

Indem er dies sagte, entfernte er sich einige Schritte von uns.

»O nein, nein!« rief sie und eilte auf ihn zu, blieb aber auf der Hälfte des Weges stehen und drehte sich wieder nach mir herum – ich stand immer noch an der Thür.

»Sidney,« rief sie, »Du hast mir nicht Wort gehalten! Du hast nicht Geduld genug gehabt. – O, mein Vater, wenn ich jemals Deine Güte verdient habe, so trage sie auf ihn über! Sidney, sprich doch! Sidney, bitte unsern Vater auf den Knieen um Verzeihung! O, mein Vater, ich habe ihm versprochen, daß Du ihm Verzeihung gewähren würdest, wenn ich Dich darum bäte! Keiner spricht ein Wort. O, das ist zu schrecklich!. Geh’ noch nicht fort, Sidney – geh’ noch nicht fort! O, mein Vater bedenke, wie gut, wie freundlich er gegen mich gewesen ist – er – der geliebte Sohn unsrer armen Mutter – ich muß wohl von, ihr sprechen. Du hast mir selbst gesagt, daß er von meinen beiden Brüdern der gewesen ist, welchen sie immer am meisten geliebt hat. Er war der Liebling meiner Mutter. Willst Du um eines ersten Fehltrittes, um eines ersten Kummers willen, den er Dir bereitet, sagen, daß unser Haus fortan nicht mehr das seinige sei? Strafe mich, mein Vater – ich habe eben so gut unrecht gehandelt als er. Als ich hörte, daß Eure Stimmen sich so laut erhoben, horchte ich in der Bibliothek – Sidney! O, er geht – nein, nein – noch nicht!«

Sie eilte nach der Thüre, als ich dieselbe öffnete, und schlug sie heftig wieder zu. Erschreckt durch die Aufregung, welcher ich sie zur Beute werden sah, war mein Vater, während sie sprach, in seinen Sessel niedergesunken. Jetzt erhob er sich und sagte:

»Clara, ich befehle Dir, ihn gehen zu lassen.«

Dann kam er einige Schritte auf mich zu und rief:

»Gehen Sie – seien Sie wenigstens so menschlich mich von der Qual zu befreien, dir Ihr Anblick mir verursacht.«

Ich sagte leise zu meiner Schwester:

»Ich werde Dir schreiben, liebe Schwester.«

Dann machte ich mich aus ihren Armen los, welche fest und doch weich meinen Hals umschlungen hielten. Auf der Schwelle der Thür drehte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick in dieses Zimmer.

Clara lag in den Armen meines Vaters, auf dessen Schulter sie ihr Haupt ruhen ließ. Eine himmlische Ruhe malte sich auf ihrem reinen Antlitze, welches in diesem Augenblicke einen fast überirdischen Ausdruck hatte. Sie war ohnmächtig geworden.

Mein Vater hielt in dem einen Arme die sinkende Gestalt meiner Schwester, während er in der andern freien Hand ungeduldig hinter sich an der Wand nach der Klingelschnur umher tastete.

Dabei waren seine Augen mit dem Ausdrucke unaussprechlicher Liebe und Besorgniß auf das Gesicht geheftet, dessen heitere Ruhe zu seinen eignen verstörten Zügen einen so auffälligen Gegensatz bildete.

Eine Minute lang sah ich sie so, ehe ich die Thür hinter mir schloß. Einen Augenblick später hatte ich das Haus verlassen.

Von diesem Tage an bin ich nicht wieder dahin zurückgekehrt; von diesem Tage an habe ich meinen Vater nicht wieder gesehen.

Dritter Band

Erstes Kapitel

Wenn wir die Neigungen und Impulse betrachten, welche das Spiel unserer Leidenschaften regeln, so sind es oft die einfachsten und geringfügigsten von allen, die uns beseelen. Erst wenn der Stoß kommt und unser Gemüth davor zurück bebt, wenn die Freude sich in Kummer oder der Kummer sich in Freude verwandelt, sehen wir klar, welchen Alltäglichkeiten der wirklichen Welt unser Geist seine höchsten Freuden oder seine tiefste Schwermuth entlehnt hat.

Es war mir beschieden, Etwas davon zu erfahren, als, nachdem ich einen Augenblick zögernd vor der Thür des Hauses. meines Vaters gestanden und mich einsamer in der Welt stehen sah als die Unglücklichsten, die an mir vorübergingen, meine Schritte wie sonst die Richtung nach der Nordvilla nahmen. Der Instinct einer letzten Pflicht, welche mir zu erfüllen blieb, leitete mich weit mehr als ein freier Impuls meines eigenen Willens durch die Straßen von London mitten im strahlenden Glanze eines der schönsten Sommertage.

Ich sah mich daher abermals auf dem Wege der täglichen Wanderung, die ich ein ganzes Jahr lang gemacht, und jetzt zum ersten Male bemerkte ich, daß es auf diesem ganzen Wege fast keinen Ort gab, der mir nicht theuer gewesen wäre und der sich nicht durch irgend eine Ideenverbindung mit Margarethe Sherwin in meine Erinnerung eingegraben hätte.

Hier sah ich den bekannten Kaufladen, an dessen Schaufenster so viele allerliebste kleine Tändeleien ausgestellt waren, daß ich im Vorbeigehen alle Mal in Versuchung kam, einige davon zu kaufen, um sie ihr zum Geschenke zu machen. Dort sah sich die geräuschvolle Ecke der Straße von aller Architektur entblößt, der aber meine Träume früher eine feenhafte Erscheinung liehen, weil ich, wenn ich bis hierher war, wußte, daß ich über die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatte.

Ein wenig weiter hin gewahrte ich die Bäume des Parks, Bäume, welche früher selbst in der Jahreszeit, wo sie entstaubt waren, mein Auge erfreuten; denn war ich nicht mit ihr unter ihren Schatten gewandelt? Noch einige Schritte und ich gelangte an die Ecke, wo man die lange Straße der Vorstadt verläßt, um Hollyoake Square zu betreten, einen einsamen, staubigen Ort, der früher dennoch für mich goldene Illusionen barg, gleich dem Vorhange von grobem Stoffe, welcher eine römische Madonna verhüllt.

Alle diese Ideen drängten sich mir auch jetzt noch auf, als ich entehrt und ruiniert denselben Weg nach der Nordvilla zurücklegte.

Ich ging, ohne einen Augenblick zu zögern und ohne an Umkehren auch nur zu denken. Ich hatte gesagt, daß die Ehre meiner Familie durch den Schlag, welcher mich getroffen, nicht berührt werden solle, und war entschlossen, dieses Wort zu halten bis zum letzten Hauche meines Lebens. Ich mußte meinen Vater zwingen, früher oder später seine Ungerechtigkeit zu bereuen und von seiner Verachtung gegen mich zurückzukommen.

Dieser Entschluß gab mir Vertrauen zu mir selbst, zu meiner Energie, Alles zu ertragen, jene Kaltblütigkeit, mit welcher ich trotz des von meinem Vater über mich ausgesprochenen Verbannungsurtheils gerade auf mein Ziel losging.

Und sicherlich, wenn jemals ein Schritt die Geduld des menschlichen Herzens auf eine furchtbare Probe gestellt hat, so war es dieser. Ich mußte Mr. Sherwin gegenübertreten – vielleicht auch Margarethen, welche Demüthigung! – ich mußte gewisse Worte aussprechen, ich mußte deutlich gewisse Wahrheiten zu verstehen geben, welche ihm zeigten, daß fortan jeder Betrug vergeblich, und daß die zweideutigen Ausdrücke seines Briefes von seiner Seite Beleidigungen, von Seiten seiner Tochter ein Meineid seien.

Dies mußte ich thun, und überdies mußte ich, indem ich den Verrath, dessen Opfer ich wart, entlarvte, mich gefaßt machen, die Familie, welcher ich trotz meiner Verbannung noch angehörte, gegen, Alles zu schützen, was durch den Geist der Rache, oder durch Sucht nach Gewinn oder durch die Frechheit des entdeckten Verbrechens und der getäuschten Habgier gegen sie versucht werden konnte. Es war eine schwere und beinahe Unmögliche Aufgabe, aber dennoch mußte ich sie erfüllen.

 

Den Gedanken an diese harte Nothwendigkeit hielt ich meinem Geiste unaufhörlich vor, nicht bloß um mich von meiner Pflicht zu überzeugen, sondern auch um mich gewissermaßen gegen einen andern Gedanken zu panzern, den ich in mir zu unterdrücken suchte: das Bild der bleichen, unbeweglichen Clara, so wie ich sie zuletzt ohnmächtig in den Armen meines Vaters liegen gesehen.

Die Dienerin stand gerade an der Gartenthür der Nordvilla. Es war dieselbe Dienerin die ich in den ersten Tagen meiner verhängnißvollen Leidenschaft gesehen und ausgefragt hatte. Sie empfing eben einen Brief aus der Hand eines sehr ärmlich gekleideten Mannes, der sich sowie ich mich näherte, rasch entfernte.

In dem Augenblicke, wo sie auf die Seite trat, um mich vorbeizulassen, waren ihre Verwirrung und Ueberraschung so groß, daß sie beinahe nicht im Stande war, mich anzusehen oder mit mir zu sprechen. Erst als ich die Thürstufen hinaufging, sagte sie zu mir:

»Miß Margarethe« so nannte sie sie noch! »

Miß Margarethe ist oben, Sir – Sie wünschen doch wahrscheinlich –«

»Ich wünsche sie nicht zu sprechen. Ich habe mit Mr. Sherwin zu sprechen.« Noch hastiger und verlegener als vorher öffnete die Dienerin mir die Thür, welche in den Corridor führte. Aus ihrer Verwirrung schloß ich, während ich eintrat, daß sie mich ihrer Instruction zuwider eingelassen hatte.

Mr. Sherwin, der in dem Zimmer war, rückte schnell den Schirm, welcher den Hintergrund des Zimmers verdeckte, als ob er mir Etwas verbergen wollte, das ich gleichwohl nicht gesehen hatte.

Hierauf kam er auf mich zu, bot mir die Hand, blickte dabei aber fortwährend unruhig nach dem Schirme hin.

»Ah, da sind Sie endlich! Wir wollen in den Salon gehen, nicht wahr? Na, am Schreiben hat es meinerseits nicht gefehlt –«

Er schwieg plötzlich und ließ den ausgestreckten Arm wieder herabsinken.

Ich hatte noch kein einziges Wort gesagt, ohne Zweifel aber hatte er in meinem Blicke und in meinen Manieren Etwas; bemerkt, was ihm den Zweck meines Besuches verrieth.

»Warum sprechen Sie nicht?« sagte er nach einer kurzen Pause, »Warum sehen Sie mich so an? Doch kommen Sie – wir wollen in das andere Zimmer gehen.«

Damit ging er an mir vorüber und nach der Thür, auf welche er zeigte und die er halb öffnete.

Woher kam dieser lebhafte Wunsch, mich zu entfernen? Wen oder was wollte er mir hinter dem Schirme verborgen halten?

Die Dienerin hatte mir gesagt, daß seine Tochter oben sei. Dies fiel mir ein, und da die Worte dieses Mannes mir eben so verdächtig waren als seine Thaten, so beschloß ich, in dem Zimmer zu bleiben, wo wir waren, um das Geheimniß zu durchdringen, welches augenscheinlich mich betraf.

»Ach,« sagte er, indem er die Thür noch weiter öffnete, »Sie wissen, daß der Salon sich jenseits des Speisezimmers befindet – ich empfange meine Gäste stets in dem besten Zimmer.

»Man hat mich aber in dieses gewiesen,« antwortete ich, »ich habe weder Zeit noch Lust, Ihnen nach Ihrem Belieben aus einem Zimmer ins andere zu folgen. Was ich Ihnen zusagen habe ist nicht sehr lang und ich werde es Ihnen hier sagen, dafern Sie mir nicht die Gründe angeben, aus welchen Sie das Gegentheil wollen.«

»Hier! Sie wollen hier mit mir sprechen! Erlauben Sie mir, zu sagen, daß dies bei uns schlichten Handelsleuten das ist, was man eine Unhöflichkeit nennt – ja, ich sage es Ihnen nochmals: eine Unhöflichkeit, eine Grobheit, wenn Ihnen dieses Wort lieber ist.«

Die Muskeln seines Gesichtes zuckten krampfhafter als je, und seine boshaften kleinen Augen blickten fortwährend nach dem Schirme.

»Indessen,« sagte er leise zu sich selbst, indem er sich wieder auf seinen ersten Platz zurückbegab, »indessen, mag kommen was da wolle. An mich können die Aerzte und Frauen sich nicht halten – Niemand kann sagen, daß ich nicht klug oder nicht vorsichtig gewesen sei – Niemand kann mir seinen Mangel an Schonung zum Vorwürfe machen. Wohlan,« fuhr er fort, während ein wilder Troß sich in seinen Gebärden und Blicken malte, »thun wir, wie Sie wünschen – bleiben wir hier. Sie werden es bald bereuen – davon bin ich überzeugt. Sie scheinen sich indessen mit dem Sprechen viel Zeit zu nehmen. Ich will mich daher setzen – thun Sie für Ihre Person, was Ihnen beliebt. Also machen wir keine langen Worte – kommen Sie in freundlicher Absicht, um mich zu bitten, daß ich meine Tochter herunterkommen lasse, und wollen Sie sich in Bezug auf sie als der Ehrenmann zeigen, den wir in Ihnen voraussetzen – oder ist Ihre Absicht eine andere?«

»Sie haben mir zwei Briefe geschrieben, Mr. Sherwin.«

Ja, und ich habe mir viel Mühe gegeben, daß sie richtig. in Ihre Hände gelangen sollten. Ich habe sie selbst in Ihrem Hause abgegeben.«

»Man muß Sie auf gröbliche Weise belogen haben, daß Sie mir solche Briefe schreiben konnten, und in diesem Falle wären Sie einfach zu bemitleiden – oder.«

»Zu bemitleiden! Wo zum Teufel wollen Sie hinaus? Niemand verlangt hier Ihr Mitleid.« –

»Oder Sie versuchten mich zu belügen, und in diesem Falle muß ich Ihnen erklären, daß jeder Betrug fortan unnütz ist. Er kann nur dazu dienen, Nichtswürdigkeit auf Nichtswürdigkeit zu häufen und das Verbrechen des Vaters zu dem Verbrechen der Tochter zu gesellen. Ich weiß Alles – ich weiß mehr als Sie glauben, mehr als Sie wünschen, das ich Wissen möchte.«

»Ah, in diesem Tone sprechen Sie also mit mir? Ich errieth es doch fast gleich, als Sie eintraten. Wie Sie glauben meiner Tochter nicht, Sie glauben ihr nicht? Sie wollen Winkelzüge und Ausflüchte manchen? Sehe Einer doch! Ich bin aber ein Mann, der Ihnen zu antworten wissen wird. Wir haben das Certificat über die Vermählung nicht verloren – wir haben es in der Tasche. Sie wollen also an meinem armen Kinde nicht als Mann von Ehre handeln? Dann gehe ich sofort zu Ihrem Vater, um ihm die ganze Sache zu erzählen – ich gehe hin, so wahr ich Sherwin heiße!«

Er schlug mit der Faust heftig auf den Tisch und sprang bleich. vor Wuth vom Stuhle auf.

Der Schirm bewegte sich ein wenig und ich hörte das Rauschen eines Frauengewandes Sherwin kam auf mich zu, blieb aber sofort stehen und murmelte einen leisen Fluch, während er zugleich einen Blick hinter sich warf.

»Ich rathe Ihnen, hier zu bleiben,« sagte ich. »Mein Vater hat heute Morgen schon Alles aus meinem eigenen Munde erfahren. Er hat mich verstoßen, er erkennt mich nicht mehr als seinen Sohn an und ich habe sein Haus auf immer verlassen.«

Mr. Sherwin drehte sich rasch aus dem Absatze herum, sah mir ins Gesicht und seine Züge nahmen plötzlich neben dem Ausdrucke des Zornes auch den einer außerordentlichen Verlegenheit an.

»Dann kommen Sie also als Bettler zu mir,« rief er, »als Bettler, der mich erst durch hochtrabende Versprechungen verlockt hat, mich mit ihm einzulassen – als Bettler, der nicht die Mittel hat, meine Tochter zu ernähren; ja, ich sage nochmals – als Bettler, der in diesem Tone mit mir zu sprechen wagt! Was frage ich nach Ihrem Vater und nach Ihnen selbst! Ich kenne meine Rechte. Ich bin Engländer, Gott sei Dank, ich kenne meine Rechte und kenne auch die Rechte Margarethens und werde Ihnen Beiden zeigen, daß es nicht eitle Rechte sind. Ja, ja, sehen Sie mich an, wie Sie wollen: ich bin ein ehrlicher Mann und meine Tochter ist eine rechtschaffene Frau.«

Ich betrachtete ihn in diesem Augenblicke mit der Verachtung und dem Widerwillen, den er mir wirklich einflößte. Ein anderes Gefühl erweckte seine Wuth nicht in mir, die Quellen jeder andern lebhafteren oder schmerzlicheren Gemüthserregung waren durch die Ereignisse des Morgens in mir versiegt. Eine noch ganz andere Sprache als die, welche ich gehört, würde eben so wenig Wirkung auf mich geäußert haben. Hatte ich nicht von meinem Vater schon Alles gehört was mir das Herz zerfleischen konnte? In diesem Augenblicke rührte mich daher Nichts, mochte es kommen, aus welchem Munde es wollte.