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Die Heirath im Omnibus

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Ich kehrte an den Tisch zurück und raffte die zerstreut auf demselben umher liegenden Briefe zusammen. Mein Herz klopfte schneller, mein Kopf schwindelte, aber ich hatte den festen Entschluß gefaßt, meinem Vater, was auch daraus folgen würde, mein unglückliches Geheimnis; zu offenbaren.

Ich blieb in Einsamkeit und Dunkel, bis es ganz finster war.

Der Diener brachte mir Licht.

Warum fragte ich ihn nicht, ob Clara und mein Vater wieder nach Hause gekommen seien? Ward mein Entschluß schon wankend?

Nicht lange darauf hörte ich Geräusch auf der Treppe und man pochte an meine Thür War es mein Vater? Nein, es war Clara.

Ich versuchte, als sie eintrat, von gleichgültigen Dingen mit ihr zu sprechen.

»Wie! »bist Du denn bis in die sinkende Nacht spazieren gegangen, Clara?« »

»Wir sind nicht weit gewesen. Weder Papa noch ich bemerkten, daß der Abend schon so weit vorgerückt war. Wir sprachen von Dingen, die uns Beide in hohem Grade interessieren.«

Sie schwieg einen Augenblick und heftete ihre Augen auf die Diele. Dann näherte sie sich mir mit einer gewissen Hast und setzte sich neben mich auf einen Stuhl. Ein eigenthümlicher Ausdruck von Trauer und Unruhe malte sich auf ihrem Gesichte, während sie fortfuhr:

»Und erräthst Du nicht, was das Thema unsrer Unterredung war? Du selbst warst es, Sidney. Unser Vater wird sogleich zu Dir kommen, er will mit Dir sprechen. Vorher aber wollte ich Dir sagen – ich wollte Dich bitten –«

Sie stockte. Eine matte Röthe überzog ihre Wangen, und wie um sich zu fassen, begann sie mehrere auf dem Tische umherliegende Bücher zu ordnen.

Plötzlich hielt sie in dieser mechanischen Beschäftigung inne, die Röthe schwand aus ihrem Antlitze, sie war ganz bleich, als sie wieder zu sprechen begann, und ihre Stimme war merklich verändert – so auffallend verändert, daß ich einen Augenblick lang zweifelte, ob es die ihre wäre.

»Du weißt, Sidneh, daß Du uns seit langer, seit sehr langer Zeit eine wichtige Angelegenheit verheimlicht hast. Mir hattest Du versprochen, Dein Geheimniß zuerst zu enthüllen, aber ich habe mich anders besonnen. Ich wünsche nicht mehr dieses Geheimniß zu wissen, lieber Bruder, und es wäre besser, wenn davon zwischen uns nie die Rede gewesen wäre.«

Sie erröthete und ihr Zögern verrieth sich abermals, dann setzte sie in ernstem Tone sehr rasch hinzu:

»Ich hoffe jedoch, daß Du unserm Vater Alles sagen wirst. Er kommt hierher, um Dir dieses Geständniß abzufordern. Ach, lieber Sidney, sei offen gegen ihn, verbirg ihm Nichts. Wir wollen unter einander wieder sein wie wir früher, wie wir voriges Jahr waren. Du hast Nichts zu fürchten, dafern Du offenherzig und ohne Rückhalt sprichst, denn ich habe ihn beschworen, sich gegen Dich gut und nachsichtig zu zeigen, und Du weißt, daß er mir Nichts abschlägt. Ich bin jetzt bloß gekommen, um Dich aufzufordern; Vertrauen und Vernunft zu zeigen. Doch still! Ich höre einen Tritt auf der Treppe. Also erkläre Dich, Sidney, aus Liebe zu mir! Ich beschwöre Dich, die Erklärung zu geben, welche von Dir verlangt werden wird; dann laß mich das Uebrige thun.«

Und sie verließ mit einem gewissen Grade von Eile mein Zimmer.

Eine Minute später trat mein Vater ein.

Vielleicht täuschte mich mein schuldiges Gewissen, aber es schien mir, als wenn er mich mit einer traurigen, strengen Miene betrachtete, die ich noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Seine Stimme zitterte ebenfalls, als er sprach – ein bei ihm sehr bedeutsames Symptom.

»Ich komme, Sidney, um mit Dir von einer Sache zu sprechen, welche Du selbst zuerst hättest zur Sprache bringen sollen.«

»Ich glaube, zu errathen, was Du meinst, lieber Vater, und ich –«

»Ich muß, Dich bitten, mich mit der ganzen Geduld anzuhören, welche Dir zu Gebote steht,« antwortete er. »Ich werde kurz sein.«

Es trat eine Pause ein, während welcher ein schwerer Seufzer sich seiner Brust entrang. Ich glaubte eine gewisse Rührung in seinem Blicke zu bemerken. Ich fühlte mich fast gedrängt, mich an seine Brust zu werfen, meinen Thränen, die mich zu ersticken drohten, freien Laus zu lassen und ihm zu bekennen, daß ich nicht mehr werth sei, sein Sohn zu heißen.

O, daß ich diesem Impulse nachgegeben hätte! O, daß wir immer auf die Stimme des Engels hörten, welcher in unserm Innern flüstert!

»Sidney,« fuhr mein Vater in gleichzeitig ernstem und traurigem Tone fort, »ich hoffe und glaube, daß ich mir in meiner Handlungsweise gegen Dich sehr wenig Vorwürfe zu machen habe. Ich glaube mich zu rechtfertigen, wenn ich sage, daß sehr wenig Väter gegen ihren Sohn so gehandelt haben würden, wie ich während des ganzen verflossenen Jahres, wo nicht schon seit noch längerer Zeit an Dir gehandelt habe. Vielleicht habe ich im StilIen über das beklagenswerthe Geheimniß geseufzt, welches Dich uns seit einiger Zeit entfremdet hat. Vielleicht habe ich Dir durch mein Benehmen den Schmerz zu erkennen gegeben, den ich darüber empfand, aber niemals habe ich meine Autorität gebraucht, um Dich zu zwingen, über Dein Verhalten eine Erklärung abzugeben, welche Du Dich so hartnäckig weigertest, uns auf freien Antrieb mitzutheilen. Ich vertraute auf die Ehre und Moralität meines Sohnes. Ich werde auch jetzt noch nicht glauben, daß dieses Vertrauen am unrechten Orte gewesen ist; aber es hat mich, fürchte ich, verleitet, all zulange die Pflichten der Wachsamkeit zu vernachlässigen, die ich über Dich, zu Deinem eignen« Besten, üben sollte. Jetzt muß ich diese Nachlässigkeit büßen. Die Umstände lassen mir keine Wahl mehr, Sidney, es liegt mir als Vater und als Haupt unserer Familie viel daran, zu wissen in Folge welches schweren Unglücksfalles mein Sohn besinnungslos von der öffentlichen Landstraße aufgehoben worden und hierauf in eine Krankheit. verfallen ist, welche seinen Verstand und sein Leben gefährdet hat. Du bist jetzt so weit wiederhergestellt, daß Du mir es sagen kannst, und ich stütze mich einfach auf die Autorität, welche Gott mir über meine Kinder gegeben, wenn ich Dir sage, daß ich Alles wissen muß, daß Du mir die ganze Wahrheit sagen mußt, sollte diese Erzählung auch Dich und mich demüthigen. Wenn Du Dich jetzt noch weigerst, so werden von diesem Augenblicke an unsre Beziehungen sich für das ganze Leben ändern.«

»Ich weigere mich nicht, lieber Vater, sondern bitte Dich bloß im Voraus, zu glauben, daß, wenn ich mich schwer an Dir vergangen habe, die Strafe meines Fehltritts mich schon erreicht hat. Ich fürchte jedoch, daß selbst Deine traurigsten Ahnungen unmöglich auf das vorbereitet haben, was –«

»In Deinem Fieberwahnsinn hast Du Worte gesprochen, die, ich gehört nach denen ich Dich aber nicht beurtheilen will, obschon sie meine traurigsten Ahnungen rechtfertigen würden.«

»Meine Krankheit hat mir den grausamsten Theil meiner grausamen Prüfung erspart, wenn sie Dich auf das Geständniß vorbereitet hat, welches ich thun muß, und wenn Du muthmaßest –«

»Ich muthmaße nicht, sondern bin nur zu fest überzeugt, daß Du, mein zweiter Sohn, von welchem ich ein ganz andres Benehmen erwartete, im Geheimen Deinem Bruder in seinen beklagenswerthen Verirrungen gefolgt, ja, wie ich fürchte, sogar noch weiter gegangen bist als er.«

»Meinem Bruder? Meine Fehltritte wären die meines Bruders Ralph?«

»Ja, Deines Bruders« Ralph Meine letzte Hoffnung ist, daß Du wenigstens auch Ralph’s Offenheit nachahmen werdest. Wisse seine beste Eigenschaft von ihm zu entlehnen, eben so wie Du Dir schon an seinen Lastern ein Beispiel genommen hast.«

Als ich meinen Vater so sprechen hörte, erstarrte mein Herz und schlug nur noch schwach.

Wie weit, wie schrecklich weit entfernt war mein Vater, nur im Mindesten zu ahnen, was wirklich geschehen war!

Ich machte einen Versuch, auf seine letzten Worte zu antworten, aber plötzlich dachte ich an die Demüthigung, an den ewigen Kummer, der aus meinem Geständnisse für ihn hervorgehen müßte, und ich verstummte.

Als er nach einer kurzen Pause wieder zu sprechen begann, war sein Ton streng und er heftete einen forschenden unerbittlichen Blick auf mich.

»Ein Mann Namens Sherwin,« sagte er, »ist jeden Tag hier gewesen, um sich nach Deinem Befinden zu erkundigen. In welchem Verhältnisse stehst Du zu diesem mir gänzlich unbekannten Manne, daß er sich die Freiheit nimmt, so oft in unserm Hause zu erscheinen und seine Fragen mit einer Vertraulichkeit in seinem Tone und in seinen Manieren zu thun, welche unsre Dienstleute betroffen gemacht hat? Wer ist dieser Mr. Sherwin?«

»Er ist – doch ich muß von einer früheren Zeit anfangen – ich muß –«

»Ja, Du mußt weiter zurückgehen als Du thun zu können scheinst Du mußt bis zu der Zeit zurückgehen, wo Du mir Nichts zu verschweigen hattest und, wo Du mit der Offenheit und Wahrheitsliebe eines jungen Mannes von guter Geburt zu mir sprachst.«

»Ich bitte um ein wenig Geduld, lieber Vater; gestatte mir einige Minuten, um mich zu sammeln. Ich muß in meinen Ideen erst klar werden, ehe ich Dir Alles sage.«

»Alles – Alles? Dein Ton sagt mehr als Deine Worte. Dieser wenigstens ist aufrichtig. Ich habe das Schlimmste gefürchtet, aber wie es scheint, bin ich in meinen Befürchtungen doch noch nicht weit genug gegangen. Sidney, verstehst Du mich? Sidney, Du zitterst auf seltsame Weise – wie bleich Du wirst!«

»Ich fürchte, ich bin noch nicht wieder so kräftig als ich zu sein gedachte. Mein Vater, mein Herz ist eben so gebrochen wie meine Denkkraft. Habe ein wenig Geduld, sonst bin ich nicht im Stande, mit Dir zu sprechen.«

Es war mir, als sähe ich seine Augen feucht werden. Er bedeckte sie einige Secunden lang mit der Hand und seufzte wieder so schwer und bekümmert, wie ich es kurz vorher schon ein Mal gehört.

Ich machte eine Anstrengung, um mich von meinem Stuhle zu erheben und mich ihm zu Füßen zu werfen. Er deutete diese Bewegung irrig und faßte mich am Arme, denn er glaubte, ich würde ohnmächtig werden.

 

»Für heute Abend ist es genug, Sidney,« sagte er hastig, obschon in sehr sanftem Time. »Sprechen wir erst morgen weiter hierüber.«

»Jetzt kann ich sprechen, lieber Vater. Es wird besser sein, wenn ich mich sofort erkläre.

»Nein, nein, Du bist zu aufgeregt. Ich glaubte Dich wieder kräftiger. Morgen früh – morgen früh wollen wir weiter sprechen, wenn Du gut geschlafen hast. – Nein, nein, ich mag jetzt Nichts mehr hören. Begieb Dich zur Ruhe. Ich will deiner Schwester sagen, daß sie Dich heute Abend nicht weiter stören soll. – Morgen kannst Du ganz nach Deinem Belieben mit mir sprechen, ohne unterbrochen zu werden und ohne Dich zu übereilen. Gute Nacht, Sidney, gute Nacht.«

Ohne zu warten bis ich ihm die Hand reichte, ging er rasch nach der Thür, als, ob er die quälenden Befürchtungen die sich augenscheinlich seiner bemächtigten, meiner Beobachtung entziehen wollte. In dem Augenblicke aber, wo er im Begriffe stand, das, Zimmer zu verlassen zögerte er, drehte sich noch einmal herum – sah mich mit sehr wehmüthiger Miene einen Augenblick lang an reichte mir die Hand, drückte die meinige, ohne Etwas zusagen, und ließ mich allein. Stand wohl zu erwarten, daß er, sobald diese Nacht einmal vorüber wäre, mir je wieder sie Hand reichen würde?

Zehntes Kapitel

Niemals hatte ich einem so lachenden, so schönen Morgen gesehen wie an dem Tage, wo zwischen»mir und meinem Vater Alles entschieden, wo über meine Zukunft, über meine Stellung in der Familie der Urtheilsspruch gefällt werden sollte.

Der reine, unbewölkte Himmel, die Milde, weiche Temperatur, der helle, blendende Sonnenschein, welcher selbst die gewöhnlichsten Gegenstände in einem Lichtmeer schwimmen ließ – alles Dies stand,in grellem Wiederspruche zu den Empfindungen meines Herzens, während ich so an meinem Fenster stand und an die harte Pflicht dachte die ich zu erfüllen hatte – an das strenge Urtheil, welches noch vor dem Beginne des nächsten Tages gesprochen werden mußte.

Während der Nacht hatte ich mir keinen Plan zu der furchtbaren Enthüllung entworfen, vor welcher ich nicht mehr zurücktreten konnte. Die Krisis schien mir so drohend, daß ich mich vollkommen außer Stand fühlte, mich darauf vorzubereiten.

Ich dachte an den Charakter meines Vaters, an die Grundsätze der Ehre und Freimüthigkeit, welche er bis zum Fanatismus trieb. Ich dachte an seinen Stolz, der sich in seinen Worten allerdings sehr selten verrieth, aber deswegen nicht weniger tief in seiner Natur wurzelte und jede seiner Gemüthsbewegungen und Gesinnungen durchdrang. Ich dachte an jene beinahe weibliche Zurückhaltung, mit der es selbst die entferntesten Anspielungen und unlauteren Hindeutungen mied, von welchen andere Männer sich beim Glase so ungezwungen unterhalten, indem sie dieselben ihren Scherzen zum Grunde legen.

An alles, Dies dachte ich, und indem ich mich erinnerte, daß dies der Mann war, welchem ich die heimlich von mir geschlossene, mich so tief entehrende Vermählung offenbaren sollte, entwich die Hoffnung, die ich auf seine natürliche Liebe gesetzt, und der Gedanke, an seine ritterliche Großmuth zu appelliren, schien mir eine Verirrung, aus welche es Wahnsinn wäre, mich auch nur einen Augenblick lang zu verlassen.

Im Allgemeinen wird unsere Beobachtungsgabe schärfer, wenn unsre Denkkraft von seiner schweren Wucht niedergedrückt wird.

Allein in meinem Zimmer, horchte ich mit unerhörter ermüdender Aufmerksamkeit auf das unbedeutendste Geräusch im Hause, auf Klänge, die sich jeden Tag wiederholten, auf Einzelheiten, an welche ich bis jetzt kaum gedacht. Es war mir, als wenn das dumpfe Geräusch eines Trittes, der Widerhall einer Stimme, das behutsame Oeffnen oder Schließen einer Thür in den unteren Gemächern an diesem verhängnißvollen Tage mir ein geheimes, gegen mich, ich wußte nicht wie oder durch wen, angezetteltes Complott verrathen müßte. Zwei oder drei Mal ertappte ich mich selbst dabei, wie ich auf der Treppe stand und horchte. In welcher Absicht? Dies bin ich kaum im Stande zu sagen.

Gewiß war indessen, daß sich an diesem Morgen eine furchtbare, bedeutsame Ruhe auf das Haus nieder gesenkt hatte. Ich sah Clara nicht kommen, mein Vater ließ mir Nichts sagen – die Klingel schien sich ganz ungewöhnlich stumm zu Verhalten. Ueber mir in der oberen Etage rührten die Dienstleute sich sticht, sie schienen gänzlich unthätig zu sein.

Auf den Zehen Zehrte ich in Mein Zimmer zurück, als ob ich fürchtete, durch das Geräusch meiner Tritte eine Katastrophe herbeizuführen, die sich im Dunkeln vorbereiten. Seit länger als Einem Jahre hatte die Wolke über unserm Herd geschwebt. Heute war der Tag, wo sie endlich zerstreut werden sollte, aber leider nicht durch die Sonne, sondern durch den Sturm.

Ich fragte mich, ob mein Vater mich wieder in meinem Zimmer aufsuchen oder ob er mich in das seinige rufen lassen würde.

Ich blieb nicht lange in Zweifel.

Ein Diener pochte an meine Thür. Es war derselbe, welcher mich in meiner Krankheit gepflegt hatte. Gern hätte ich die Hand dieses Mannes ergriffen, ihn um seine Theilnahme gebeten und bei ihm Ermuthigung gesucht.

»Sir,« sagte er, »mein Herr hat mir befohlen, Ihnen zu sagen, daß er, wenn Sie sich wohl genug fühlen, Sie in seinem Zimmer zu sprechen wünscht.«

Ich erhob mich sofort und folgte dem Diener.

Auf dem Corridor kam ich an der Thür vorüber, welche in Clara’s Zimmer führte. Diese Thür öffnete sich. Meine Schwester trat heraus und legte die Hand auf meinen Arm. Sie lächelte, während ich sie ansah, aber ihre Augen waren geröthet vom Weinen und ihr Gesicht war todtenbleich.

»Vergiß nicht, was ich Dir gestern Abend sagte, Sidney,« murmelte sie, »und wenn vielleicht ein wenig rauhe Worte an Dich gerichtet werden, so denke an mich. Ich werde heute für Dich Alles thun, was unsere Mutter gethan hätte, wenn sie noch bei uns wäre. Dies vergiß nicht, sei standhaft und hoffe.«

Sie kehrte rasch in ihr Zimmer zurück und ich ging die Treppe hinunter.

In der Hausflur erwartete mich ein Diener mit einem Briefe in der Hand.

»Dies ist so eben für Sie abgegeben worden, Sir. Der Bote, welcher den Brief brachte, sagte, er brauche nicht auf Antwort zu warten.«

Jetzt war nicht für mich die geeignete Zeit, einen Brief zu lesen, denn die Unterredung mit meinem Vater sollte in diesem Augenblicke stattfinden. Ich schob den Brief rasch in die Tasche und bemerkte dabei bloß, daß die Handschrift der Adresse eine unregelmäßige und mir völlig unbekannte war.

Ich trat in das Zimmer meines Vaters. Er saß vor seinem Tische und war mit dem Aufschneiden einiger neuer Bücher beschäftigt. Indem er mir einen neben ihm stehenden Stuhl anwies, erkundigte er sich zugleich kurz nach dem Zustande meiner Gesundheit und setzte dann, die Stimme senkend, hinzu:

»Nimm Dir so lange Zeit als Du willst, Sidney, um Dich zu sammeln und Deine Gedanken reiflich zu erwägen. Diesen Morgen gehört meine Zeit Dir.

Damit wendete er sich ein wenig von mir hinweg« und fuhr fort, die vor ihm liegenden Bücher aufzuschneiden.

Ich fühlte mich immer noch nicht fähig, mich auf irgend eine Weise auf die Enthüllung vorzubereiten, die man von mir erwartete. Trotz der warmen Luft, welche zu dem geöffneten Fenster hereindrang, fröstelte ich Ohne Gedanken, ohne Hoffnung, ohne irgend ein Gefühl als höchstens das der Dankbarkeit für die mir auf diese Weise gewährte Frist, ließ ich meine« Augen mechanisch rings im Zimmer umherschweifen, als ob ich den Urtheilsspruch, der über mich gefällt werden sollte, an den Wänden angeschrieben zu sehen erwartete.

Welcher Mensch hat jemals-erfahren, daß alle seine Denkkraft, selbst in der drückendsten moralischen Beengung, auf einen und denselben Gegenstand concentrirt war? In diesen Augenblicken drohender Gefahr wendet sich der Geist, trotz der Gegenwart, unwillkürlich zurück zur Vergangenheit. In den Augenblicken bitterer Betrübniß denkt er plötzlich, uns selbst zum Trotze, an geringfügige, alltägliche Dinge.

Ich saß schweigend in dem Cabinette meines Vaters, und die verschiedenen Theile und Gegenstände dieses Zimmers riefen, Erinnerungen aus meiner Kindheit wach, die sich an jeden derselben knüpften – Erinnerungen, die ich seit langer Zeit vergessen und deren Wiedererwachen gleichwohl durch meine Unruhe und fieberhafte Aufregung nicht verhindert ward. Die, Erinnerungen, welche in diesem kritischen Augenblicke zuletzt hätten erwachen sollen, waren gerade die ersten die sich in mir regten.

Mit schwellendem, Herzen und fieberhaften Augen betrachtete ich die Wände rings um mich her. Dort in jenem Winkel, befand sich die rothe Tapetenthür, welche in die Bibliothek führte. Wie oft hatten Ralph und ich, als wir noch Knaben waren, einen schüchternen, neugierigen Blick durch diese Oeffnung geworfen, um zu sehen, was unser Vater in seinem, Cabinet machte, und uns über die große Anzahl von Briefen zu wundern, die er schrieb so wie über die Menge, Bücher, welche er lesen mußte! Wie waren, wir eines Tages Beide erschrocken als er uns ertappt und tüchtig ausgescholten hatte! Wie glücklich waren wir einen Augenblick später gewesen, nachdem wir ihn gebeten, uns zu verzeihen, und er uns zum Beweise seiner Verzeihung mit einem großen Bilderbuche zum Ansehen in die Bibliothek zurückgeschickt hatte!

Vor dem Fenster stand das alte, hohe antike Pult von Acajouholz, aus welchem noch derselbe große Folioband mit Bildern aus der biblischen Geschichte lag, in welchem Clara und ich zuweilen Sonntags Nachmittags blättern durften, wobei wir immer wieder neuen Genuß fanden.

Und in der Wandvertiefung, zwischen zwei Büchergestellen, sah ich denselben alten Secretair mit seinen Reihen von kleinen Schubfächern und auf dem oberen Aufsatze die alte französische Stutzuhr, die früher meiner Mutter gehört, und welche die Stunden so hell und munter schlug. Vor diesem Secretair sagten Raiph und ich unserm Vater Lebewohl, wenn wir nach den Ferien wieder auf die Schule zurückkehrten, und erhielten unser kleines Taschengeld. Aus einem dieser kleinen Schubfächer nahm unser Vater das Geld.

Dicht daneben erwartete uns gewöhnlich Clara, damals ein rosiges Kind, mit ihrer Puppe auf dem Arme, um ebenfalls von uns Abschied nehmen, wie sie niemals zu thun verfehlte, und um uns aufzufordern, bald wiederzukommen und dann nicht wieder fortzugehen.

Ich drehte mich um und schaute nach dem Fenster hin, denn die Erinnerung, welche dieses Zimmer mir zurückrief, bedrückte mich.

Draußen indem beschränkten Raume des Gartens murmelten einige verkümmerte mit Straßenstaub bedeckte Bäume eben so angenehm als wenn ein frischer Wind auf einer freien, offenen Wiese durch ihr Laubwerk geweht hätte. Weiterhin hörte ich das verworrene Summen der Straße, das Wühlen und Treiben London? am hellen Mittage Gleichzeitig und näher aus einer Seitengasse drang der muntere Ton einer Drehorgel. Sie spielte eine reizende Polka, nach welcher ich oft getanzt.

Welche ironische Erinnerungen im Innern, welche ironische Töne von draußen bildeten das Vorspiel zu dem traurigen Geständnisse, welches ich zu thun hatte und welches davon begleitet sein sollte! Die Minuten folgten mit unerbittlicher Schnelligkeit auf die Minuten, aber dennoch brach ich das Schweigen nicht. Langsam und ruhig richtete ich meine Augen wieder auf meinen Vater. Er fuhr fort, nicht nach mir her zu sehen, und schnitt immer noch seine Bücher auf.

Selbst bei dieser geringfügigen Verrichtung verriethen sich aber die Gemüthsbewegungen, die er zu verbergen bemüht war, auf furchterregende Weise. Seine gewöhnlich so feste und geschickte Hand zitterte sichtlich und das Papiermesser schnitt oft schräg und in die Seiten hinein.

Ich glaube, er errieth, daß ich ihn ansah, denn er unterbrach sich plötzlich in seiner Beschäftigung und drehte sich ohne Weiteres nach mir herum.

»Ich habe mir vorgenommen, Dir Zeit zu lassen,« sagte er, »und es fällt mir auch nicht ein, meinem Entschlusse untreu zu werden. Nur bitte ich Dich, zu bedenken, daß jede Minute Verzögerung den Schmerz und die Unruhe steigert die ich um Deinetwillen empfinde.«

Er nahm wieder »ein frisches Buch zur Hand und setzte in leiserem Tone hinzu:

»Raph würde an Deiner Stelle schon gesprochen haben.«

Wieder Ralph! Ralph’s Beispiel ward mir abermals vorgehalten! Nun konnte ich nicht länger schweigen.

»Die Fehler, welche mein Bruder an Dir und an seiner Familie begangen hat, sind nicht mit den meinigen zu vergleichen, lieber Vater,« begann ich. »Ich habe nicht seine Laster nachgeahmt Ich habe gehandelt, wie er an meiner Stelle nicht gehandelt haben würde, und dennoch hat keine seiner Verirrungen ein so unheilvolles Resultat gehabt, als welches das meines Fehltrittes in Deinen Augen erscheinen wird.«

 

Er sah mich scharf an, indem ich diese Worte sprach. Ein düsteres Feuer entzündete sich in seinen Augen und der bedeutsame rote Fleck kam auf seinen bleichen, Wangen sofort zum Vorscheine.

»Was willst du damit sagen?« fragte er kurz.

»Ich, will diese Frage auf, indirecte Weise beantworten, lieber Vater,« entgegnete ich. Gestern Abend fragtest Du mich wer jener Mr. Sherwin sei, der so oft hier in unserm Hause gewesen ist, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.«

«Ja wohl! Auch heute Morgen ist er wieder dagewesen. Uebrigens habe ich auch noch andere Fragen an Dich zu richten. In Deinem Delirium hast Du nicht aufgehört, einen Frauennamen zu nennen. Vorher aber wiederhole mich die Frage: Wer ist dieser Mr. Sherwin?

»Er wohnt in –«

»Ich frage Dich nicht wo er wohnt, was er ist, was er macht?

»Mr. Sherwin ist Modewarenhändler in, Orfordstreet.«

»Du bist ihm wohl Geld schuldig? Er hat Dir welches geliehen, nicht wahr? Schweig’! Deine Umschweife und Ausreden nützen Dir bei mir Nichts. Warum hast Du mir dies nicht sogleich gesagt? Du hast mein Haus beschimpft, indem Du diesen Menschen nöthigst, hierher zu kommen, um Dich zu mahnen. Er nannte sich, indem er sich nach Deinem Befinden erkundigte, Deinen Freund – dies haben mir die Diener wiedererzählt. Dieser Krämer, dieser Geldwucher ist also Dein Freund! Wenn man mir gesagt hätte, da? der ärmste Tagelöhner, welcher auf meinen Aeckern arbeitet, sich Deinen Freund nennt, so würde ich Dich durch die Anhänglichkeit und Dankbarkeit eines ehrlichen Mannes geehrt geglaubt haben. Wenn ich aber höre, daß dieser Name Dir von einem Krämer und Geldwucherer gegeben worden ist, so betrachte ich diese Beziehung zu Leuten, welche aus dem Betruge ein Handwerk machen, als einen Schandflecken für Dich. Du hast recht, Sidney, wenn Du Dich scheust, Dich mir zu entdecken. Wie viel bist Du ihm schuldig? Wo sind die entehrenden Papiere, die Du unterschrieben hast? Oder hast Du vielleicht von meinem Namen und meinem Credit unerlaubten Gebrauch gemacht? Sage es mir sofort – ich will es wissen.«

Er sprach sehr schnell und in verächtlichem Tone, dann stand er von seinem Stuhle auf und ging mit ungeduldiger Miene im Zimmer auf und ab.

»Ich bin Mr. Sherwin kein Geld schuldig, Vater – ich bin Niemandem Geld schuldig.«

Er blieb stehen.

»Du bist Niemandem Geld schuldig?« wiederholte er in sehr langsamem und sehr verändertem Tone. »Dann handelt es sich also um etwas noch Schlimmeres als Schulden?«

In diesem Augenblicke ließ ein leichter Tritt sich in dem Nebenzimmer vernehmen. Mein Vater drehte sich sofort herum und verriegelte die Thür, welche in dieses Zimmer führte.

»Sprich hob er wieder an, »und sprich offen und ehrlich, wenn Du kannst. Warum hast Du mich hintergangen? Während Deines Fieberwahnsinnes nanntest Du fortwährend einen Frauennamen und ließest dabei noch allerhand seltsame Worte fallen, die es mir unmöglich war vollständig zu fassen. Dabei aber sagtest Du genug, um uns Anlaß zu der Vermuthung zu geben, daß diese Person zu den verworfensten ihres Geschlechts gehört, daß ihre Immoralität – doch es ist zu empörend, mich zu nöthigen, von ihr zu sprechen. Ich verlange daher sofort zu wissen, bis zu welchem Punkte das Laster Dich verleitet hat, Dich mit diesem Geschöpfe zu compromittiren.«

»Sie hat mich betrogen, – grausam, entsetzlich betrogen –«

Mehr konnte ich nicht sagen – mein Kopf neigte sich aus die Brust, die Scham zermalmte mich.

»Wer ist sie? Du nanntest sie Margarethe in Deinem Delirium – wer ist sie?«

»Sie ist Mr. Sherwin’s Tochter und –«

Die beiden Worte, welche ich hinzufügen wollte, drohten mir die Kehle zuzuschnüren, Ich verstummte.

Ich hörte ihn bei sich Murmeln:

»Die Tochter dieses Mannes! Dieser Köder ist noch verächtlicher als der des Geldes.«

Er neigte sich zu mir und sah mich an, als ob er in meiner innersten Seele lesen wollte. Ich fühlte, wie ich mit einem Male todtenbleich ward.

»Sidney!« rief er in einem Tone, der beinahe der des Entsetzens war, »um Himmels willen, antworte mir augenblicklich, die Tochter dieses Mr. Sherwin, was ist sie für Dich?«

»Mein Weib!«

Ich hörte keine Antwort, meine Augen waren von Thränen geblendet – mein Gesicht war auf die Diele geneigt, – anfangs sah ich Nichts.

Als ich den Kopf wieder emporrichten, als ich mir die Thränen getrocknet, welche mir die Augen verdunkeltem als ich endlich aufblickte, drang mir das Blut eisig kalt ins Herz zurück.

Mein Vater stand mit dem Rücken an einen der Bücherschränke gelehnt und hielt die Arme über der Brust gekreuzt. Sein Kopf war zurückgebogen, seine weiß gewordenen Lippen zitterten, ließen aber keinen Ton entschlüpfen. Sein Gesicht war verstört, und die Veränderungen, welche der Tod herbeiführt, können nicht furchtbarer sein.

Von Schrecken ergriffen, eilte ich auf ihn zu und versuchte seine Hand zu ergreifen. Es war, als ob meine Berührung ein Feuer wäre, welches seinen ganzen Körper durchzuckte. Er richtete sich sofort in die Höhe und stieß mich weit von sich hinweg, ohne ein« einziges Wort zu sprechen.

In diesem furchtbaren Augenblicke, unter diesem entsetzlichen Schweigen mischte sich das Rauschen der Bäume mit dem gedämpften Rollen der Wagen draußen, während die Drehorgel einen luftigen Walzer spielte.

Einige Minuten lang blieben wir einander so gegenüber stehen. Keiner von Beiden bewegte sich oder sprach ein Wort. Hierauf sah ich ihn sein Tuch aus der Tasche ziehen und sich über das Gesicht fahren. Sein Athemzug war schwer und gedrückt – er lehnte sich wieder an den Bücherschrank. Als er sein Tuch wegnahm und mich wieder ansah, begriff ich, daß der Kampf zwischen seiner Vaterliebe und seinem Familienstolze beendet war, und daß die Kluft, die uns fortan trennen sollte, sich zwischen Vater und Sohn gähnend geöffnet hatte.

Mit gebieterischer Gebärde befahl er mir wieder auf meinem Stuhle Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich jedoch nicht. Während ich ihm gehorchte, sah ich, daß er die Glasthür des Schrankes, an den er sich gelehnt, öffnete und die Hand auf eines der darin stehenden Bücher legte.

Ohne sich herumzudrehen, ohne mich anzusehen, fragte er mich, ob ich ihm Nichts weiter zu sagen hätte.

Die seltsame Ruhe, die in seinem Tone lag, die Frage selbst und der Augenblick, in welchem er sie mir stellte, die Gewalt, welche er sich anthun mußte, um kein einziges Wort der Entrüstung, des Zornes und des Kummers auszusprechen, nachdem ich ihm jenes Geständnis gethan, raubte mir selbst die Fähigkeit zu reden.

Er trat ein wenig von dem Bücherschrank hinweg, während er die Hand immer noch auf dem Buche ruhen ließ, und wiederholte seine Frage. Seine Augen hatten, als sie den meinigen begegneten, einen schlaffen, mürrischen Blick, als ob sie lange Zeit genöthigt gewesen wären, widerliche, unangenehm berührende Gegenstände zu betrachten. Das aristokratische Phlegma war aus seiner Physiognomie verschwunden und diese hatte einen Ausdruck von Schroffheit und Kälte angenommen, welche die Züge wie mit einem Zauberschlage verändert hatte. Er schien seitdem ich die letzten verhängnißvollen Worte gesprochen, plötzlich um zehn Jahr älter geworden zu sein.

»Hast Du mir noch Etwas zu sagen?«

Als ich diese furchtbare Frage wiederum an mich richten hörte, sank ich auf den Stuhl nieder, neben welchem ich stehen geblieben war, und bedeckte mir das Gesicht mit den Händen.

Ohne mir Rechenschaft von der Reihenfolge zu geben, in welcher ich sprach, oder von dem Beweggrund, der mich zum Sprechen trieb, ohne noch den mindesten Rest von Hoffnung in mir zu fühlen, ohne eine Veränderung an meinem Vater zu erwarten, ohne an etwas Anderes zu denken als die Strafe für meinen Fehltritt mit ihrer vollen Wucht auf mich herabstürzen zu lassen, begann ich die traurige Erzählung meiner Heirath und alles dessen was daraus gefolgt war.