Passionszeit

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Wilfried Petersen

Passionszeit

Passionszeit

Eine Reise auf dem Jakobsweg 2007

Wilfried Petersen


Impressum

Titel: Passionszeit

Wilfried Petersen

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright:© 2012 Wilfried Petersen


ISBN 978-3-8442-4253-9

1. Tag Donnerstag 31. Mai 2007

Klixbüll – Saint-Jean-Pied-de-Port

Meine Frau Carla, Tochter Marlies, Schwiegersohn Stefan meine Enkelkinder und Rainer mein Geschäftspartner, bringen mich zur Abreise um 19:00 Uhr, auf den Niebüller Bahnhof. Über Hamburg und mit dem Nachtzug nach Paris werde ich dann 22 Stunden bis Saint Jean Piet de Port unterwegs sein. Als sich der Zug von Altona Richtung Hauptbahnhof schiebt, und dabei eine große Kurve drehen muss, geht gerade der Vollmond auf. Die Kurvenbewegung des Zuges erzeugte den Eindruck, als würde der orangefarbene Mond über die Skyline der Hansestadt gleiten. Ein tolles Panorama, welches man sicher nicht so oft erleben kann. Am Hauptbahnhof Hamburg steigen zwei Afrikaner ohne Gepäck zu mir ins Abteil. Sie wollen nach Paris wie ich heraus bekomme. Ansonsten kommen wir nicht weiter ins Gespräch. Ich habe auch nicht den

Eindruck, als sei ihnen daran gelegen. Ein leichtes Unbehagen schleicht sich bei mir ein. So wird aus meinem Schlaf bis Dortmund nur ein „Halber“. In Dortmund Polizeikontrolle. Höflich werden wir gebeten, unseren Ausweis vorzuzeigen. Da die beiden außer Hemd und Hose nichts vorzuweisen haben, ist ihre Fahrt erst mal beendet. Eine Nachfrage bei den beiden freundlichen Polizeibeamten, wozu die Kontrolle, ergab als Antwort: „ Drogenschmuggel“. Ich habe mein Abteil wieder für mich alleine und brauche meinen Rucksack nicht mehr ständig im Auge behalten. Mittlerweile ist es nach null Uhr und Tageswechsel. Habe ich mich doch auf ein Risiko für dieses Abenteuer eingelassen?


2. Tag Freitag 1. Juni 2007

Um ca. 4 Uhr erreicht der Zug Aachen. An Schlafen ist nicht wirklich zu denken. Meine Gedanken gleiten immer wieder auf das kommende Abenteuer, mein erstes. Immer wieder habe ich gelegentlich davon geträumt, etwas Außergewöhnliches in meinem Leben zu unternehmen. Aber Familie und Beruf ließen keinen Gedanken dafür einfließen. Doch nun ist es Wahrheit geworden. Ich bin unterwegs, und ich spüre die Anspannung. Die Lok wird gewechselt und es werden noch einige Waggons angehängt. Quer durch Belgien über Brüssel rattert es im monotonen Geräusch der Waggons in Richtung Paris. Carla hat dafür gesorgt dass ich auch ausreichend Verpflegung an „Bord“ habe. Es wird Zeit, sich daran zu ergötzen. Gott sei Dank muss ich dieses zusätzliche Gewicht nicht ständig auf dem Buckel tragen. Endlich in Paris angekommen; die Weiterfahrt ist ab Bahnhof Mompasarre. Nun gilt es auf dem riesigen Bahnhof die Metro zu finden. Ein großes „U“ oder „M“ kann ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Ich komme ins Schwitzen, weil ich weiß, der Zug nach Bayonne fährt in 15 Minuten. Irgendwie finde ich den Eingang zur Metro. Aber nun, ohne Fahrschein kommt man da gar nicht rein. Ein freundlicher Franzose, der wie ich ein wenig englisch spricht, löst mir ein Ticket für 1,40 € nach Mompasarre. Eine Minute vor Abfahrt finde ich auch das Gleis und nehme gleich den ersten Waggon. Woher soll ich wissen, dass dieser Zug aus zwei Teilen besteht. Ich erfahre es im Abteil. Der erste Abschnitt ist für die Reisenden nach Bordeaux und der zweite geht weiter nach Bayonne, dieser gilt für mich. Ein durchlaufen ist nicht möglich. Ist also nichts mit Platzkarte im modernen TGV. Auf einem unbequemen Notsitz bei der Tür finde ich dennoch Platz und genieße jedenfalls den Luxus, aus dem Fenster schauen zu können. Die flüchtigen Momente an wunderschönen Flussläufen entlang lassen mich nur erahnen, welch zauberhafte Landschaft sich hier verbirgt. Der Zug nimmt keine Rücksicht auf Impressionen. Es tröstete nur wenig, dass es anderen Mitreisenden ähnlich ergeht. Jeder scheint in seine eigene Welt versunken. Die missliche Situation ist jedem anzumerken, sicher auch mir. Ein Umsteigen zwischendurch ist nicht möglich. Es ist eine Direktverbindung zwischen Paris, Bordeaux und Bayonne. Soweit man die Landschaften links und rechts erkennen kann, sind sie sicher abwechslungsreich aber nicht in ihrer Schönheit erkennbar. Viele male rast der Zug durch eine Hohlgasse. In Bordeaux kann ich dann endlich in das richtige Abteil umsteigen. Aber dass der TGV nun bequemer und schöner zu fahren ist als der ICE ist für mich nicht festzustellen. Im Gegenteil, man sitzt hier genauso beengt wie in der Touristenklasse eines Fliegers. Von Bayonne, im Bummelzug, zuckeln wir sodann am Fluss entlang Richtung Saint-Jean-Pied-de-Port. Der Großteil der Reisenden sind Pilger, wie man unschwer an den Rucksäcken erkennen kann. Hier sehe ich sie zum ersten Mal, die Italienerin mit ihrem Sohn, ohne zu wissen, dass sie auf meiner Wanderung zu einer immer wieder auftauchenden Begleitung werden soll. Das Pilgerbüro zu finden ist nicht so schwer, immer dem Pilgerstrom hinterher. Es könnte so an die zwanzig sein. Im kleinen Büro herrscht natürlich großer Andrang. Einige haben schon einen Pilgerpass, den man für unterwegs unbedingt benötigt um eine Herberge und natürlich als Nachweis (die Stempel), um am Ende die begehrte Compostela zu bekommen. Ein Mann und zwei Frauen regeln hier den Ablauf. Wer will, bekommt in aller Ruhe den Trip für den weiteren Pilgerweg erklärt und auf Karten gezeigt. Für die deutschen Pilger ist der freundliche Herr zuständig. Er kann aber noch fünf weitere Sprachen und betreibt auch eine kleine Herberge in der- selben Straße. Ich nehme sein Angebot an. Fünf Doppelstockbetten im Keller mit Waschraum und zwei Duschen. Alles ist pikobello sauber. Nachdem ich mich „eingerichtet“ habe, beschließe ich, noch einen kleinen Stadtbummel zu machen, auch um noch einen Kaffee zu trinken. Es werden aber zwei Biere daraus, weil so ein kleiner Espresso einfach meinen Durst nicht stillt. Habe auf meinem Bummel schon ein „Magnum“ verputzt. Vor dem Café setze ich mich zu einem Herrn mit Rucksack und komme sofort mit ihm ins Gespräch. Ein Holländer, technischer Direktor am Theater in Amsterdam. Es ist sein letzter Tag in den Pyrenäen. Drei Wochen wandern im Hochgebirge. Den „Camino France“ ist er auch schon gelaufen. Über eine Stunde reden wir über Technik, Gott und die Welt. Richtig müde, liege ich schon um 21:00 Uhr in der Koje.


3. Tag Samstag 2. Juni2007

Saint-Jean-Pied-de-Port - Orisson

6:00 Uhr aufstehen, es wird ernst. Frühstück mit Milchkaffee aus einer Glasschale und Weißbrot mit Käse und Marmelade. Rucksack packen und prüfen. Um 7:20 verlasse ich dann durch das Santiago-Tor den Ort. Der Himmel ist bedeckt, aber kein Regen in der Luft. Gefühlte Temperatur für mich ca. 15° C ( Carla hätte es mir genauer sagen können ) und es geht steil auf eine Asphaltpiste. Ich merke wie mühsam es mit mir vorwärts geht. Immer wieder muss ich eine Verschnaufpause einlegen, weil meine Waden anfangen zu schmerzen. Sollte Dr. Moubayed doch Recht behalten; und ich schaffe keine 100 km?

Und plötzlich weißt du:

Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen

Und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen

Meister Eckhart


Das Santiago-Tor in Saint-Jean-Pied-de-Port


Das Höhenprofil

Ich mache das Kinderspiel: „ Komm wir laufen noch bis zur nächsten Kurve und schauen was dann kommt“. In den siebziger Jahren, als die Kinder noch klein waren und wir unseren Urlaub im Hochschwarzwald verbrachten, war dieses Spiel des Öfteren angesagt. Der Erfolg: Hinter der Kurve durfte ich unseren Matthias auf der Schulter weiter tragen. Nein, nun erst recht, und der „Cowboy“ aus Siegen, der mich gerade überholt, macht mir Mut. Das Wetter wechselt ständig, aber zwischendurch reißen die Wolken immer mal auf und ich werde durch herrliche Panoramen belohnt und verzückt. Eine Kombination von Nordseeblick und Schwarzwald.

Nun bin ich also hier, auf den Spuren unserer Vorfahren. Ein Weg mit tausendjähriger, rätselhafter Geschichte. Was werden mir die Spuren dieses Weges preisgeben? Die Kirchen, Kapellen, Brücken, Wege und Straßen, Klöster und Kathedralen. Der Weg unter dem Sternenhimmel, die Milchstraße. Wird es doch ein spiritueller Weg werden?


Der erste Weitblick über die Pyrenäen

An einem Kreuzungspunkt auf ca. 800 m lege ich meine erste größere Rast ein. Welche Erleichterung beim Abnehmen des Rucksackes! Dank meiner guten Verpflegung von zu Hause stehen mir noch ein Ei, zwei Scheiben Schwarzbrot, einige Kekse und die Tüte mit Bonbons von Rainer zur Verfügung, ein Genuss! Zwei spanische Radfahrer, die mühsam den Berg raufschieben, bitte ich, von mir ein Foto zu machen. Ich merke, wenn ich in diesem Tempo weiterlaufe, schaffe ich keine 27 km bis nach Roncesvalles. Hätte ich doch vorher ein Lauftraining machen sollen? Nun beginnt mein Training eben hier. Ich beschließe nur bis zur Herberge Orisson zu laufen. Der Regen, der nun einsetzt, wird heftiger und die Sicht auch schlechter. Hinter Huntto geht es in Serpentinen auf einem Schotterweg ca. 4 km, und gegen Mittag erreiche ich die Herberge.

 

Erste Rast auf 800 m


Hinter Huntto in Serpentinen steil aufwärts


Die Herberge in Orisson

Viele Pilger, die mich unterwegs überholten, treffe ich hier wieder. Die private Herberge ist eigentlich nicht ohne vorherige Anmeldung zu beziehen. Für einen Spontanstop stehen aber hinter dem Haus kleine Zelte zur Verfügung. Dankbar nehme ich das Angebot an. In der Mehrzahl sind es Franzosen oder Spanier, kein Deutscher. Nun werden meine Sprachkenntnisse gefordert. Unwillkürlich denke ich an meinen Englischlehrer Bruno Stolzenburg, der mich immer wieder daran erinnerte, dass Sprachen ein „Lernfach“ ist. Warum habe ich dieses damals nicht begriffen?

Nach einer ausgiebigen Mittagsstunde in meinem Zelt sitze ich nun hier auf einer herrlichen Aussichtsplattform, verzehre meine letzten Vorräte und genieße das Schauspiel der Sonne, die immer wieder versucht die Wolkenlücken mit aller Macht für sich zu nutzen. Ein fantastisches Schauspiel, während ich an meinem Tagebuch schreibe. Das erste Drittel (9 km) der Etappe über die Pyrenäen ist geschafft. Zum Abendessen am langen Tisch, sitzen mir zwei Engländerinnen gegenüber, mit denen ich eine erstaunlich gute Unterhaltung hin bekomme. Sie sind des Lobes voll, denn immerhin verstehen sie kein Wort Deutsch. Also lassen sich die grauen Zellen doch reaktivieren. Nur bis Pamplona geht ihr Trip, dann ist der Urlaub für sie beendet. Im nächsten Jahr machen sie wieder eine Strecke. Auch Elisabetta mit ihrem kleinen Sohn Johann machen hier Station. Für ihn gibt es eine Extrawurst, Pasta. Scheinbar mag er nichts Anderes. Am späten Abend taucht Marcus aus Stuttgart bei mir im Zelt auf. Für Huntto hatte er gebucht, wo er mit seiner Truppe verabredet war, ist aber versehentlich zu weit gelaufen.


4. Tag Sonntag 3. Juni 2007

Orisson – Roncesvalles

Der nächste Tag beginnt bei starkem Nebel mit gelegentlichen Aufheiterungen und mit schmerzenden Füßen. Heute muss ich die 20 km über den Gipfel bis Roncesvalles schaffen, es gibt keine Herberge mehr zwischendurch. Rauf bis zum Lepoeder-Pass auf 1420 m. Immer wieder tolle Aussichten wenn die Strahlen der Sonne die Wolken und den Nebel durchdringen.


Start in der Frühe, das letzte Zelt war meines

Ein Bußgang für die Pilger vor mehreren hundert Jahren. Sie haben gelitten und entbehrt. Eine „Passionszeit“. Bis zu meinem gebuchten Rückflug sind es genau 7 Wochen. Ich beschließe für mich diese Zeit ebenfalls alsPassionszeitzu nutzen. Auch wenn Ostern längst vorbei ist. Auf alle Annehmlichkeiten die mir mein sonstiger Alltag zu bieten vermag, zu verzichten.

Also werde ich versuchen, in den 7 Wochen meiner „Passionszeit“ etwas zu erfahren über mich und meine Verantwortung, für die ich selber geradestehen muss.

Fragen über mein persönliches Leben und Fragen über das gesellschaftliche Leben. 7 Wochen ohne „wenn“ und „aber“ und ohne irgendwelche Ausflüchte. Eine Zeit der Buße?

Oder ist es ganz einfach nur die Frage nach dem

„Wer bin ich?“

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens?

Ich glaube es kann spannend werden.

Mit einer Kreditkarte in der Hosentasche kann das Risiko nicht so groß sein.

Elisabetta und Johann holen mich ein, und nach einem kurzen für mich mühsamen (mein schlechtes Englisch) Gespräch über nasskaltes und nebeliges Wetter und unser Befinden, trennen wir uns. Was denkt sie wohl über mich und meine zurückhaltende Art? Woher soll sie wissen, dass es nur die Angst vor meinem englisch sprechen ist. Ich muss lernen, mich mehr zu öffnen. Schleppend trotte ich weiter. Plötzlich: Der Nebel verschwindet und über einer riesigen Marienstatue kreisen zwei imposante Steinadler. Ich zücke meinen Fotoapparat, doch schon ist wieder alles in dichtem Nebel verhüllt. Nach einigen Kilometern Asphalt zweigt der Weg rechts ab auf eine feuchte Piste. Noch immer ist es kalt und sehr windig. Wieder versucht die Sonne mit aller Macht ihre Strahlen durch das Gewimmel der Wolkenformationen zu treiben, und dieses grandiose Farbenspiel scheint mir erneut Kraft zu verleihen. Die Sicht wird nun aber allmählich besser. Es ist wie eine neue Energie. Buchen, Sträucher, Steilwände und Felsenkessel. In geballter Pracht zeigen sich nun die westlichen Pyrenäen. Und immer wieder grasgrüne Weiden mit Schafen oder wilden Pferden. Wie in Trance erkämpfe ich mir Kilometer für Kilometer. Manchmal lustlos und müde bis zur nächsten Biegung. Schlammige Abschnitte, die ich einfach durchwate lassen die Frage auftauchen: Was tust du hier eigentlich? Wird dieses Unternehmen wirklich zu einer „Passionszeit“?


Die Rolandsquelle

Die Vielzahl der Pilger, die ich an der Rolandsquelle treffe, sie geben mir wieder neue Energie und der Weg belohnt mich immer wieder mit herrlichen Ausblicken. „Bonjour“ ist der gängigste Gruß auf dieser Strecke. Viele Franzosen sind auf dem Weg. Über teilweise recht steile Abschnitte, erreiche ich am späten Nachmittag den Pass. Der Gipfel ist erklommen, und ich spüre dass mein Laufen heute besser wird. 6 Tage ist Paulo Coelho mit seinem Begleiter Petrus hier oben herumgeirrt und hat sein Exerzitium vom Samenkorn täglich absolvieren müssen. Diese Erfahrung will ich mir aber nicht antun. Ich muss auch nicht mein Schwert suchen und meine Demut hinterfragen. Auch wenn der Jakobsweg der Weg des einfachen Menschen sein soll, so ist dieser Abschnitt beschwerlich genug. „Suchet, so werdet ihr finden…“. So steht es schon bei Matthäus in der Bibel. Warum hat Silke mich auf diese Reise geschickt? Weil ich es liebe unterwegs zu sein? Schon immer war es für mich schwierig mein Ziel zu definieren, weil die Möglichkeiten in ihrer Vielzahl unerschöpflich schienen. Will sie mir ein Ziel definieren auf meiner Lebensreise ob meiner Unschlüssigkeit? Um einen Weg zu finden der mich zu meinem wahren Ziel führen könnte? Was in mir hat sie dazu veranlasst? Wieder die Frage: „Wer bin ich“?

Wenn man nicht weiß, wofür man das gebraucht, was man sucht, dann lohnt sich auch nicht die Suche.

– Jetzt weiß ich es -

Du findest den Weg nur, wenn du dich auf den Weg machst.

Maria Ward


Lepoeder-Pass

Es lohnt den kleinen Abstecher zum Ibanetapass, der mir einen phantastischen Ausblick auf Roncesvalles bieten soll, jenem Ort, in dessen Nähe 778 der Held des Rolandsliedes, dem ersten französischen Heldenepos, seinen Tod in der Schlacht fand - so steht es im Reiseführer. Unterwegs bietet sich eine Lichtung zum Verweilen an. Die Sonne scheint gerade. Ich lege mich ins Gras, um eine Stunde auszuruhen. Nach der anstrengenden Überquerung ist nun eine Erholung genau das Richtige. Ein erster Blick auf die Abtei von Roncesvalles. Das Rolandsdenkmal am Pass ist leider in einem ziemlich verwahrlosten Zustand. Hier haben „heute“ die „Vandalen“ ihre Schlacht geschlagen. Das Denkmal ist zerstört und die kleine Kapelle ist leider geschlossen. Oder hat das patriotische Volk der Basken die Geschichte nur wiederholt? Doch die heutige ETA (Euskadi- ta- Askatasuna – Baskenland und Freiheit) hat in ihrer terroristischen Erscheinungsform ganz andere Ziele und die Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung schwindet zunehmend. Für die Pilger stellt die ETA aber keine Gefahr dar. Für die Erkenntnis hat sich der Abstieg mit Umweg über diesen Abstecher nicht gelohnt. Durch schönes Waldgelände erreiche ich gegen Abend die Abtei. Ein enormer Gebäudekomplex, der ursprünglich nur den Pilgern diente. Heute ist es nur noch ein Kloster. Nachdem ich mich in der Pilgerherberge mit über 100 Betten einquartiert habe, geht es gemeinsam zum Pilgergottesdienst in die Klosterkirche. Ich verstehe nichts von der Liturgie, geschweige von den Worten der Predigt. Am Tonfall kann ich das „Vater unser“ erkennen und bete leise für mich mit. Nachdem alle Pilger vor dem Altar ihren Segen erhalten haben, gehen viele doch sehr beeindruckt zurück zur Herberge, auch wenn der Gesang der Mönche, wie im Reiseführer beschrieben, leider nicht stattfand. Doris, eine etwas korpulente, kleine Frau, die mir schon in Orisson aufgefallen war, hat schon für das Pilgermenü in einem der beiden Restaurants einen Tisch bestellt. Nach einem Absacker in der Bar nebenan, ist für mich um halb Zehn Bettruhe angesagt.

An Schlafen ist aber nicht zu denken, immer noch kommen vereinzelnd Pilger; das Haus ist schon voll. Sie werden in den umliegenden Hostals untergebracht. Punkt 22:00 Uhr wird das Licht ausgeschaltet und es sollte Ruhe herrschen. Das Concert der Handys bleibt. Um vier Uhr starten die ersten Pilger schon wieder, und das geht natürlich nicht ohne entsprechenden Geräuschpegel. „Take it easy”


Die Herberge in Roncesvalles mit über 100 Betten (altes Pilgerhospital)


5. Tag Montag, 4. Juni 2007

Roncesvalles - Zubiri

Kalter Nebel umhüllt mich, als ich vor die Tür trete. Kurz hinter Roncesvalles, ich habe den Waldweg verlassen, befindet sich ein eindrucksvolles mittelalterliches Pilgerkreuz. In Burguete soll es ein gutes Frühstück geben. Es ist etwas wärmer geworden und so kann ich draußen sitzen. Schreibe mein Tagebuch. Nach ca. einer Stunde fängt es wieder an zu nieseln und ich beschließe aufzubrechen. Der unten aus dem Rucksack herausziehbare Regenschutz erweist sich als nützliches und praktisches Utensil. Über eine kleine Steinbrücke, links und rechts weiden ein paar Kühe, verläuft nun ein gut begehbarer Weg in Richtung Zubiri, abwechselnd auf Asphaltstraßen, Wald- und Feldwegen. Hinter mir erkenne ich schon an ihrem, weiten, bunt-blauen Rock Elisabetta mit Johann. Sie holen mich ein und wir plaudern ein Weilchen so gut es geht. Tatsächlich wollen die beiden bis Santiago. Mit seinen 8 Jahren ist Johann für mich ein kleiner Held und ich drücke die Daumen das sie es auch schaffen.

Unterwegs denke ich daran, wie mein Vater, als ich so klein war, vielleicht noch etwas kleiner, seine Pläne auf dem Stubentisch ausgebreitet hatte für „sein“ großes Abenteuer.


Die neue Steinbrücke, jetzt Teil vom Weltkulturerbe

Meine Eltern hatten die Absicht nach Kanada auszuwandern. Woran es letztendlich scheiterte habe ich nie erfahren. Vermutlich am Geld oder an der Bürgschaft. Die englische Sprache wäre dann sicherlich für mich kein Problem gewesen. Ob ich dann aber den Jakobsweg gefunden hätte?

Meine erste ausgiebige Bekanntschaft auf der nächsten Etappe bringt meinen Zeitplan etwas durcheinander: Annemarie aus München. Ich werde sie ein Stück begleiten, weil sie völlig erschöpft am Wegesrand sitzt und nicht mehr weiter kann. Ich übernehme ein Teil ihres Gepäcks, und langsam zuckeln wir nach einer ausgiebigen Pause in Richtung Viscarret und Linzoain, durch den Wald zur Passhöhe von Erro (801 m).


Durch den Wald am Rio Arga

Annemarie stöhnt „Wie beschwerlich der Weg doch sei, und dass ihre Tochter sie zu diesem Abenteuer überredet habe“. Dazu muss man sagen, dass Annemarie eine attraktive Erscheinung im fortgeschrittenen Alter ist, allerdings etwas vollschlank. Nun will sie es aber doch versuchen. „Man kann auch mal ein Stück mit dem Bus fahren“ ist ihre Divise.


Auf dem Weg zur Pass-Höhe Erro

 

„Wenn ich unterwegs nicht zusammenklappe und es über den Pass bis Zubiri schaffe, fahre ich von dort mit dem Bus nach Pamplona. Ich bin dir dankbar wenn du mich dieses Stück begleitest und mich nicht verlässt.“ Ich fühle mich verpflichtet, vor allem weil wir gerade vor einem Pilgerkreuz stehen. Es erinnert an einen Japaner, der hier zu Tode gekommen ist. Welches Schicksal hatte ihn bewogen auf den Jakobsweg zu gehen? Waren es Krankheit, oder Trauerbewältigung? Oder war er einfach nur die Einsamkeit und er versuchte gemeinsamen mit anderen Pilgern diese Einsamkeit zu bewältigen? Wir werden es nicht in Erfahrung bringen.

„Einsamkeit ist eine schreckliche Erfahrung“, sagte Annemarie „Ich habe lange darunter gelitten“

und fängt an zu erzählen. Drei Männer hat Annemarie im Laufe ihres Lebens geheiratet.

Ihre Erkenntnis, einsam zu werden wenn einer zweifelhafte Freundschaften, langweilige Geburtstags- und Familienfeiern oder gar zerrüttete Ehen meint aufgeben zu müssen, stimmt mich nachdenklich. Entweder hast du Angst vor der Einsamkeit, oder am Ende deines Lebens bereust du es, auf diese Dinge verzichtet zu haben. Die Auseinandersetzung mit unserem Gegenüber würde uns fehlen.

An einem Steilhang taucht eine schillernde Figur wie aus dem Nichts auf. Don Quijote, denke ich. Mit seinem lustig geschmückten Stock und dem langen leuchtend gelben Schal rudert er sich an uns heran. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, natürlich auf Spanisch. Es ist Ismael aus Burgos, ein Hotelbesitzer. Sein Markenzeichen ist der lange, ihn umwehende, gelbe Schal.

Die Lebensgeschichte von Annemarie lässt den Rest des Weges nicht langweilig werden. Wir sind beide ins Philosophieren gekommen. Wirklich spannend. Wir treffen erst spät am Abend in Zubiri ein und bekommen kein Quartier mehr. Doch da geschieht mein erstes „ Camino-Wunder“: Ein Einheimischer, der unsere Verzweiflung erkennt, besorgt uns ein Quartier in einer noch nicht bezogenen, aber luxuriös eingerichteten Eigentums- Wohnung. In der kleinen Bar nebenan bekommen wir sogar noch ein Pilgermenü. Gerhard aus Berlin stößt zu uns und wir haben noch einen ganz lustigen Abend. Auch wenn das Glockengeläute der kleinen Kirche nebenan zu jeder Viertelstunde einem den Schlaf raubt, bin ich froh, ein Nachtlager zu haben. Weitere 6 km zum nächsten Ort bei Dunkelheit hätten mich nach 22 km sicherlich an den Rand der Erschöpfung gebracht. Gut, dass Annemarie sich entschlossen hat, am nächsten Tag mit dem Bus nach Pamplona zu fahren.


Annemarie aus München und Ismael aus Burgos

Ihr Schritttempo hätte mich sicher aus meinem Rhythmus geworfen. So kann ich meinen Weg alleine fortsetzen, und über den vergangenen Tag in Ruhe nachdenken.


6. Tag Dienstag 5. Juni 2007

Zubiri - Larrasoana

Der Weg von Zubiri nach Pamplona führt immer am Rio Arga entlang und ist von Flora und Fauna einzigartig. Meine Füße brennen, und im “slow motion“ genieße ich den Weg und die schöne Natur. Ich beschließe, nur bis Larrasoana zu laufen. Entlang der hässlichen Überreste einer alten Magnesiumfabrik führt der Weg dann auf einem schönen, durchgehenden Wanderweg nach Larrasoana. Auch Elisabetta mit Johann treffe ich auf dem Weg, sie wollen es bis Pamplona schaffen. Gegen Mittag erreiche ich mein Ziel. Es ist Siesta. Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Ein alter Mann schlürft über den Asphalt der kaputten Dorfstraße.


von Zubiri nach Larrasoana


Rathaus und Herberge in Larrasoana

Das Rathaus, welches auch das Pilgerbüro beinhaltet, öffnet aber erst um 15:30 Uhr. Heute ist es sonnig und warm. Hinter dem Büro werde auch ich auf einer großen Liegewiese erst einmal Siesta machen, nachdem ich in einem Becken hinter dem Haus meine Wäsche gewaschen habe und zum Trocknen aufhänge. Inzwischen trudeln immer mehr Pilger ein. Jeder stellt seinen Rucksack in die Reihe vor der großen Tür, um auch ja einen Schlafplatz zu ergattern. Das habe ich nicht gewusst und reihe mich nunmehr ebenfalls ein. Die Herberge wird allerdings doch erst um fünf Uhr geöffnet. Endlich die Gelegenheit, den Staub des Tages unter der Dusche abzuspülen. Die Unterkunft gegenüber dem Rathaus erweist sich als klein, aber sauber. Mit Eberhard aus Bremen trinke ich noch ein Glas Rotwein. Bis zum Abendessen ist noch Zeit für einen kleinen Dorfrundgang. Ich treffe auf Doris, die nun Gelegenheit findet, ihren Anlass, den Jakobsweg zu laufen, endlich an den Mann bringen kann. Sie ist landwirtschaftliche Betriebshelferin und leidet unter einer Schokoladen-Kleptomanie. Sie hofft nun, dieses Problem nach etlichen erfolglosen Therapien auf diesem Weg zu lösen. Jetzt kann ich mir auch ihre Fülle erklären. Für das Pilgermenü besorgt sie schon mal eine Platzkarte. Eberhard sitzt an der Bar bei einem großen Glas Wein und erzählt seinem Nachbarn, wie schön doch Thailand ist. Ich genieße die Nacht ohne phonetisches Concert.


7. Tag Mittwoch 6.Juni 2007

Larrasoana - Pamplona

Mit ein paar Keksen und Wasser im Gepäck starte ich am frühen Morgen. Während ich an den Keksen knabbere fällt mir die Geschichte mit den „Kränzen“ ein.

Ich ging noch nicht zur Schule und verbrachte die Vormittage häufig bei meiner Oma Antje. Meine Großeltern wohnten damals noch in dem sogenannten Armenhaus in Deezbüll, welches später zur Jugendherberge ausgebaut wurde. Eine ihrer Spezialitäten war das „kleine“ Kuchen backen, die „brauen“ waren besonders lecker. Gerne aß ich auch die sogenannten „Kränze“, runde Plätzchen mit Hagelzucker. Der Teich wurde auf der Tischplatte mit einer Form ausgestochen und hatte somit ein Loch in der Mitte. Wenn sie nun frischgebacken aus dem Ofen kamen und ausgebreitet auf dem Tablett ihren Duft entfalteten, durfte ich natürlich auch mal kosten. Mein Opa Johannes sagte dann immer, und drohte mit erhobenen Zeigefinger: „Pass auf, dass du das Loch nicht mit aufisst, das ist giftig“. Schon als kleiner Junge war ich praktisch veranlagt, und somit stellte dieses Loch für mich kein Problem dar. Rund um das Loch wurde alles weggeknabbert und das Loch dann heimlich entsorgt.

Bei Sonnenschein und angenehmer Temperatur geht es weiter nach Zurtain und Zabaldika. Auf dem Wanderparkplatz hinter Irotz treffe ich Doris, Volker mit seiner Freundin und Jano (Eberhard aus Bremen). Seinen Künstlernamen haben sie ihm in der Türkei verpasst, wo er als Feuerschlucker in einer Ferien-Anlage aufgetreten ist.

Hinter diesem Ort führt der Weg langsam in die Höhe. Ich gehe ein Stück mit Jano. Wir genießen den schönen, erholsamen Ausblick in das Tal der Arga.


Doris und Volker mit Freundin


Wieder langsam in die Höhe

Der Weg führt nun nach Villava, wo wir endlich gegen Mittag ein anständiges Frühstück genießen können. Die letzten Kilometer bis Pamplona. Über die mittelalterliche Magdalena-Brücke über die Arga, schreite ich nach ca. 600 m durch das Stadttor „Portal de Francia“ in die Altstadt. Ein Thermometer zeigt 25° an. Die kommunale Herberge ist sehr preiswert. Die Betten werden aber zugewiesen und immer ist man gespannt, was einem an Lagerstätte angeboten wird.


Magdalena-Brücke über die Arga


Auf dem Plaza del Castillo mit Jano

Mit Jano gehe ich noch in die Stadt auf ein Bier. Danach macht jeder seinen Stadtrundgang und wir verabreden uns für den Abend zu einem Glas Rotwein. Die Kathedrale ist leider nur durch den Eingang des Museums zu besichtigen und kostet selbstverständlich Eintritt. Die Zeit für einen Museumsbesuch ist zu kurz und somit verzichte ich. Über die Calle die Estafa, hier werden die Stiere während des San-Femin-Festes, 6. bis 14. Juli, durchgejagt, laufe ich Richtung Arena und zurück auf den Plaza del Castillo. Hier treffe ich auf die beiden Engländerinnen. Sie genießen ihre letzten Stunden vor der Rückreise und ich verabschiede mich von ihnen mit einem „Buen Camino“. Jano ist schon zurück, als ich in der Herberge ankomme. Wer spielt denn da mit einem Fußball? Der kleine Johann mit einem Trikot von Ronaldo, seinem Idol. Elisabetta sitzt ganz erschöpft auf einer Bank. Es ist ihr zweiter Tag in Pamplona. Johann brauchte einen Ruhetag.


Calle die Estafa

Welche Verantwortung für die junge Mutter. Ich spüre, wie wichtig es für sie ist, Vorbild für den kleinen Johann zu sein. Dem Kind etwas zu geben, woran es sich halten kann. Wenn ich an die vielen jungen Familien denke, in denen die Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind und es unbewusst versäumen, ihren Kindern eine Orientierung zu geben, werde ich ganz nachdenklich. Es tut gut, die Liebe und Verantwortung der jungen Mutter zu ihrem Kind zu spüren.

In einer kleinen Eck-Bar unterhalb der Herberge lassen Jano und Ich uns einen guten „Rioja“ einschenken.

Auf dem Platz vor der Bar herrscht reges Leben bei Live-Musik. Eine seltsame Begegnung erwartet mich bei meinem Eintreffen im Quartier. Eine Hamburgerin, die urplötzlich kurz vor zehn Uhr im Schlafsaal steht, fängt fürchterlich an zu wettern: “Wenn ich hier schlafen soll, dann muss ich doch wissen, wer hier neben mir liegt. Ich liege doch nicht neben einer wildfremden Person. Nachher ist es womöglich noch ein Mann.


Abendstimmung in den Gassen von Pamplona

Überhaupt ist es ein Unding Männer und Frauen in einem Raum schlafen zu lassen.“

Nachdem ich sie erst einmal in einem beruhigenden Ton über die Sitten und Gebräuche auf dem Camino aufkläre, wird sie ein wenig ruhiger. Sie will auch eigentlich nicht hier schlafen, sondern sich nur erkundigen wie die Pilgerherbergen so aussehen. Sie sei erst heute angekommen und hat sich in einem Hotel mit Ihrem 25 kg Rucksack einquartiert. „25 kg, gute Frau, mit dem Gewicht brechen sie unterwegs garantiert zusammen. Packen sie 15 kg aus und schicken es nach Hause“. Sie fragt mich ob ich Ihr denn dabei helfen könne und lädt mich ein, zu ihr ins Hotel zu kommen. Da hier die Pforten um 22:00 Uhr dicht sind, könne ich auch bei ihr im Zimmer schlafen, sie habe ein Doppelbett. Ich habe mich entschieden doch lieber hier zu bleiben. Enttäuscht zieht sie ab. Ich bin ihr auch nie wieder begegnet.

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