TodesGrant

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Drei

Architektonisch und rein äußerlich betrachtet, ist die „Justizanstalt Josefstadt“ in der Wickenburggasse nicht hässlicher als so manch andere Wiener Gemeindebauten oder Amtsgebäude. Sogar mit dem verpfuschten Haas-Haus auf dem Stephansplatz hält sie optisch mit, die viel gerühmten Hundertwasser-Bauten sind auch nur bunter.

Ja, diese Justizanstalt ist ein stinknormaler, fantasieloser Betonklotz, der sich unauffällig in das Stadtbild fügt. Die Einfahrt mit dem Rollbalken könnte zu einem Krankenhaus gehören, der Besuchereingang zu einem Ministerium. Niemand steht hier mit Maschinengewehren davor, und von den Fenstern auf der Gassenseite sind nur wenige vergittert. Der Baum und die Hecken am Vorplatz erwachen im Frühling mit grünen Trieben, werfen im Sommer gewöhnliche Schatten und bereiten sich im Herbst mit einem farbenfrohen Blätterwirbel auf den Winterschlaf vor.

Stinknormal, alles schrecklich stinknormal.

Nur wer mit seinem Blick von der anderen Gehsteigseite das Gebäude hochschweift, entdeckt rechts über sich ein grünes Stacheldrahtgitter. Und wäre er ein Vogel, könnte er dort oben über den Gefängnishof fliegen. Und dann würde er Matthias Frerk Gradoneg erspähen, wie dieser gerade im Gefängnishof steht und von drei Justizwachebeamten umzingelt ist; wie ihm gerade vor den vielen fremden Gesichtern hinter den vergitterten Fenstern angst und bange ist. Der Boden unter ihm wankt, und wie sein verzweifelter Blick zum Himmel flüchtet. Und nun erschrickt er: So klein ist der Himmel plötzlich geworden, nur noch eine graue Plastikplane schwebt da über ihm.

Zwei Justizwachebeamte standen direkt neben Gradoneg, ein dritter marschierte etwas entfernt mit einem surrenden Funkgerät den Hof ab. Redete und lauschte und nahm dann das Funkgerät vom Ohr: „Dauert noch ein paar Minuten“, informierte er seine beiden Kollegen, die Gradoneg bewachten. „Wissen wieder einmal nicht, wo sie noch ein Bett unterbringen können. Lauter obergescheite Studierte – und haben keine Ahnung. Eventuell geben sie ihn zu den Pädophilen in den Sicherheitstrakt. Oder wir packen ihn wieder ein und liefern ihn gleich zu den geistig Abnormen auf den Mittersteig. Das entscheiden sie gerade mit dem Richter.“

Einer von Gradonegs Bewachern rief genervt zurück: „Die sollen sich gefälligst beeilen! Wär eh besser, wenn sie ihn auf den Mittersteig liefern. Rein in den Transporter und ab damit. Mir reicht schon das Theater mit dem Amokläufer. Wenn jetzt noch ein Kannibale einsitzt, stolpern wir draußen auf der Wickenburggasse nur noch über Journalisten und Fernsehkameras.“

So unverblümt unterhielten sie sich in Gradonegs Gegenwart. Als wäre er bloß ein seelenloser Wasser­hydrant, der zufällig neben ihnen stand. Seltsamerweise störte das Gradoneg nicht. Er war einfach zu erschöpft, um wieder seine Unschuld zu beteuern.

„Fällt dir was auf?“, fragte einer der Justizwachebeamten neben Gradoneg seinen Kollegen, deutete dabei mit einem Zeigefinger auf die Gesichter hinter den vergitterten Fenstern. „Wie ruhig sie plötzlich heute alle sind. Ist wie bei der Sonnenfinsternis damals … Die spüren, dass hier was nicht stimmt. Sogar die Schwarzen schmeißen ihr Essen nicht aus den Fenstern.“

„Jetzt sagst du auch schon ‚Schwarze‘“, meinte der andere Kollege beleidigt. „Dabei warst du immer einer von den Vernünftigen hier.“

„Steht so in der neuen Dienstanweisung, hast du die nicht gelesen? Ist Vorschrift, im ganzen Gebäude. Sogar in der Angestelltenkantine. Bei diesem Thema sind sie extrem sensibel.“

„Die können mir mit ihren ständigen Dienstanweisungen den Buckel runterrutschen. Ich lass mir doch nicht den Mund verbieten. Für mich bleibt ein Neger ein Neger und damit hat sich’s. So wie bei den Zigeu­nern und den Tschuschen …“

„Stimmt eh... Ich will halt in der Arbeit meinen Frieden, das ist alles. Und außerdem hab ich dir von der Sonnenfinsternis erzählt … Ich wollte ja nur sagen, dass damals bei der Sonnenfinsternis auch alle so ruhig waren.“

„Da muss ich auf Urlaub gewesen sein, wann war das?“

„So um die Jahrtausendwende, im Sommer … Das weiß ich noch, weil ich mit jemandem gewettet hab, ob man dazu ‚komplette Sonnenfinsternis‘ oder ‚totale Sonnenfinsternis‘ sagt. Alle sind an den Fenstern gestanden und haben ihre Pappn gehalten. Eigentlich traurig: Ich bin seit dreißig Jahren da und hab nur zwei ruhige Tage in der Arbeit erlebt. Eine Sonnenfinsternis und einen Kannibalen.“

Währenddessen lief ihr dritter Kollege mit dem Funkgerät weiter eifrig den Hof ab. Stöhnte und seufzte zwischendurch, weil ihm wohl das surrende Gerät nichts Neues verriet. Schließlich blieb er mit einem zufriedenen Grinser stehen:

„Er kommt auf die Krankenstation.“

„Der ist doch pumperlgsund“, rief sein Kollege empört zurück. „Die schinden nur Zeit und schicken uns im Kreis.“

Der Justizwachebeamte mit dem Funkgerät war dennoch zufrieden.

„Ist für ein ‚Zuckerl‘ wie bei den Schneescheißern. Eigentlich eh logisch, dass man bei einem Menschenfresser auch nachschaut.“

„Gut, ein ‚Zuckerl‘ ist was anderes“, schienen sich seine beiden Kollegen ebenfalls zu freuen. „Na, dann ab mit uns“, packten sie Gradoneg an den Schultern und führten ihn vom Hof fort.

„Die ‚Schneescheißer‘ sind übrigens auch in der neuen Dienstanweisung verboten“, meinte ein Justizbeamter, „zu denen darf man höchstens noch ‚Drogendealer‘ sagen.“

***

Gradoneg traute seinen Augen nicht.

Kein Fremder hätte in diesem Untersuchungszimmer seinen Augen getraut.

Der Raum war von oben bis unten gekachelt. Mit unzähligen quadratischen Fliesen übersät, die vielleicht weiß oder grau sein mochten, im gelben Neonlicht aber wie mit Eiter beschmiert wirkten.

„Nein! Ich mach das nicht!“, wehrte sich Gradoneg. „Ausgeschlossen! Nein! Das kommt nicht infrage! Ich will mit meinem Anwalt sprechen, sofort!“

Natürlich hatte er ja keinen Anwalt, diesen Spruch kannte er nur aus Filmen.

Wie auf einen Geist deutete er auf den Toilettenstuhl in der Mitte des Raumes. Ein altes Ding aus der Urzeit der Medizin mit einer zerkratzten Toilettenbrille und einer Blechschüssel darunter. An den Seitenlehnen hingen breite Bänder, mit denen man jemanden fixieren konnte.

„Das könnt ihr mit mir nicht machen! Schluss jetzt mit diesem Wahnsinn! Ich dreh durch, wenn nicht sofort mein Anwalt kommt!“, schrie Gradoneg den Krankenpfleger an, der ihn in dieses Untersuchungszimmer gebracht hatte.

„Stellen Sie sich bitte nicht so an … Ihnen passiert nichts, versprochen“, versuchte ihn der Krankenpfleger zu beruhigen. „Ist völlig harmlos … ein harmloses Abführmittel, und schneller vorbei, als man denkt. Einmal schlucken, ein Glas Wasser … mehr nicht“, breitete der Krankenpfleger seine Handfläche aus und zeigte Gradoneg eine centgroße Tablette. Schwarz und oval, ein bisschen erinnerte diese an einen vertrockneten Käfer.

„Weder Nebenwirkungen noch sonst was. Klar, ich verstehe Sie sehr gut … Für Sie ist das hier ein Schock, aber für uns ist es der Alltag. Ich mach das jetzt seit fünf Jahren, und glauben Sie mir: Noch nie ist bei einer Stuhlprobe etwas passiert. Nicht einmal ein Kollaps.“

„Ich rühr dieses Scheißzeug nicht an, kapiert!“, brüllte Gradoneg aus Leibeskräften.

„Geh bitte … ich mach ja nur meinen Job.“

„Was wollt ihr denn noch von mir?! Reicht euch nicht die Freiheitsberaubung, wollt ihr mich jetzt auch noch umbringen?! Bin ich vielleicht so ein aus­tralisches Krokodil, das ihr aufschlitzt, weil’s angeblich einen Fischer gefressen hat! Und … und“, bemerkte Gradoneg die Kamera an der Wand, schnappte empört nach Luft, „… und ihr schaut mir dabei auch noch zu?! Ihr Schweine!“

Seltsamerweise ließ sich der Pfleger von Gradoneg nicht aus der Ruhe bringen.

„Aber, wir schauen Ihnen doch nicht zu, wirklich. Gibt bessere Programme im Fernsehen als eine Kloschüssel. Ist eine reine Sicherheitsvorkehrung, mehr nicht. Diese Kamera ist nur zu Ihrem eigenen Schutz.“

Der Pfleger ging zur Wand, verschob den Winkel der Kamera, sodass die Linse nach oben zeigte. „Sehen Sie, mehr als Ihr Kopf wird da nicht drauf sein. Außerdem haben wir gerade Mittagspause … beim Essen schaut sowieso niemand hin.“

„Nein! Ich will hier raus, sofort!“, schüttelte Gradoneg den Kopf. „Irgendein Recht werde ich ja noch haben, oder haben uns über Nacht die Russen überfallen?!“

„Wie Sie meinen …“, steckte der Pfleger die Tablette wieder ein, streifte seine Plastikhandschuhe ab. „Selbstverständlich respektieren wir Ihre Rechte, wo wären wir denn sonst … Und wenn Sie mich fragen, ich glaub Ihnen. Ja, ich glaub Ihnen. So viel Menschenkenntnis hab ich. Nur ein Jahr im Gefängnis, und Sie kennen sich bei den Menschen aus. Ich erwarte mir in Ihrer Schüssel keine Leiche, bestimmt nicht. Das hier ist wirklich nur zu Ihrem Besten. Die besorgen sich ja so oder so eine Stuhlprobe von Ihnen. Dann kommen Sie eben in die Zelle mit dem vergitterten Klo. Ist alles nur eine Frage der Zeit. Gibt Dealer, die holen sich lieber einen Darmverschluss, als dass sie sich wo drauf setzen. Dann weiß man’s halt nach dem Darmverschluss. Verstehen Sie, ich mein es wirklich gut mit Ihnen. Und für Ihre Vernehmung beim Haft- und Rechtsschutzrichter wäre es ebenfalls wichtig. Sehen Sie, das habe ich beinahe vergessen: Angeblich ist der Herr Richter schon unterwegs. Und das heißt bei dem was, ist fast schon ein Wunder. Sonst geht das nämlich nicht so schnell. Das mit den 48 Stunden bis zur ersten Einvernahme steht nur im Gesetz. Bei einem Haft- und Rechtsschutzrichter dauert eine Stunde gleich einmal einen Tag. Ich kenn Untersuchungshäftlinge, die sind rasiert bei uns reingekommen und dann bei der ersten Einvernahme auf ihren eigenen Bart getreten. Ich mein, je besser man mit so einem Richter kooperiert, umso besser stehen die Chancen. Und wenn man ohnehin nichts zu verbergen hat, muss man sich auch für nichts schämen.“

 

Keine Frage, dieser Krankenpfleger war die Ruhe in Person und hatte gute Argumente.

Und Gradoneg? Was sollte Gradoneg tun?

Er öffnete seinen Mund und schluckte das Abführmittel. Ließ tatsächlich seine Hosen runter und setzte sich auf diesen schrecklichen Folterstuhl der menschlichen Scham. Wehrte sich kein bisschen, als der Krankenpfleger seine Handgelenke an den Seitenlehnen fixierte. Zuckte kurz zusammen, als der Toilettenstuhl in der Halterung auf dem Boden einklickte. Verabschiedete sich aber freundlich, als der Krankenpfleger das Untersuchungszimmer verließ.

Wieder saß er in einer Falle …

Ängstlich sah er zur Kamera an der Wand hoch. Jetzt verstand er den miesen Trick und wusste, dass ihn der nette Krankenpfleger reingelegt hatte: Die Kamera war ferngesteuert und bewegte sich nun langsam nach unten. Sein Magen grummelte. Er begann die Fliesen zu zählen. Nur so konnte er seinen Blick von der Kamera lösen. Er zählte und verzählte sich. Immer weiter zählte er, immer öfter verzählte er sich. Unter dem gelben, eitrigen Neonlicht waren die Fliesen grau, sah er nun. Nur die Fugen dazwischen waren noch grauer.

Er war ja im Grauen Haus.

Vier

Ein paar Wochen heilfasten wären eine Wohltat dagegen gewesen. Gradonegs Magen war so leer wie die Schwimmbecken in den städtischen Freibädern im Herbst und Winter, in seinem Darm würde jeder Bandwurm verhungern. Die pumpvolle Toilettenschüssel holte ein anderer Krankenpfleger ab. Das gehörte wohl zum Spiel: Einer legte das Opfer herein, der andere schnappte sich die Beute.

„Geil, was … unsere Pulverl“, meinte der neue Krankenpfleger. „Bei unserem Abführmittel rinnt eine ganze Elefantenherde aus. Ein Pulverl davon ins Futter und der Tiergarten in Schönbrunn wär eine Jauchengrube.“

Glücklich und zufrieden beugte er sich über die Schüssel, begutachtete das Ergebnis und rümpfte dabei nicht eine Millisekunde seine Nase: „Sehr gut, das reicht für alle Kripolabors in Österreich. Wenn die da nichts finden, bist du so unschuldig wie die Jungfrau Maria.“

Kurz stockte er, inspizierte die Schüssel noch genauer, schon bis zur Nasenspitze, warf dann Gradoneg plötzlich einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Igitt … da schwimmt ein Zahn!“

„Spinnt ihr?! Nein“, erschrak Gradoneg, „der ist von euch! Den habt ihr mir untergejubelt! So wie bei der Kamera, die fährt auch plötzlich von selbst los.“

Am liebsten hätte Gradoneg gleich dem Krankenpfleger die Schüssel aus den Händen gerissen und an den Kopf geworfen.

„War ja nur Spaß …“, schüttelte der Krankenpfleger sich und die Schüssel vor Lachen. „Ohne Humor geht’s nirgends, auch nicht im Gefängnis. Musst ja nicht gleich einen Herzinfarkt kriegen … Dafür schenk ich dir eine Prostataeinlage, ja? Ich bring das raus und hol dir eine. Bei den Pulverln kommt manchmal was nach. Nicht viel, aber doch … wie bei Hämorrhoiden.“

Gradoneg sah ihn verdattert an.

„Ist kein Malheur, so eine Prostataeinlage“, grinste der Krankenpfleger. „Früher oder später müssen wir uns sowieso daran gewöhnen. Die Prostata ist die Achillesferse des Mannes, hängt nur ein bisschen höher oben. Der entkommen wir nicht … aber immerhin können wir uns dann am FKK-Strand ungeniert nach den Weibern umdrehen.“

***

Jedenfalls war Gradoneg schwer lädiert, als er der Gerechtigkeit endlich ein Stück näher kam und zum Haft- und Rechtsschutzrichter ins Vernehmungszimmer gebracht wurde. Sein leerer Magen knurrte vor Hunger, es schwindelte ihm noch mehr von den Torturen des Tages, und die Prostataeinlage in seiner Unterhose stärkte auch nicht gerade sein angeknackstes Selbstbewusstsein. Nur die Hoffnung auf Gerechtigkeit ließ ihn diese Strapazen einigermaßen würdig ertragen. Er wollte den juristischen Irrtum raschest aufklären und aus der Hölle verschwinden; und ein klärendes Gespräch mit einem Richter war der Schlüssel dazu. Also musste Gradoneg den besten Eindruck hinterlassen. Seine Aussagen durften nicht so zerknittert wie der Anzug sein, und jedes Argument musste besser sitzen als der blutverschmierte Hemdkragen.

Nervös rutschte er auf dem Sessel im Vernehmungszimmer hin und her und lächelte untertänig durch eine Plexiglasscheibe, die den Tisch in der Mitte trennte, zum Richter hinüber. Dieser sah lange nicht von seinen Unterlagen hoch, notierte etwas mit einem Kugelschreiber. Der Raum war fensterlos, die abgestandene Luft zum Schneiden, und selbst die Lampe schien einen leichten Wackelkontakt zu haben. Aber das interessierte Gradoneg nicht. Ihn interessierte sein Recht; das Recht auf Gerechtigkeit, wie es jedem Österreicher zustand.

Höttinger … Dr. Alfred Höttinger, so hieß der ‚Haft- und Rechtsschutzrichter‘. Und je länger Gradoneg diesen Höttinger durch die Plexiglasscheibe anlächelte, desto unwohler fühlte er sich. Dort am anderen Tischende saß die Selbstgerechtigkeit in Person: Ein hageres, knochiges Gesicht, in dem sich keine Lachfalte fand; seine dicken Tränensäcke unter den kalten Augen glänzten fast schon wie Vanillekipferl aus Lebertran, und die Lippen waren so dünn, als wären sie eine Drahtschlinge. Eine scharfe, tödliche Drahtschlinge, mit welcher dieser Richter ein jedes Wort, das ihm nicht passte, sofort erdrosseln würde.

„Die Anklage wurde Ihnen ja bereits verlesen“, sah Höttinger endlich von seinen Unterlagen auf. Seine Stimme glich ebenfalls mehr einem Höllenlärm als jener eines Menschen. „Dann können wir nämlich gleich zur nächsten Formalität schreiten.“

„Nicht bewusst, Euer Ehren … Ich weiß weder die Anklage noch weshalb ich festgenommen wurde, wirklich nicht“, stammelt Gradoneg. „Ich … ich war ja bewusstlos, Euer Ehren. Hier liegt bestimmt ein Irrtum vor, der sich rasch aufklären lässt.“

Gradoneg wusste nicht, wie er Höttinger korrekt ansprechen sollte, und entschied sich spontan für ‚Euer Ehren‘, die unterwürfigste Variante im österreichischen Gerichtswesen. Außerdem kannte er diese Anrede aus alten Agatha-Christie-Filmen, wo ja auch immer das Recht über dem Unrecht stand.

„Kannibalismus mit mutmaßlicher Tötung“, räumte Höttinger Gradonegs Informationsdefizit mit einem herrischen Ton aus dem Weg. „Was einer logischen Abfolge entspricht:

Kannibalismus setzt immer einen toten Menschen voraus. Für die Tierquälerei wird der Strafbestand erst hinterher gesondert erhoben.“

Gradoneg fiel die Kinnlade runder. Nun hörte er es aus dem Mund eines Richters – er sollte ein Kannibale und Mörder sein, und weil dem nicht genug war, wollte man aus ihm auch noch einen Tierquäler machen. Jeder, der das von sich gehört hätte, wäre vom Sessel gefallen, er kämpfte weiter.

„Aber ich bitte Sie, Euer Ehren, das ist bestimmt ein …“, murmelte er höflich.

Der Richter fiel ihm gleich ins Wort.

„Und ich ‚bitte‘ Sie um Ruhe! Ja! Und zwar zum ersten und letzten Mal! Sonst ‚bitte‘ ich die Justizwache, dass sie Sie abholt. Wir können diese Einvernahme auch gerne in ein paar Wochen fortsetzen.“

Höttinger sah angewidert zu Gradoneg rüber, ließ eine Pause verstreichen. Schüttelte wie bei einem schlimmen Kind den Kopf, und seine hässlichen Tränensäcke hüpften dabei, als würde sie ihrem ‚Herrn & Meister‘ applaudieren.

„Gut, dann wieder zu Ihrer Rechtsbelehrung“, nahm der Richter das oberste Papierblatt von seinem Unterlagenstapel und legte es vor sich auf den Tisch: „Also, falls Sie einen Rechtsbeistand beantragen möchten, steht Ihnen das selbstverständlich frei … Gibt ja schon jede Menge Rechtsanwälte, die sich bei Ihnen darum anstellen. Eindrucksvoll, alle Achtung … keine drei Stunden hier und die Crème de la Crème der Wiener Anwaltskanzleien reißt sich um Sie. Alles, was Rang und Namen hat“, wachelte er mit einem Papierblatt hinter der Plexiglasscheibe. „Diese Liste wird ja immer länger. Wollen alle mit Ihnen in den Medien punkten. Wenn’s mit den vielen Anrufen so weitergeht, müssen wir noch eine Hotline einrichten. Ist ja auch ein Fressen für die Medien, so ein Kannibalismus … da betreut man gerne einmal einen Mandanten unentgeltlich. Bringt mehr als jede Anzeige aus dem Marketingbudget. Da fragen sich die Leute immer, wie sich ein mittelloser Delinquent einen teuren Anwalt leisten kann … hängt immer nur vom jeweiligen Fall und dem Marketingwert dahinter ab. Sie können jedenfalls aus dem Vollen schöpfen. Ich lasse Ihnen dann die Liste zukommen.“

Gradoneg räusperte sich.

„Ehrlich gesagt, hoffe ich, … dass … dass sich dieser Irrtum im Gespräch mit Ihnen aufklären wird, Euer Ehren.“

„Na, dann hoffen Sie einmal weiter“, lächelte Höttinger beinahe schon mitleidig über Gradonegs Naivität, klopfte dann mit seinem Kugelschreiber auf die Anwaltsliste vor ihm: „Von der Dame in der dritten Spalte würde ich Ihnen allerdings abraten. Diese Kollegin verbucht Sie nicht nur im Marketingbudget … die schreibt Ihnen auch richtige Rechnungen. Gibt nur leere Versprechungen, aber keine unentgeltliche Vertretung bei dieser Kollegin. Das gehört zu ihrem Arbeitsstil: In den Haftanstalten träumen die Delinquenten von ihrem kurzen Rock, und die Ehefrauen von denen haben dann zu Hause Albträume wegen der langen Rechnungen. Sind nicht einmal die Tattoos echt bei dieser feinen Dame. Einmal ist bei ihr der Anker am rechten Oberschenkel unterm Rocksaum, dann wieder links. Wie sie’s halt braucht. Tja, so ist das Leben … Lug und Trug, nicht wahr?“, schob Höttinger das Blatt mit der Anwaltsliste zur Seite, als wäre es ein vollgerotztes Taschentuch eines Fremden. „Die Eingabe erledigen Sie dann selbst über die Justizwache.“

Offenbar verbarg sich hinter der breiten Metallleiste, mit welcher das Plexiglas am Tisch befestigt war, ein Aufnahmegerät. Höttinger tippte jedenfalls auf irgendetwas herum und sprach überdeutlich:

„14.23 Uhr. Der Verhaftete, Matthias Frerk Gradoneg, geb. am 7. Juni 1970, wurde hiermit eingehend über den Sachverhalt der ihm zu Lasten gelegten Straftaten informiert als auch über seine Rechte belehrt. Dies betrifft sein Recht auf die Verständigung und Beiziehung eines Rechtsbeistandes wie ebenso sein Recht, Aussagen zur Straftat zu verweigern. Der Verhaftete bestätigt hiermit die Rechtsbelehrung.“

Höttinger sah Gradoneg streng an, forderte diesen mit einem Kopfnicker zur Bestätigung auf.

„Ich … ich bestätige“, murmelte Gradoneg und suchte vergebens ein Mikrofon auf seiner Tischseite, rief darum laut zum Richter hinüber: „Ich bestätige, Euer Ehren.“

Das war geschafft, der Richter war zufrieden.

„Jetzt fehlt uns ja nur noch die Antwort auf eine klitzekleine, banale Frage …“, rückte Höttinger seinen Sessel nach hinten, machte es sich gemütlich und überkreuzte die Beine. „Wo befindet sich der Leichnam zu jenem menschlichen Gehirn, das Sie gestern Ihrer Katze gefüttert haben?“

„Was?!!!“, entfuhr Gradoneg ein Schrei. „Was hab ich getan?!!!“

„Nicht gleich aufregen, ist gar nicht so kompliziert zu verstehen: Sie haben gestern ihrer Katze ein menschliches Gehirn auf den Teller gelegt, und uns interessiert jetzt natürlich, von wem dieses Gehirn stammt und wo wir den dazugehörigen Leichnam finden.“

„Sie sind doch völlig verrückt“, sprang Gradoneg vom Sessel auf. „Ich füttere doch keine Katze mit einem Menschenhirn!“

„Die Beweise sagen da etwas anderes …“

„Beweise?! Einen Dreck gibt es dafür Beweise!“, schrie Gradoneg. „Sie wissen doch nicht einmal, dass der Whitey ein Kater ist, und … und wollen mir einen Mord anhängen. Das ist doch völlig absurd, ein völlig absurder Wahnsinn.“

„Setzen Sie sich, sofort!“, ließ Höttinger keinen Zweifel daran, dass seine Stimme immer lauter als jene von Gradoneg sein würde.

„Wirklich, ich bitte Sie … was … was sagen Sie denn da …?“, nahm Gradoneg wieder Platz.

„Nochmals zu den Beweisen …“, beugte sich Höttinger über den Tisch, entnahm seinen Unterlagen ein Papier, betrachtete dieses genüsslich. „Heute, exakt um sechs Uhr siebzehn am Morgen, kontaktiert ein gewisser Herr Dr. Friedrich Randelsberger das Landeskriminalamt Wien in der Außenstelle Wattgasse. Der besagte Zeuge ist seinesgleichen der wissenschaftliche Laborleiter an der Universität für Bodenkultur Wien.“

„Ich kenne den Herrn Dr. Randelsberger, sogar persönlich … Wir … wir arbeiten ja gerade in einem Projekt zusammen, so eine Spritzmittelgeschichte bei Lebensmitteln … Aber was hat der Dr. Randelsberger mit einem Mord zu tun?“, wusste Gradoneg freilich noch immer nicht, woher der Wind wehte.

 

Offenbar litt der Richter an Kurzsichtigkeit. Das Papier klebte schon auf seinem Gesicht und er fand noch immer nicht die richtigen Zeilen. Seine Nasenspitze und die hässlichen Tränensäcke schienen wie Tintenkleckse durchs Papier.

„Die sparen jetzt schon bei den Druckerpatronen …!“, fluchte er genervt hinter dem Blatt, fand dann die gesuchte Textpassage: „Also, und dieser Dr. Friedrich Randelsberger gab heute Morgen in einer ersten telefonischen Zeugenaussage Folgendes zu Protokoll …“, schob Höttinger einen Zeigefinger zwischen das Blatt und sein Gesicht, damit ihm die Zeilen nicht wieder entschwanden. „Ich zitiere: Die mir von Herrn Matthias Frerk Gradoneg gebrachten und übergebenen Fleischproben sind nach einer ersten Laboranalyse mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eindeutig einem menschlichen Gehirn zuzuordnen. Nach Auskunft des Überbringers – Herrn Matthias Frerk Gradoneg – entstammen diese von mir analysierten Gewebeproben einer Futterration für eine Katze in seinem Haushalt.“

Höttinger knallte das Blatt auf den Tisch, als wollte er der Aussage und dem Gutachten von Dr. Randelsberger noch mit einem zusätzlichen Donnerschlag Ausdruck verleihen.

„Ein Wissenschaftler von der Universität für Bodenkultur, der Leiter des Forschungslabors höchstpersönlich … eine international anerkannte Koryphäe kontaktiert das LKA Wien mit dieser Zeugenaussage, und das sind keine Beweise?! Das Gutachten einer renommierten Universität! Das sind für Sie keine Beweise?!“

Doch, das war nicht nur ein Donnerschlag für Gradoneg – das waren ein Gewitter und ein Funkenflug, ein Unwetter, wie ein solches noch nie in seinem Kopf getobt hatte. Zum Glück gab es für dieses Gewitter einen Blitzableiter, die logische Erklärung für diese schwerwiegenden Anschuldigungen.

„Ich … ich … kann das erklären … bitte … wirklich, Euer Ehren …“, stotterte sich Gradoneg zu einem einigermaßen klaren Gedanken, „… das … das mit dem Fleisch und dem Katzenteller stimmt schon. Und ich … ich hab das Fleisch auch zum Herrn Dr. Randelsberger ins Labor auf die BOKU gebracht. Ein Stück davon … Aber dieses Fleisch war doch nicht von mir, ich schwör’s … auch nicht von meiner Frau oder den Kindern. Wir … wir füttern den Whitey nur mit Bio-Packerln und … und beim Trockenfutter bekommt er auch nur ,bio‘.“

„Kommen Sie endlich zur Sache!“, donnerte Höttinger jetzt erst so richtig auf den Tisch und drehte seine Stimme zu einem Heavy-Metal-Konzert auf: „Möchten Sie mir vielleicht weismachen, dass Sie dieses menschliche Gehirn aus einem Supermarkt haben?! Hier auf dem Tisch liegt ein Universitätsgutachten über ein menschliches Gehirn! Und Sie erzählen mir was von Bio und Supermarktregalen!“

„Nein, nein … das … das mein ich nicht“, schepperte Gradoneg am ganzen Körper und spürte plötzlich, dass sich das Abführmittel wieder in seinem Magen meldete; sich dort oder irgendwo im Darm mit den verbliebenen Schleimhäuten anlegte. „Manchmal bekommen wir von unseren Nachbarn im Haus ebenfalls ein Fleisch für den Whitey … oft sogar … Am Sonntag ist das meistens ein ganzer Haufen … der … der liegt dann vor unserer Tür. Also, das Fleisch … das liegt dann vor der Tür oder hängt an der Türschnalle … Sind immer so Resteln, eher Flachsen und Abfälle … von einem Schnitzel oder Hendl … das ist dann meistens der Hals, also beim Hendl ist es meistens der Hals … Und das faschieren wir dann mit dem Fleischwolf und geben es dem Whitey. So wie gestern, da war auch wieder was vor der Tür … so eine Art Faschiertes, ich hab das dann mit dem Stabmixer noch ein bisschen püriert und dem Whitey gegeben.“

„Und wie hat dieses Faschierte ausgesehen?!“

„Das war bestimmt kein Hirn, ich … ich weiß ja, wie ein Hirn ausschaut. Allein von der Form her war es kein Hirn. Mein Sohn hat das ja bei den Organen in Biologie gelernt …“

„Mich interessiert nicht der Biologieunterricht Ihres Sohnes, sondern wie dieses Faschierte ausgesehen hat!“

„Relativ normal … Vielleicht etwas gröber, deshalb habe ich’s ja auch noch mit dem Stabmixer püriert. War so ein kleiner Klumpen Fleisch, wie ein Knäuel Regenwürmer … rote und weiße Regenwürmer … ein Faschiertes halt. Nur eben etwas gröber.“

Höttinger griff zu seinem Notizblock.

„Von welchem Nachbarn hatten Sie das Fleisch?!“

„Wie bitte …?!“

„Gestern! Wer aus der Nachbarschaft hat Ihnen dieses Fleisch gebracht?!“

„Das weiß ich doch nicht, ehrlich … Euer Ehren!“

„Also war es wieder das Bio-Sackerl aus dem Supermarkt?!“, meinte Höttinger spöttisch und verlor allmählich seine Geduld.

„Nein … ich … ich mein, unsere Nachbarn hängen das Fleisch einfach an die Tür oder legen es auf den Fußabstreifer. Das ist immer der Fall, ganz normal … da … da läutet niemand mehr an.“

„Ein menschliches Gehirn ist für Sie also ganz normal?“, brüllte Höttinger und beugte sich über seinen Notizblock. „Also, wird’s bald?! Wie heißen diese Nachbarn, die Sie so großzügig mit Fleischresteln versorgen?!“

„Die Frau Haberzettl, direkt neben unserer Wohnung, legt regelmäßig was hin, und die Deutsche unten im Hochparterre ist ebenfalls nett. Glaub, Zulin heißt die …“

Gradoneg stockte und erschrak vor sich selbst. So schnell wurde er also zum Denunzianten. Bei ihm brauchte der Hahn nicht dreimal zu krähen, es reichte schon, wenn ein Richter seine Stimme erhob. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, von unseren Nachbarn war das bestimmt niemand. Ganz sicher, da bin ich mir hundertprozentig sicher“, versuchte er seinen Fehler gutzumachen. Aber der Hahn hatte gekräht, und die Verleumdung stand im Notizblock des Richters.

„Haberzettl und Zulin, wer noch?!“

Vielleicht war es Gradonegs Schock, ein mieser, charakterloser Denunziant zu sein, so eine Nazi-Bestie oder ein Stasi-Scheusal, auf welche sein moralischer Zeigefinger bei jeder politischen Diskussion mit Abscheu deutete, oder es waren seine Magenschmerzen, die sich nun noch stärker meldeten – er wurde jedenfalls wütend, sehr wütend.

„Jetzt schalten Sie doch verdammt einmal Ihr Hirn ein!“, sprang er von seinem Sessel auf und schrie Höttinger an: „Sie palavern da immer von einem Hirn auf meinem Katzenteller und schalten dabei nicht einmal Ihr eigenes ein!“

„Setzen!“, brüllte der verdatterte Richter.

Nein, Gradoneg blieb stehen und verpasste dem Sessel einen demonstrativen Tritt, stellvertretend für den Arsch des Richters.

„Ich bring doch nicht einen Menschen um, leg sein Hirn auf einen Katzenteller und lauf dann damit auf die BOKU, damit ich überführt und lebenslänglich eingesperrt werde. Das ist doch krank! Absolut krank! Das macht nicht einmal der durchgeknallteste Verbrecher. Solche Drogen gibt es gar nicht, dass das jemand macht! Und Sie sind so verrückt und werfen mir diesen Blödsinn vor?!“

Höttinger schnappte nach Luft, als hätte Gradoneg ihm bei diesem Wutausbruch den ganzen Sauerstoff weggeatmet, rang nach Worten, setzte aber dann doch noch zum Gegenschlag an: „Wissen Sie, wer hier vor einem Jahr an diesem Tisch saß?! Auch so eine unschuldige Kreatur …“

„Ich sitz jetzt hier!“, schrie Gradoneg zurück. „Da­rum geht’s und nicht …“

„Ein braver, unscheinbarer Familienvater aus Döbling. Angesehen, Mitglied bei jedem caritativen Verein im Bezirk. Der liebste Mensch mit nur einem Problem: Er hat seiner Frau den Kopf abgeschlagen. Ans Bett gefesselt und noch seelenruhig eine Axt aus dem Bauhaus geholt.“

„Mir ist wurscht, was ein anderer …“, murrte Gradoneg vergeblich dazwischen.

„Ja! Noch schnell ins Bauhaus gelaufen, damit er seiner gefesselten Frau mit einer neuen Axt den Kopf abschlagen kann! Und weil das dann wochenlang niemandem im Haus aufgefallen ist, hat er ihren Kopf aufs Fensterbrett gestellt. Hochparterre, wohlgemerkt … in einem Blumentopf … mitten auf der Döblinger Hauptstraße! Und jeden Tag gegossen! Den Kopf von seiner Frau jeden Tag gegossen … Auf Augenhöhe von den Passanten … die Straßenbahn, der 37er fährt hundertmal vorbei. Und er gießt und gießt den Kopf seiner Frau, jeden Tag. Wissen Sie, was diese Kreatur zu mir bei der Einvernahme gesagt hat?!“, fuchtelte Höttinger völlig aufgebracht mit seinen Händen herum, „hier, genau hier an diesem Tisch, hat er mich angegrinst und gemeint: ‚Wenn ihr nicht endlich draufgekommen wärt, dann hätt ich euch den Schädel von meiner Alten ins Kommissariat bringen müssen‘. Kapieren Sie das?! Diese Kreatur wollte ausprobieren, wie lange die Leute vorm Fenster brauchen, bis sie den Kopf seiner Frau am Fensterbrett entdecken! Deshalb hat er ihn hinausgestellt und tagelang gegossen. Also erzählen Sie mir nichts davon, was alles im Leben möglich ist.“