Buch lesen: «Über das (sogenannte) Knocheneinrenken - On Bonesetting»
Wharton P. Hood
Über das (sogenannte)
Knocheneinrenken
–
On Bonesetting
Manuelle Medizin im 19. Jahrhundert
Herausgegeben
von
Christian Hartmann
Über das (sogenannte) Knocheneinrenken - On Bonesetting
von Wharton Hood
© 2008, JOLANDOS
Am Gasteig 6 – 82396 Pähl
978-3-936679-46-5 (Buch)
978-3-941523-22-7 (mobi)
978-3-941523-44-9 (epub)
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Herausgeber
Christian Hartmann
Bildrechte
Bilder mit freundlicher Genehmigung des Still National
Osteopathic Museum, Kirksville, Mo., [2006. 41. 02]
Übersetzung
Dr. Martin Pöttner
Umschlaggestaltung
Monika Reiter
Lektorat
Elisabeth Melachroinakes
Satz
post scriptum,
Jede Verwertung von Auszügen dieser deutschen Ausgabe ist ohne Zustimmung von JOLANDOS unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
ISBN
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Vorwort des Herausgebers
Wharton Hoods (1833 – 1916) bemerkenswerte Abhandlung über das Knocheneinrenken gilt als erstes ernstzunehmendes literarisches Werk über diese seit Jahrtausenden bekannte medizinische Kunstfertigkeit. Was das Büchlein aber neben dieser historischen Bedeutung so außergewöhnlich macht, sind Hoods brillante funktionelle Deutungen seiner Beobachtungen und die daraus resultierenden klinischen Schlüsse. Hervorzuheben ist dabei vor allem sein Plädoyer für eine frühzeitige Mobilisierung betroffener Gelenke im Zuge der Heilbehandlung. Bedenkt man, dass die Frühmobilisation in der Rehabilitation erst ab den 1960ern, also etwa 100 Jahre nach Erscheinen von Hoods Artikeln im Lancet, durch den Einfluss der Physiotherapie Goldstandard wurde, erscheinen seine Beobachtungen aus heutiger Sicht geradezu visionär.
Hier gilt es zu jedoch bedenken, dass der Autor besagtes Wissen lediglich als erster beschreibt, den Knocheinrenkern die Zusammenhänge – wenn auch in Unkenntnis der anatomischen und physiologischen Terminologie – wahrscheinlich schon Jahrhunderte, wenn nicht sogar schon Jahrtausende zuvor sozusagen intuitiv bekannt waren. Ein gutes Beispiel dafür, dass medizinisches Wissen seine Quellen häufig nicht innerhalb der »etablierten« Medizin selbst hat, sondern »adaptiertes« Wissen zuvor oftmals vehement abgelehnter Methoden darstellt. Bedauerlich aus historischer Sicht ist dabei, dass selbst im Fall einer Adaption keine entsprechende Würdigung der eigentlichen Gründerväter, wie in unserem Fall der Knocheneinrenker, aber auch ihrem Erstbeschreiber Wharton Hood, zuteil wird.
Auch muss kritisch erwähnt werden, dass die Adaption keineswegs aus Einsicht erfolgte. Erst als die vom amerikanischen Landarzt A. T. Stills (1828 – 1917) bereits 1874 der Öffentlichkeit vorgestellte osteopathische Philosophie und D. D. Palmers (1845 – 1917), nach einem Besuch der Familie Still im Jahr 1895, daraus abgeleitete Chiropraktik – beide basierend auf den Techniken der Knocheneinrenker – im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten fulminante Erfolge verzeichnete, begannen sich die Mediziner ernsthafter damit auseinanderzusetzen. Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, bis zumindest kleine Teile von Stills und vor allem Palmers Konzepte fester Bestandteil medizinsicher Curricula werden sollten. Dies ist vor allem Cramer, Döring und Gutman zu verdanken, die in den 1950ern aus Beobachtungen stark strukturell orientierter Osteopathie, wie sie seinerzeit in England gelehrt wurde, vorrangig jedoch aus dem Konzept und den Techniken der amerikanischer Chiorpraktiker, die sogenannte »Manuelle Medizin« entwickelten. Anders als von ihnen dargestellt, handelt es sich dabei jedoch keineswegs um ein neues oder eigenständiges Konzept. Sämtliche Techniken der Manuellen Medizin/Therapie gehörten sowohl in der Osteopathie, wie auch in der Chiropraktik bereits ein halbes Jahrhundert zuvor zum Grundwissen. Wer dies nicht glaubt, sollte insbesondere die Literatur von J. M. Littlejohn (1866 – 1947) studieren. Dort finden sich physiologsiche und pathophysiologische Zusammenhänge wesentlich ausführlicher beschrieben, als in jeder anderen bekannten Literatur über manuelle Medizin.
Bei aller Kritik aus historischer Sicht, gebührt den Gründern der Manualmedizin, so wie sie im deutschsprachigen Raum von Ärzten und Physiotherapeuten gegenwärtig praktiziert wird, aber unzweifelhaft der nicht hoch genug einzuschätzende Verdienst, Hoods folgende Ermahnung fast ein Jahrhundert nach deren Veröffentlichung endlich umgesetzt zu haben:
»Der Schaden, der durch Knocheneinrenker – oder mehr noch durch die Einstellung einiger Mitglieder der Profession gegenüber deren Methoden – angerichtet wird, besteht darin, dass von ihnen Patienten geheilt werden, bei denen zugelassene Chirurgen versagt oder Unheilbarkeit festgestellt haben, und deshalb das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Chirurgie unnötigerweise stark erschüttert ist. Würden Chirurgen zeigen, dass sie sehr wohl wissen, was Knocheneinrenker an Gutem vollbringen können, dann wäre die Öffentlichkeit auch bereit, auf vernünftige Warnungen vor möglichen Schädigungen zu hören. Und sie wäre ebenso bereit, sich allen Vorsichtsmaßnahmen zu unterwerfen, die solche Schädigungen auf ein Minimum reduzieren.« 1
Somit stellt die Manualmedizin eine gelungene Teilintegration der alten von sogenannten »Quacksalbern« praktizierten und von Still bzw. Palmer substanziell weiterentwickelten manuellen Methoden in die Medizin dar. Und da es offensichtlich ein Jahrhundert benötigt, bis die kategorische Abwehrhaltung der Schulmediziner gegenüber besagten Quacksalbern nachhaltig schmilzt, bleibt zu hoffen, dass auch die erstmals in den 1890ern beschriebenen ganzheitlichen Aspekte insbesondere der Osteopathie bald Einzug in die etablierte Medizin finden werden. Selbstverständlich sollte dies nicht unkritisch und ohne eingehende Studien erfolgen; diese sollten jedoch in ihrem Design nicht darauf ausgelegt sein, die Osteopathie oder Chirotherapie rundweg zu diskreditieren, um Reputation, Einkommen oder persönliche Überzeugungen zu sichern, sondern offen und vorurteilsfrei die Grundlage der Erfolge jener Konzepte zum Vorteil der gesamten Medizin und damit letztlich zum Wohle der Menschheit erforschen.
In diesem Sinn hoffe ich, dass die Lektüre des vorliegenden Buches sie entsprechend inspiriert.
Viel Vergnügen beim Lesen!
Christian Hartmann
Pähl, 10. November 2008
Über das (sogenannte)
Knocheneinrenken
und dessen Beziehung zur Behandlung von
Gelenken, die beispielsweise durch Verletzung,
Rheumatismus oder Entzündung in ihrer
Bewegung eingeschränkt sind.
von
Wharton P. Hood, M.D. M.R.C.S.
Verzeichnis der Abbildungen
Bild 1: Manipulation des Handgelenks
Bild 2: Manipulation des Ellbogens
Bild 3: Manipulation der Schulter
Bild 4: Manipulation des Fußgelenks
Bild 5: Manipulation des Kniegelenks
Bild 6: Manipulation des Hüftgelenks
Bild 7: Manipulation der Wirbelsäule
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort des Herausgebers
Verzeichnis der Abbildungen
Vorwort
Kapitel I - Einleitung
Kapitel II - Pathologie
Kapitel III - Manipulationen
Kapitel IV - Manipulationen (Fortsetzung)
Kapitel V - Affektionen der Wirbelsäule
Fußnoten
Vorwort
Der Inhalt der folgenden Seiten ist bereits im März und April dieses Jahres2 im Lancet3 erschienen. Mein persönlicher Eindruck vom praktischen Nutzen dieses Themas und die zahlreichen Briefe, die ich seitdem von Berufskollegen erhalten habe, veranlassten mich, die Abhandlungen – einschließlich des mir zur Verfügung stehenden ergänzenden Materials – in gesonderter Form erneut zu veröffentlichen.
Zur Entstehungsgeschichte
Vor etwa sechs Jahren betreute mein Vater, Dr. Peter Hood, zusammen mit seinem Kollegen, Dr. Iles aus Watford, den berühmten, inzwischen verstorbenen Knocheneinrenker Hutton während einer langen und ernsten Krankheit. Nach dessen Genesung weigerte sich mein Vater in Anbetracht der guten Taten, die Hutton vielen armen Menschen erwiesen hatte, ein Honorar von ihm anzunehmen. Hutton, der sich daraufhin sehr verpflichtet fühlte und etwas tun wollte, um seine Dankbarkeit zu zeigen, erbot sich, als Gegenleistung für die empfangene Kulanz alle Einzelheiten seiner praktischen Tätigkeit als Knocheneinrenker zu erklären und zu demonstrieren. Da mein Vater aufgrund hoher Arbeitsbelastung dieses Angebot nicht selbst wahrnehmen konnte, wandte sich Hutton damit an mich, und ich erklärte mich nach kurzer Überlegung einver- standen. Wann immer ich also Zeit erübrigen konnte und Hutton in seinem Londoner Haus weilte, begab ich mich zu ihm. Meine Entscheidung entsprang aber nicht allein der Neugier, zu sehen, wie er seine Patienten behandelte. Vielmehr wollte ich jeden Einblick, den ich in das scheinbare Geheimnis von Huttons häufigem Erfolg gewinnen konnte, zu gegebener Zeit auch dem ärztlichen Berufsstand vermitteln. Ich fühlte mich jedoch nicht berechtigt, bereits zu Huttons Lebzeiten etwas zu veröffentlichen. Denn obwohl er an mich keinerlei Bedingungen stellte, teilte er mit mir freigebig das, was er – übrigens völlig zu Recht – für ein bedeutendes und wertvolles Geheimnis hielt. Ich zögerte allerdings nicht, seine Methoden im privaten Freundeskreis zu diskutieren. Und meine Skrupel in Bezug auf die Berechtigung, diese Methoden weithin bekannt zu machen, hat nun Huttons kürzlicher Tod beseitigt.
Als Hutton zum zweiten Mal erkrankt war, übernahm ich die gesamte Betreuung der mittellosen Patienten, die er gewöhnlich umsonst behandelte. Dabei stellte ich fest, dass ich alles umzusetzen konnte, was ich bei ihm beobachtet hatte. Ich verzichtete jedoch darauf, auch den einträglichen Teil seiner Praxis zu übernehmen, was zusammen mit anderen Gründen dazu führte, dass mein Kontakt zu ihm bereits zwei Jahre vor seinen Tod abbrach. Dennoch glaube ich, dass dieser Kontakt lange genug gedauert hat, um mir ein Wissen zu verschaffen, das eine gewöhnliche chirurgische Ausbildung nicht vermittelt und das – unter anatomischen Gesichtspunkten angewandt – sowohl bei präventiven als auch bei kurativen Behandlungen von höchstem praktischem Nutzen ist.
Was ich deshalb in der vorliegenden Arbeit kurz beschreiben möchte, sind die wichtigsten Charakteristika der Vorgehensweise eines Knocheneinrenkers beim Behandeln geschädigter Gelenke sowie die Ergebnisse einer solchen Behandlung und die Art von Fällen, bei denen sie sich als erfolgreich erwiesen hat. Und hier muss ich zuallererst Herrn Hutton für seine Gutgläubigkeit und Ehrlichkeit meine uneingeschränkte Anerkennung zollen. Er hatte nur eine ganz einfache Ausbildung genossen, war in Bezug auf anatomisches Wissen völlig unbedarft und glaubte fest an die Wahrheit seines üblichen Befunds: »Der Knochen ist draußen.« Nur dies ließ er als mögliche Erklärung sich ständig wiederholender Fälle zu. Ein zuvor steifes, schmerzendes und hilfloses Gelenk war durch seine Arbeit fast sofort wieder uneingeschränkt zu gebrauchen. Und oft wurde diese Veränderung von einem vernehmbaren Laut begleitet, den er als Beweis für die Rückkehr eines Knochens an seinen angestammten Platz betrachtete. Erklang dieser für ihn erfreuliche Laut, sah er den Patienten direkt an und sagte in seinem breiten Dialekt: »Hastes gehört?« Die Antwort lautete dann: »Ja!« Und er entgegnete: »Jetzt ist alles gut – benutz dein Glied!« Dass dem Patienten – der wahrscheinlich genauso wenig über Anatomie wusste wie Hutton, oft nach längerer chirurgischer Behandlung auf Krücken zu ihm gehumpelt war und ihn nun sozusagen hüpfend und springend wieder verließ – diese Erklärung vollauf genügte, überrascht nicht.
Als ich Hutton kennenlernte, versuchte ich oft, im Gespräch mit ihm auf den wesentlichen Punkt zu kommen, um mir erklären zu können, was er da eigentlich gemacht hatte. Bald jedoch stellte ich fest, dass ich mich, wenn ich wirklich etwas von ihm lernen wollte, einfach nur aufs Zuhören und Beobachten beschränken musste. Er war mit einem für ihn unumstößlichen Glauben alt geworden.
Nun aber ist, wie ich meine, der Zeitpunkt gekommen, wo sich die Mitglieder unserer Profession4 nicht länger durch das gewohnheitsmäßige Fehlurteil »Der Knochen ist draußen« davon abhalten lassen sollten, sich selbst mit den Methoden vertraut zu machen, die derart falsch beschriebene Zustände heilen können. Auch kann es für sie durchaus vorteilhaft sein, einige jener durch mehrere Chirurgen-Generationen an sie weitergegebenen Bräuche in Bezug auf die Anwendung von Ruhe und Gegenreiz neu zu überdenken.
UPPER BERKELEY ST., PORTMAN SQ.
Juli 1871
Kapitel I
Einleitung
Die meisten Chirurgen wissen es bereits und viele mussten es durch hohe Kosten und Verluste erfahren, dass ein großer Teil der Patienten, bei denen Krankheit oder Verletzung eine verminderte Beweglichkeit oder Gebrauchsfähigkeit von Gliedern zur Folge hat, sogenannten Knocheneinrenkern in die Hände fällt. Diese Menschen behaupten in allen Fällen gewohnheitsmäßig, der betroffene Knochen oder das betroffene Gelenk sei »draußen«. (obwohl es keinerlei anatomische Anzeichen für eine Dislokation gibt) und wenden dann zu gegebener Zeit Manipulationen an, durch die, wie viele Beispiele zeigen, der Patient sehr schnell geheilt wird. Gelehrte der Chirurgie sind – sofern sie sich überhaupt dazu herablassen, über Knocheneinrenker und deren Arbeit zu sprechen – eher geneigt, sich über eine Verletzung zu mokieren, die bei so einer »rauen« Behandlung gelegentlich vorkommt, als über die dadurch oft erzielte Verbesserung. Es ist zweifellos nötig, Studenten davor zu warnen, ein entzündetes oder ulzeriertes Gelenk zu drehen oder zu ziehen. Ebenso angebracht ist es jedoch, sorgfältig zu hinterfragen, in welchen Fällen Knocheneinrenker Gutes erreichen und worin die Veränderung besteht, die ihre Manipulationen bewirken. Ein wahrscheinlich einzig dastehender, lobenswerter Versuch in diese Richtung ist Pagets5 vor drei Jahren im Krankenhaus St. Bartholomews gehaltene und danach im British Medical Journal veröffentlichte klinische Vorlesung, die allerdings den Nachteil hat, dass Paget sich bei seinen Anschauungen über die Behandlungsmethode der Knocheneinrenker lediglich auf Vermutungen oder auf mangelhafte Beschreibungen von Patienten stützt. Doch selbst wenn seine Annahmen in mancher Hinsicht falsch sein mögen: Seine Autorität zeigt ungeachtet dessen die große praktische Bedeutung der strittigen Fragen. Er sagt zu seinen Studenten: »Wahrscheinlich werden nur wenige von Ihnen praktizieren, ohne einen Knocheneinrenker zum Feind zu haben. Und wenn dieser einen Fall heilt, den Sie selbst nicht heilen konnten, hat er sein Glück gemacht und Ihres ist ruiniert.« Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als seien die von Paget festgestellten Zustände nur in der Praxis minder begabter Chirurgen und in den ärmeren und unwissenderen Gesellschaftsklassen Realität. Das trifft aber keineswegs zu, wie ich anhand von Beispielen zeigen werde, in denen Männer, die nicht weniger bedeutend sind als Herr Paget, bei prominenten Patienten versagt haben. Solche Fälle können nicht nur dem einzelnen Praktiker ernsthaft schaden, sondern auch die öffentliche Wertschätzung der gesamten chirurgischen Kunst mindern. Das macht es meines Erachtens erforderlich, dass jeder, der dazu im Stande ist, dem ärztlichen Berufsstand eine klare Beschreibung der Methoden, Fehlschläge und Erfolge des sogenannten Knocheneinrenkens liefert. Dieser Aufgabe habe ich mich, soweit ich es vermag, auf den folgenden Seiten gewidmet.
Das sogenannte Knocheneinrenken lässt sich kurz und prägnant als die Kunst definieren, bei der durch plötzliche Flexion oder Extensionalle Behinderungen der freien Gelenkbewegung überwunden werden, die nach dem Abklingen der frühen Symptome einer Krankheit oder häufiger noch einer Verletzung zurückgeblieben waren.
Wahrscheinlich kann ich keinen typischeren und häufigeren Fall anführen als folgenden:
Einem gesunden Mann, der sich einen oder beide Unterarmknochen gebrochen hat, werden in einem Krankenhaus auf die übliche Weise Schienen angepasst. Man behandelt ihn ambulant und nimmt die Schienen ab und zu herunter, um sie zu erneuern. Nach einigen Wochen ist der Bruch wieder fest zusammengewachsen, die Schienen werden beiseitegelegt und der Mann wird als geheilt entlassen. Er ist zwar noch immer nicht in der Lage, seine Hand oder seinen Unterarm zu gebrauchen, man versichert ihm aber, diese Schwierigkeit rühre von der durch die lange Ruhigstellung hervorgerufenen Steifheit her und werde bald verschwinden. Sie verschwindet jedoch nicht, sondern wird im Gegenteil eher schlimmer, bis der Mann sich nach einer gewissen Zeit hilfesuchend an einen Knocheneinrenker wendet. Arm und Unterarm sind dann fast rechtwinkelig zueinander gebeugt. Der Unterarm befindet sich zwischen Pronation und Supination, die Hand ist auf einer Linie mit ihm, die Finger sind steif und der Patient kann weder diese noch das Handgelenk oder den Ellbogen bewegen. Eine passive Bewegung ist zwar in engen Grenzen möglich, erzeugt aber eindeutig lokalisierbaren scharfen Schmerz am betroffenen Gelenk – ein Punkt, an dem zudem Druckempfindlichkeit besteht. Der Knocheneinrenker sagt zu dem Mann, sein Handgelenk und der Ellbogen seien »draußen«. Der Mann mag einwenden, die Verletzung habe in der Mitte des Unterarms stattgefunden – möglicherweise durch einen Schlag oder eine andere direkte Gewalteinwendung. Die Antwort lautet dann wahrscheinlich, dass der Arm in der Tat gebrochen gewesen sei wie behauptet, dass dabei aber sowohl das Handgelenk als auch der Ellbogen rausgeschoben worden seien und die Doktoren diese Verletzungen übersehen hätten. Der Knocheneinrenker wird sodann durch eine (nachfolgend beschriebene) schnelle Manipulation die Steifheit der Finger unmittelbar überwinden und dem Patienten ermöglichen, sie wieder in gewohnter Weise hin und her zu bewegen. Diese unmittelbar erfahrene Wohltat wird alle Bedenken hinsichtlich einer Manipulation von Handgelenk und Ellbogen zerstreuen, sodass auch diese sich schließlich wieder frei drehen lassen. Der Mann geht, beugt und streckt problemlos seine vor Kurzem noch steifen Gelenke und ist völlig überzeugt, dass er in den Händen der legitimierten Ärzte großen Schaden erlitten hat.
Das ist jedoch wie alle theoretischen Beispiele in gewissem Sinn ein idealer Fall. Und es mag der Mühe wert sein, ihm eine Reihe realer Begebenheiten hinzuzufügen. Bei einem Beispiel, wo man es mir erlaubt hat, so zu verfahren, habe ich den Patienten namentlich genannt, und zwar nicht nur als Garantie für Authentizität, sondern auch als zusätzlichen Beweis dafür, dass die Kunst des Knocheneinrenkens erfolgreich von Personen in Anspruch genommen wurde, die sich Hilfe von höchst angesehenen Londoner Chirurgen hätten holen können und diese auch erhielten. Die Tatsache, dass Letztere bei der Heilung der Patienten versagten, während ein Quacksalber sofort Erfolg hatte, bildet den Grund für meinen Glauben, dass die Praktik des Knocheneinrenkens nicht nur, wie die Lancet sagt, »in einer unbedeutenden Ecke der Chirurgie« verweilt, sondern auch auf gesunden, aus früherer Zeit überlieferten Bräuchen basiert. Ich halte es durchaus für möglich, dass der erste »Knocheneinrenker« der Diener oder unqualifizierte Assistent eines Chirurgen war, welcher genau wusste, was sich durch plötzliche Bewegungen erreichen lässt und wie diese auszuführen sind.
Ein solches Wissen kann der Profession leicht verloren gehen (denn welch große Menge an Kenntnissen stirbt mit jedem Menschen – selbst in unseren Tagen, wo es Bücher, Broschüren und Zeitschriften gibt!) und dann als Geheimnis eines Quacksalbers von jenen weitergegeben werden, die seinen Wert aus gutem Grund schätzen.
Meine Nachforschungen haben gezeigt, dass sich alle Knocheneinrenker in ihren Praktiken, soweit es die Manipulation anbelangt, sehr ähneln, sich jedoch in Bezug auf die erzielten Ergebnisse unterscheiden – und zwar teilweise deshalb, weil einige von Natur aus über ein besseres mechanisches Feingefühl verfügen als andere, viel mehr aber noch, weil einige eine Beobachtungsgabe besitzen, die fein genug ist, um die bei ungünstig verlaufenden Fällen auftretenden Symptome zu vermerken und in Erinnerung zu behalten und somit ähnliche Fehlschläge in der Zukunft zu vermeiden. Herr Hutton verdankte seine Reputation und seinen Erfolg vermutlich einer Kombination beider Qualitäten. Für einen Menschen, der über Anatomie und Pathologie nicht Bescheid weiß, wäre es unmöglich, die Laufbahn eines Knocheneinrenkers einzuschlagen, ohne großen Schaden anzurichten oder viele schreckliche Ergebnisse hervorzurufen – es sei denn, er ist intelligent genug, um durch Erfahrung Fallen vermeiden zu lernen. Er wird rechtzeitig erkennen, welche Gelenke man klugerweise in Ruhe lässt und welche gefahrlos und zu ihrem Vorteil bewegt werden können. Keinesfalls aufklären wird ihn die Erfahrung freilich über die Art dieses Unterschieds oder über die Beschaffenheit der Läsionen, die er gelindert hat. »Der Knochen ist draußen«, lautet im besagten Gewerbe die Überlieferung. Und seine Mitglieder bleiben stets bei dieser Aussage – wahrscheinlich weniger aus Falschheit als aus reiner Unwissenheit.
Ein Kranker kommt also mit einem steifen, schmerzenden und nicht funktionsfähigen Gelenk. Nun wird ein solches Gelenk wieder befreit und aktiviert durch Bewegungen, die einen vernehmbaren Laut hervorrufen und bei dem man leicht annehmen könnte, er sei durch die Rückkehr eines Knochens an seinen Platz verursacht worden. Dem Patienten und dem Knocheneinrenker (beide gleichermaßen unwissend in Bezug auf Anatomie und auf die Bedeutung und die Anzeichen einer Dislokation erscheint diese Erklärung völlig ausreichend. Wenn nun ein Chirurg behauptet, eine derartige Verletzung habe überhaupt nicht existiert, schenken der Patient, den er ja nicht hat heilen können, und die nicht professionellen Zeugen des Falles auf dieser Aussage keinerlei Beachtung.
Den Eindruck der Kunst des Knocheneinrenkens auf solche Personen, veranschaulicht folgender Brief in der Zeitschrift Echo aus dem Jahr 1870:
»Verehrter Herr,
vor kurzer Zeit fiel ein Maler, der für mich arbeitete, von der Decke herab auf den Boden, verletzte sich dabei schwer und musste ins St.-Bartholomew-Krankenhaus, aus dem er nach dreiwöchigem Aufenthalt als geheilt entlassen wurde, obgleich er nicht ohne Krücken zu laufen vermochte. Nach 14 Tagen ohne erkennbare Besserung, ließ er Herrn Hutton aus Wyndham Place, Crawford Street, W., kommen, der konstatierte, dass seine linke Hüfte und das linke Knie draußen waren, und er sie wieder an ihre angestammten Plätze bringen könne. Jetzt geht der Mann wieder ganz normal seiner Arbeit nach.
Es gibt noch weitere mir bekannte Fälle, die die Unfähigkeit des chirurgischen Berufsstands zeigen. Die Studenten lernen, wie man Beine und Arme amputiert und Krüppel erzeugt, aber nicht einer von ihnen weiß, wie man mit Dislokationen umgeht und dadurch eine mögliche Amputation vermeidet. Ich selbst habe veranlasst, dass durch Herrn Hutton die Amputation zweier Beine verhindert wurde. Das kann ich eindeutig beweisen. Diese Frage verdient Beachtung im Hinblick auf die Gründung eines Krankenhauses für Dislokationen. Ich bin gerne bereit, bei der Realisierung eines solchen Projekts mitzuhelfen und es mit einer ansehnlichen Spende zu unterstützen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Thomas Lawes
65, City Road.«
Dass unser ärztlicher Berufsstand es versäumt hat, der Frage nachzugehen, welche Wahrheiten sich hinter dem Knocheneinrenken verbergen, ist, wie ich meine, nahezu zweifellos auf zwei Gründe zurückzuführen: Erstens auf die ernsten und oft fatalen Ergebnisse, die in der Praxis aller Knocheneinrenker aufgetreten sind – wenn auch zumeist wohl durch Hände weniger kunstfertiger und gefühlvoller Angehöriger jenes Gewerbes. Uns zweitens auf die praktische Auswirkung der Feststellung, ein Knochen sei »draußen«gewesen und wieder an seinen ursprünglichen Platz gebracht worden. Chirurgen, die wissen, dass diese Behauptung keinerlei Basis hat, haben sie vielleicht zu schnell mit einer betrügerischen Absicht in Verbindung gebracht und dabei wohl zu wenig die Unwissenheit derer berücksichtigt, von denen diese Feststellung stammt. Verärgert und empört über deren Falschheit sowie über das schlechte Licht, das dadurch auf sie selbst fiel, schrieben sie die Heilung einfach der Wirkung mentaler Einflüsse, dem verstrichenen Zeitraum oder einer vorhergegangenen Behandlung zu und versäumten es, nachzufragen, ob hinter dem »Draußen«-Konzept womöglich nicht doch ein plausibler Grund stehen könnte oder welche Veränderung die Manipulationen des Knocheneinrenkers tatsächlich zustande gebracht hatten.
Nach diesen Vorbemerkungen fahre ich nun mit dem Bericht jener Fälle fort, auf die ich mich bezogen habe:
Um einen Freund zu begrüßen, stieg ein Herr, den ich Herrn A nennen möchte, rasch von seinem Arbeitsstuhl im Büro herunter. Sobald seine Füße den Boden berührten, drehte er, ohne sie zu bewegen, seinen Körper und verdrehte oder zerrte dadurch sein linkes Knie. Sofort spürte er in dem Gelenk einen fulminanten Schmerz, der etwa eine oder zwei Stunden andauerte, im Laufe des Tages aber wieder abnahm, sodass Herr A das Gelenk weiterhin den Umständen entsprechend bewegte. In der Nacht wurde er durch zunehmenden Schmerz geweckt und bemerkte, dass das Gelenk stark geschwollen war. Herr A, Bruder des Professors für Geburtshilfe an einer der führenden medizinischen Schulen Londons, erhielt daraufhin die beste chirurgische Beratung, die London zu bieten hatte. Man wies ihn an, das Knie ruhig zu halten und Wärme sowie Feuchtigkeit zu applizieren. Auf diese Weise gelang es ihm zwar, den Schmerz etwas zu mildern, die Schwellung blieb jedoch. Schließlich ließ er Herrn Hutton kommen, der sofort erklärte, das Knie sei »draußen«, und anbot, es wieder an seinen Platz zu bringen. Man vereinbarte zu diesem Zweck einen Termin, doch in der Zwischenzeit zog der Patient erneut bedeutende Chirurgen hinzu und schrieb an Hutton, er solle nicht kommen. Es vergingen zwei Jahre chirurgischer Behandlung, ohne dass sich etwas verbesserte. Schließlich ließ besagter Herr A erneut Herrn Hutton kommen, den ich bei diesem zweiten Besuch begleitete. Was ich dort beobachtete, machte einen starken Eindruck auf mich: Nach dem Entfernen des Verbandes sahen wir, dass das Gelenk stark geschwollen war und die Haut sich glänzend und farblos zeigte. Das Gelenk war unbeweglich und an der Innenseite sehr schmerzhaft. Sofort platzierte Herr Hutton seinen Daumen auf einen Punkt an der oberen Kante der inneren Femurkondyle. Der Patient zuckte bei dem Druck zusammen und klagte über große Schmerzen. Herr Hutton untersuchte das Bein nicht weiter, sondern fragte: »Was habe ich Ihnen vor zwei Jahren gesagt?« »Sie meinten, das Knie sei draußen«, erinnerte sich Herr A. »Und das sage ich Ihnen jetzt erneut«, antwortete Hutton. »Können Sie es wieder reinsetzen?«, fragte Herr A. »Das kann ich!« »Dann machen Sie es bitte«, sagte Herr A, wobei er ihm das Bein hinhielt. Herr Hutton wollte aber erst in einer Woche tätig werden. Er ordnete an, dass das Glied einstweilen in Packungen mit Leinsamenbrei gewickelt und mit Klauenöl eingerieben werden solle, vereinbarte einen Termin und verabschiedete sich. Während des Gesprächs hatte ich das Bein sorgfältig untersucht und mich davon überzeugt, dass keine Dislokation vorlag. Daher schloss ich, dass Ruhe und nicht Bewegung die hier angebrachte Behandlung sei. Nach Ablauf der Woche ging ich wieder zum Haus des Patienten und Herr Hutton kam kurz danach. »Wie geht es dem Knie?«, fragte er. »Es fühlt sich leichter an!« »Konnten Sie’s bewegen?« »Nein!« »Geben Sie es mir!« Das Bein wurde ausgestreckt und Hutton stand vor dem Patienten. Dieser zögerte und senkte sein Bein wieder. »Sie sind sich ganz sicher, dass es draußen ist und Sie es wieder einrenken können?« Es entstand eine Pause. Dann: »Geben Sie mir das Bein, wie ich sage!« Der Patient gehorchte widerstrebend und hob das Bein langsam in Huttons Reichweite. Dieser ergriff es mit beiden Händen um die Wade, wobei der ausgestreckte Daumen seiner linken Hand auf den schmerzhaften Punkt an der Innenseite des Knies drückte. Zudem hielt er den Fuß fest, indem er dessen Ferse zwischen seine Knie klemmte. Der Patient, dem gesagt wurde, er solle im Stuhl sitzen bleiben, hätte in diesem Augenblick wohl viel dafür gegeben, wenn er die Kontrolle über sein Bein wiedererlangt hätte. Herr Hutton neigte seine Knie nach rechts, womit er die Rotation einleitete, die er mit seinen Händen am Bein des Patienten ausübte. Er hielt mit dem Daumen einen festen Druck auf den schmerzhaften Punkt aufrecht – und flektierte das Knie dann plötzlich. Der Patient schrie auf vor Schmerz. Hutton senkte das Bein und bat Herrn A, aufzustehen. Dieser gehorchte und erklärte sofort, er könne sein Bein nun besser bewegen und der bisher schmerzende Punkt sei schmerzfrei. Er wurde angewiesen, täglich sanfte Übungen zu machen, und seine Genesung vollzog sich rasch und vollständig. Nach wenigen Tagen ging er wieder seinem Geschäft nach. Und bis zu seinem Tod, der drei Jahre später eintrat, blieb sein Knie vollkommen in Ordnung.
Der kostenlose Auszug ist beendet.