Entwicklungspsychologie

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Entwicklungspsychologie
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UTB 3287


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Prof. Dr. Werner Wicki lehrt an der Pädagogischen Hochschule Luzern.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3287

ISBN 978-3-8252-4475-0

© 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Lektorat/Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages:

Dr. med. Martina Steinröder

UTB-Basic: Grundlayout und Einbandgestaltung:

Atelier Reichert Stuttgart

Covermotiv: Jürgen Reichert

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Fotos im Innenteil:

Soweit nicht im Innenteil anders angegeben: © Werner Wicki

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1 Einführung

1.1 Wozu dient dieses Buch?

1.2 Was das Buch leistet

2 Theorien und Methoden der Entwicklungspsychologie

2.1 Theorien der modernen Entwicklungspsychologie

2.1.1 Theoretische Annahmen

2.1.2 Ökologische Entwicklungstheorie

2.1.3 Dynamische Systemtheorie

2.1.4 Anlage und Umwelt

2.2 Methoden

3 Frühe Kindheit

3.1 Wahrnehmung und Denken

3.1.1 Wahrnehmungsentwicklung

3.1.2 Frühe Kategorisierungsprozesse

3.1.3 Lernen und Gedächtnis

3.1.4 Objektkonstanz und Objektpermanenz

3.1.5 Kausales Denken

3.2 Sprachentwicklung in der frühen Kindheit

3.2.1 Vorsprachliche Kommunikation

3.2.2 Erste „Schritte“ in die Muttersprache

3.3 Motorik und Feinmotorik

3.3.1 Grobmotorische Entwicklung

3.3.2 Greifen, Legen, Werfen

3.4 Emotion, Motivation, Temperament und Bindung

3.4.1 Emotionale Entwicklung

3.4.2 Temperament

3.4.3 Bindung und Entwicklung

3.4.4 Temperament und Bindung

4 Mittlere Kindheit

4.1 Fortschritte der Sprachentwicklung

4.2 Kognitive Entwicklung

4.2.1 Wissen und induktives Denken

4.2.2 Kontrafaktisches und hypothetisches Denken

4.2.3 Deduktives Schließen

4.2.4 Inklusionsprobleme

4.2.5 Erhaltungsaufgaben

4.2.6 Gedächtnisentwicklung

4.2.7 Entwicklung mathematischer Kompetenzen

4.3 Soziale und emotionale Entwicklung

4.3.1 Emotionsregulation

4.3.2 Belohnungsaufschub

4.3.3 Theory of Mind

4.3.4 Zeitverständnis

4.3.5 Perspektivenübernahme

4.3.6 Prosoziales Verhalten und moralische Entwicklung

4.3.7 Entwicklung des Spielens

4.3.8 Geschwisterbeziehungen und Freundschaften

4.4 Entwicklung des Selbstkonzepts und der Geschlechtsidentität

4.4.1 Entwicklung des Selbstkonzepts

4.4.2 Entwicklung der Geschlechtsidentität

4.5 Feinmotorische und visumotorische Entwicklung: Zeichnen und Schreiben

5 Entwicklung in der Adoleszenz

5.1 Pubertät: Biologie, Folgen, Timing

5.2 Kognitive und motivationale Entwicklung

5.2.1 Denken und Problemlösen

5.2.2 Gedächtnis

5.2.3 Entwicklung von Interessen

5.3 Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz

5.4 Selbstkonzept und Identitätsentwicklung

5.4.1 Entwicklung des Selbst in der Adoleszenz

5.4.2 Identitätsentwicklung

5.5 Moralische Entwicklung

5.6 Soziale Beziehungen

5.6.1 Perspektivenkoordination

 

5.6.2 Familienbeziehungen

5.6.3 Peerbeziehungen und Freundschaften

5.6.4 Psychosexuelle Entwicklung

6 Entwicklung im Erwachsenenalter

6.1 Entwicklungspsychologie der Lebensspanne

6.2 Familienbezogene Übergänge

6.2.1 Kinderwunsch und Übergang zur Elternschaft

6.2.2 Geburt weiterer Kinder

6.2.3 Ehescheidung

6.3 Arbeitsbezogene Übergänge

6.3.1 Arbeitslosigkeit

6.3.2 Übergang in den Ruhestand

6.4 Alter

Glossar

Literatur

Sachregister

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Vorwort zur 2. Auflage

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches sind mehr als fünf Jahre vergangen – für die Entwicklungspsychologie mit ihrem enormen jährlichen Output an neuen Studien und Publikationen eine lange Zeit! Natürlich muss ein einführendes Lehrbuch meiner Meinung nach nicht alles, was publiziert wird, aufnehmen und integrieren. Vielmehr geht es darum, aus der Fülle der Studien und Ergebnisse die wegweisenden und die theoretisch besonders wertvollen auszuwählen, so dass die Einführung auf dem aktuellen Stand des Wissens bleibt, ohne sich in den Verästelungen des Fachs zu verlieren.

Nachdem die Rückmeldungen der Studierenden auf die erste Auflage erfreulich positiv waren, sah ich keine Notwendigkeit, das Buch in seiner strukturellen Anlage zu verändern. Dort aber, wo inhaltliche Ergänzungen zum Verstehen des Kindes und der/des Jugendlichen wichtig sind, habe ich diese vorgenommen. Solche Ergänzungen finden sich insbesondere in den Kapiteln zur mittleren Kindheit (zu den Themen deduktives und konditionales Schließen, autobiografisches Gedächtnis, intuitives mathematisches Wissen, Belohnungsaufschub, Theory of Mind, Zeitkonzept und moralische Entwicklung) und zur Adoleszenz (Arbeitsgedächtnis, Fuzzy-Trace-Theorie und falsche Erinnerungen, moralische Entwicklung und Emotionen, sexuelle Entwicklung, Internet und Identität).

Ich hoffe, dass das Buch weiterhin gute Dienste leisten wird, indem es Studienanfängern/-innen verschiedener Fachgebiete erste Schritte in die Entwicklungspsychologie ermöglichen und hoffentlich auch Interesse und Freude am Thema wecken kann.


Luzern, Juli 2015Werner Wicki

Vorwort

Als ich in den 1980er Jahren in Zürich Psychologie studierte und auch entwicklungspsychologische Vorlesungen besuchte, waren erst wenige deutschsprachige Lehrbücher auf dem Markt, die mir als Studienanfänger einen Überblick über die Entwicklungspsychologie hätten verschaffen können. Und die wenigen Lehrbücher, die es damals gab, wurden uns Studierenden nicht empfohlen – jedenfalls nicht in Zürich.

Daher kam es, dass ich erst einige Jahre später, als Assistent von Prof. August Flammer in Bern, die ganze Breite des Gebietes realisierte und erkannte, dass verschiedene theoretische Ansätze (relativ unberührt!) nebeneinander stehen.

Noch etwas später – als Dozent – wurde mir die ungeheure Fülle der empirischen Befunde gewisser entwicklungspsychologischer Forschungsbereiche bewusst. Ein Blick in die elektronischen Datenbanken ergibt beispielsweise für die Bindungsforschung der letzten 40 Jahre rund 7.000 (!) Publikationen in Fachzeitschriften.

Wie kann man da noch den Überblick behalten? Und wie kann man sogar ein Kurzlehrbuch über das gesamte Gebiet vorlegen wollen, wenn doch schon die Einzelgebiete so umfangreich sind? Das war in der Tat – neben der Zeit – die größte Herausforderung für mich. Und doch auch eine, die für all jene nützlich sein kann, die zuerst einmal die großen Linien, die elementaren Befunde kennen lernen möchten, bevor sie in die vielen Verästelungen eintauchen, die sich anbieten. Das sind auf der einen Seite die Studienanfänger in Psychologie und Pädagogik, auf der anderen Seite Studierende weiterer Fachbereiche, wie Lehrberufe, Soziale Arbeit etc., für die wissenschaftlich fundierte Grundlagen der menschlichen Entwicklung wichtig sind.

Viele haben zu diesem Buch beigetragen: Meine eigenen Kinder, die mich viel über Entwicklung gelehrt haben, meine Frau Andrea Bütikofer, die mich in dieser Arbeit mit Rat und Tat unterstützt hat, meine Studierenden mit ihren Fragen und dem Anspruch auf gute (oder wenigstens unterhaltsame) Vorlesungen und mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten sowie meine früheren und gegenwärtigen Mitarbeitenden in empirischen Forschungsarbeiten.


Luzern, Dezember 2009Werner Wicki

1 | Einführung

1.1 | Wozu dient dieses Buch?

Dieses Lehrbuch gibt Studienanfängern in Psychologie, Pädagogik und weiteren Disziplinen einen ersten Einblick in den aktuellen Stand der Entwicklungspsychologie. Fortgeschrittenen Studierenden kann es auch als Repetitorium im Hinblick auf Prüfungen dienen.

Entlang der vorgestellten zentralen psychomotorischen, kognitiven und sozioemotionalen Entwicklungsphänomene von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter werden auch die jeweiligen Entwicklungsvoraussetzungen und -bedingungen diskutiert. Damit soll die menschliche Entwicklung nicht nur nachvollziehbar, sondern auch verständlich werden.

Als kompaktes Lehrmittel will das Buch sowohl dem Bedürfnis der Studierenden als auch dem der Dozierenden nach einer Einführung entgegenkommen, die sich auf die wesentlichsten bis heute gültigen Erkenntnisse – eben die „Basics“ – der Entwicklungspsychologie beschränkt.

1.2 | Was das Buch leistet

Nach einer kurzen theoretischen Einführung (→ Kap. 2) orientiert sich die weitere Gliederung des Buches an den bekannten Entwicklungsquerschnitten. Die vorgeburtliche Entwicklung wird im, die ersten drei Lebensjahre umfassenden, Kapitel 3 (Frühe Kindheit) mitbehandelt. Das Kapitel 4 (Mittlere Kindheit) bezieht sich auf die Zeitspanne vom vierten bis zum 10. Lebensjahr, das Kapitel 5 (Adoleszenz) auf das zweite Lebensjahrzehnt und das Kapitel 6 (Erwachsenenalter) auf die weitere Entwicklung bis ins hohe Alter.

Innerhalb der einzelnen Kapitel orientiert sich die Darstellung aus didaktischen Gründen an den bekannten Funktionslängsschnitten (Wahrnehmung, Denken, Problemlösen, Gedächtnis, Bindung, soziale Entwicklung etc.), die soweit möglich immer wieder aufeinander bezogen werden, da eine isolierte Betrachtung von Funktionen ein ganzheitliches Verständnis der menschlichen Entwicklung verhindert.

Die selbstauferlegte inhaltliche Beschränkung dieses Buches auf die wichtigsten entwicklungspsychologischen Erkenntnisse birgt natürlich die Gefahr einer unzulässigen Verkürzung und Vereinfachung der dargestellten Inhalte in sich. Die Leserinnen und Leser werden deshalb an verschiedenen Stellen auf mögliche Vertiefungspfade hingewiesen: auf Untersuchungen, grundlegende Experimente und vor allem auf weiterführende Literatur, die für das weitere Studium des Fachs hilfreich ist.

2 | Theorien und Methoden der Entwicklungspsychologie

Inhalt

Dieses Kapitel beginnt mit einigen theoretischen Annahmen der modernen Entwicklungspsychologie und bietet einen Überblick über die aktuellen Theoriefamilien.

Zwei Theorien werden in diesem Kapitel näher vorgestellt: die ökologische Entwicklungstheorie und die dynamische Systemtheorie. Weitere Theorien (z.B. die Bindungstheorie) werden im Rahmen der Altersquerschnitte (→ Kap. 3–6) skizziert.

Der erste Teil des Kapitels schließt mit einigen Bemerkungen zum Verhältnis von Anlage (Genen) und Umwelt. Der zweite Teil des Kapitels enthält eine knappe Darstellung der wichtigsten Forschungsmethoden, was nicht zuletzt das Verständnis der in diesem Buch referierten Forschungsbefunde unterstützen soll.

2.1 Theorien der modernen Entwicklungspsychologie

2.1.1 Theoretische Annahmen

2.1.2 Ökologische Entwicklungstheorie

2.1.3 Dynamische Systemtheorie

2.1.4 Anlage und Umwelt

2.2 Methoden

2.1 | Theorien der modernen Entwicklungspsychologie

Definition

Die Entwicklungspsychologie befasst sich mit den psychologischen Veränderungen (und Stabilitäten) im Lebenslauf.

Sofern die individuelle Entwicklung gemeint ist, spricht man von Ontogenese, der Begriff Phylogenese bezieht sich hingegen auf die Stammesgeschichte, die Veränderungen einer Spezies im Verlauf der Evolution.

2.1.1 | Theoretische Annahmen

Während der Zeitspanne von der Geburt bis ins Jugendalter verändern sich Psyche und Verhalten von einem einfacheren, weniger kompetenten zu einem komplexeren bzw. kompetenteren Zustand, zum Beispiel beim Übergang von der vorsprachlichen Kommunikation im ersten Lebensjahr zum Gebrauch von Wörtern ab dem zweiten Lebensjahr.

Entwicklung im Erwachsenenalter

Spätestens ab dem Erwachsenenalter ist eine Kompetenzzunahme zwar noch möglich, aber nicht mehr die Regel (Staudinger/Schindler 2008). Die Veränderungen bestehen nun oft nur noch in einer Auswahl zwischen Handlungsoptionen oder in der Kompensation von Kompetenzen, die verloren gegangen sind (etwa der Merkfähigkeit im hohen Alter).

variante vs. invariante Abfolge

Die Reihenfolge der einzelnen Entwicklungsschritte – wie etwa bei der Sprachentwicklung die Wörter, die das Kind spricht, und die Abfolge der grammatischen Strukturen, die es ab dem zweiten und dritten Lebensjahr erwirbt – sind allerdings interindividuell variabel und es kann auch sein, dass eine bereits erworbene Kompetenz vorübergehend wieder verloren geht (Thelen/Smith 2006).

Qualität und Quantität

Entwicklung kann qualitativer oder auch quantitativer Natur sein. Eine qualitative Veränderung besteht am Beispiel der Sprachentwicklung im korrekten Gebrauch von Symbolen im Vergleich zur vorsprachlichen Kommunikation.

 

Als quantitative Veränderungen können z.B. die sukzessive Zunahme des Wortschatzes ab dem 2. Lebensjahr (Szagun 2013) oder die der Gedächtnisspanne im Verlauf der Kindheit betrachtet werden (Schneider/Lindenberger 2012).

Entwicklung muss also längst nicht immer stufenförmig verlaufen. Man muss heute im Gegenteil feststellen, dass sich viele Stufenkonzepte, die bisher postuliert wurden, empirisch nicht besonders gut bewährt haben. Bei der stufenförmig konzipierten Entwicklung der moralischen Argumentation fand man zum Beispiel Jugendliche, die im Verlauf der Zeit „Rückschritte“ machten (also im Zeitvergleich auf einer tieferen Stufe argumentierten), was streng genommen in einer Stufentheorie nicht vorkommen sollte (Smetana/Turiel 2006).

kulturelle Variabilität

Schließlich geht man heute auch davon aus, dass die individuelle Entwicklung nicht nur vom individuellen Kontext, also Familie, Freunde, Arbeitsplatz etc. (Bronfenbrenner 1981), sondern insgesamt von der Kultur beeinflusst wird (Markus/Kitayama 1991; Shweder et al. 2006). Als nützlich hat sich in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen proximalen (nahen) und distalen (weiter entfernten, indirekten) Faktoren erwiesen.

Definition

Die proximalen Faktoren, z.B. die Fürsorge und Wärme der Eltern, wirken direkt auf die Entwicklung des Kindes ein (Ainsworth et al. 1978).

Distale Faktoren, wie z.B. Überzeugungen und Gesetze in einer Kultur zur Körperstrafe (Gershoff 2002), wirken indirekt, z.B. vermittelt über Geschwister, Lehrpersonen, Eltern.

Während der Einfluss der Kultur in Bereichen wie der Kommunikation oder der Familienentwicklung offensichtlich ist, hat sich die Erkenntnis, dass auch Kognition, Emotion und Motivation kulturellen Einflüssen unterworfen sind, bis heute viel weniger durchgesetzt. Alle modernen Entwicklungstheorien können einer der beiden großen Theoriefamilien zugeteilt werden (Montada 2008):

Selbstgestaltungstheorien betrachten den Menschen als Produzenten seiner eigenen Entwicklung. Dieser Gruppe sind die strukturgenetischen Theorien von Piaget, Kohlberg, Fischer und Case zuzuordnen (vgl. Flammer 2008). Das Individuum entwickelt sich aufgrund eines selbstgesteuerten Konstruktionsprozesses. Der Umwelt kommt hierbei keine oder nur eine geringe Steuerungsfunktion zu, auch wenn sie dem jeweiligen Entwicklungsstand mehr oder weniger angemessene Anregungen liefert, die vom Individuum aber erst aufgegriffen und verwertet werden müssen.

Die interaktionistischen Theorien, die heute dominieren, konzeptualisieren sowohl die Umwelt als auch das Subjekt als aktiv-gestaltend. Mensch und Umwelt werden hierbei als Teilsysteme betrachtet, die im Austausch stehen und sich gegenseitig beeinflussen. In diese Gruppe gehören u. a. das ökologische (Bronfenbrenner 1981) und das systemtheoretische Modell der Entwicklung (Thelen/Smith 2006) sowie die Lebenslaufperspektive (Elder/Shanahan 2006) und die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Baltes et al. 2006). Man kann sicher auch die im Kapitel 3 (Frühe Kindheit) erläuterte Bindungstheorie und die Familienentwicklungstheorien (→ Kap. 6) dieser Theoriefamilie zuordnen.

Auf zwei interaktionistische Theorien gehe ich im Folgenden noch etwas näher ein (→ Kap. 2.1.2f).

2.1.2 | Ökologische Entwicklungstheorie

Die Interaktion zwischen Menschen ist in vielerlei Hinsicht das zentrale Element jeder psychischen Entwicklung.

Definition

Für Bronfenbrenner (1981) besteht eine Dyade darin, dass „zwei Personen einander bei ihren Aktivitäten beobachten oder die eine sich an denen der andern beteiligt“.

Bronfenbrenner unterscheidet nach ihrem Potenzial, die Entwicklung zu fördern, drei verschiedene Dyadenformen:

(1) Beobachtungsdyaden,

(2) Dyaden gemeinsamer Tätigkeit und

(3) Primärdyaden.

Primärdyaden sind ebenfalls Dyaden gemeinsamer Tätigkeit. Sie sind jedoch zeitlich überdauernder und bestehen auch bei vorübergehender Trennung weiter.

Nach dieser Definition sind Arbeitsbeziehungen und Lehrer-Schüler-Beziehungen Dyaden gemeinsamer Tätigkeit, während z.B. Freundschaften und Familienbeziehungen Primärdyaden sind.

Mikrosysteme

Die individuelle Entwicklung wird nach dieser Theorie durch längerfristige und verbindliche Tätigkeiten und soziale Interaktionen in auf Dauer angelegten sozialen Gruppen (Familie, Schule, Krippe, Betrieb) ermöglicht und vorangetrieben. Solche Gruppen werden als Mikrosysteme bezeichnet (Bronfenbrenner 1981).

Mesosysteme und Exosysteme

Nach Bronfenbrenner (z.B. 1990) sind nun die Veränderungen der Entwicklungskontexte einer Person für die Entwicklung (Ontogenese) besonders bedeutsam. Diese bestehen einerseits in Veränderungen in der Zusammensetzung der Mikrosysteme (z.B. Geburt eines Kindes), andererseits in der Erschließung neuer Mikrosysteme (z.B. Schuleintritt) und in der Verbindung bisher unverbundener Mikrosysteme, an denen ein Individuum beteiligt ist.

Beziehung zwischen Mikrosystemen, an denen eine Person direkt beteiligt ist (z.B. aus der Perspektive des in der Kinderkrippe betreuten Kindes: die Beziehung zwischen Krippe und Familie), bezeichnet Bronfenbrenner als Mesosystem. Die Beziehung zwischen (zwei) Systemen, an denen eine Person nur teilweise beteiligt ist, nannte er Exosystem.

Diese Unterscheidung ist bedeutsam: Während z.B. ein Vater an einem System (Familie) beteiligt ist, ist er ggf. vom anderen System, an dem ein anderes Mitglied seines Mikrosystems teilnimmt, z.B. von der Kinderkrippe, ausgeschlossen. Durch vermehrten Kontakt mit der Kinderkrippe, d.h. mit dem Aufbau einer mesosystemischen Beziehung, könnte er die Entwicklungsanregungen der Krippe nachvollziehen und diese in seinem Spiel mit dem Kind berücksichtigen. Die „Umwandlung“ exosystemischer in mesosystemische Beziehungen ist somit nach dieser Theorie für die kindliche Entwicklung ausgesprochen relevant.