Die Geburt der Eidechse

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Die Geburt der Eidechse
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Werner Posselt

DIE GEBURT DER

EIDECHSE

Kleine Geschichten aus verschiedenen Zeiten und

Sphären (manche östlich gefärbt)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016


Werner Posselt

Geboren am 27. 1. 1944 in Gablonz (Sudetenland), Besuch der Polytechnischen Oberschule in Zörbig(Sachsen-Anhalt), Elektriker, Soldat, Student, Lehrer und Freizeitpädagoge in Halle/​Saale, Wredenhagen und Malchow (Mecklenburg), jetzt im Ruhestand. Der Autor wohnt in Wredenhagen (Mecklenburg).

Veröffentlichungen:

  „Von den Leuten hinterm Deich“

 Gedichte in „Lyrik und Prosa unserer Zeit“

 „Komm doch ein Stück mit – c’est la vie“ Kurzgeschichten und Gedichte

 „Die Zeit fliegt uns davon“ (Gedichte aus dem Pappkarton)

  „Die Bachstelze auf dem Glasdach“

  „Tiere sind oft Menschen ähnlich“

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Orte und Handlungen sind nicht immer identisch.

Die Personen sind frei erfunden.

Eventuelle Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Illustrationen: Manfred Zeising

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Ich widme dieses Buch meinen langjährigen Freunden

Manfred Zeising und Bernd Noack.

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Vorwort

Die Geburt der Eidechse

Zwischen Himmel und Erde

Brancos Belohnung

Ehrensache auf dem Trödelmarkt

Zwei schwarze Malven

Die Dame mit dem gelben Hut

Für die, die am Fenster stehen

Mein Wiesengarten

Traumes Grüße

Die Narbe unterm Fuß

Maiandacht

Die Erstürmung der Höhe 77 fiel aus

Eine Prüfung

Und plötzlich war alles so anders

Wachsmanns Abschied und der Abschied von der Antonia und so weiter

Erinnerung an eine kuriose Dienstfahrt nach X

Ankunft in Brohnim

Nach Dienstschluss unter Männern

Die Katze

Die erstaunliche Karriere eines Provisoriums

Ein Pfingstessen bei Pastor Leberecht

Ein Solist

Zwei Raben und drei Lehren

So, wie in allen Geschichten der Geschichte

Ein bisschen gaga oder Carolines Beitrag zur Erhöhung der Lebensqualität

Halbe-halbe

Tägliche Ermahnung

Ein wenig stolz

Der Zausel

Die Schreie der Fische

Die Plage mit Conrad

Bardot No 9 und das allerletzte Tütchen Brausepulver

Sisyphus

Letzte Rast vor dem Ziel

Vorwort

Sage hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Hatte ich nicht angekündigt, dass du durch verschiedene Zeiten und Sphären musst? Also, es geht schon ein bisschen hin und her, hoch und runter, vor und zurück. Und doch gibt es zwischen den Geschichten und Episoden Gemeinsamkeiten, die sich meist darin äußern, dass sie den Gedanken „Und plötzlich war alles so anders“ bestätigen.

Falls sich Widersprüche zu deinem eigenen Erleben auftun, lass sie ruhig zu, denn so viele Menschen es gibt, so viele subjektive Erfahrungen gibt es ebenfalls. Und wenn du da und dort nachdenklich wirst, ist das durchaus beabsichtigt.

Die Geburt der Eidechse

Die beiden Kinder spielen am flachen Seitenhang der ehemaligen Sandgrube. Daneben der alte Kornspeicher liegt seit Jahren still. Überhaupt ist es im Dorf viel stiller als früher. Ach nein, das stimmt ja gar nicht! Im Gegenteil, lauter ist es geworden. Der Durchgangsverkehr hat zugenommen, vor allem die Holzlaster erschüttern die alten Häuser. Stiller ist es nur zwischen den Menschen.

Die beiden Kinder kennen den Unterschied zu früher nicht. Wie sollten sie auch? Darius und Maria heißen die beiden und sind Geschwister. Er ist sechs und sie neun.

Sie spielen also, buddeln im Sand und die Sonne wärmt angenehm. Plötzlich schreit Darius: „Mensch, eh, ich habe ein Ei gefunden!“ Vorsichtig hält er es in der hohlen Hand und balanciert es zu seiner Schwester.

Maria staunt: „Wie kommt denn ein Ei hierher? Und wie klein das ist! Zeig mal!“ Vorsichtig mit zwei Fingern übernimmt sie es. Und kaum hat sie es auf ihre Handfläche gelegt, springt es auf und eine winzige Eidechse windet sich heraus.

„Mann oh!“, ruft Darius und staunt.

Maria aber sagt: „Oh Gott, wie schön!“ Sie kniet sich auf den Boden und lässt das kleine Wesen aus der Hand gleiten. Beide beobachten, wie es sich davonmacht. Maria sagt noch: „Da ist schon alles dran wie bei einem Menschen, aber Babys müssen erst laufen lernen.“

Dann eilen sie heim, um es der Mutter zu erzählen. Maria, die schon schreiben kann, will es Papa berichten, der jetzt bei Bremen wohnt, irgendwo, vielleicht.


Zwischen Himmel und Erde

Mit Fieber liegt sie im Schlafzimmer. Die Grippe hat sie erwischt. Im Alter kann Grippe besonders gefährlich werden, das weiß sie. Doch sie glaubt, dass nun das Schlimmste überstanden ist, fühlt sich aber sehr geschwächt.

Viel geschlafen hat sie und gefiebert. Hin und wieder ist sie aufgestanden, hat sich gründlich gewaschen. Und viel getrunken hat sie. Man soll viel trinken, auch das weiß sie.

Während sie also in ihrem Bett liegt, kommen ihr zwischendurch so manche Gedanken, sehr abstruse zuweilen, die sich in ihren Fieberträumen fortsetzen.

Das Bett neben ihr ist leer. Es ist Gernots Bett. Er ist vor zwei Jahren nach einem Schlaganfall gestorben und sie brauchte lange Zeit, um sich an das Leben ohne ihn zu gewöhnen. Irgendwie ist er trotzdem immer noch da. Ja, irgendwie.

 

Wenn sie vom Bett aus durchs Fenster blickt, sieht sie den oberen Teil des alten Stallgebäudes. Tiere gibt es darin längst nicht mehr, höchstens Mäuse. Inzwischen kennt sie jeden Backstein der Vorderfront. Ihre Augen sind noch recht gut. Auch bei ihrer Mutter waren die Augen bis ins hohe Alter in Ordnung, daran erinnert sie sich. Die war über neunzig, als sie starb, und geistig rege bis zuletzt.

Sie, Maria, hofft auch darauf, geistig rege zu bleiben. Ihren beiden Töchtern hat sie eingeschärft: „Wenn ihr feststellt, dass ich dement bin, dann bringt mich ins Heim.“ Sie hat zu den Töchtern volles Vertrauen, doch bei ihnen leben und ihnen zur Last fallen? Niemals!

Nun liegt sie also wach und blickt zum Stalldach und sieht die beiden Bäumchen, die sich in der Dachrinne angesiedelt haben. Gernot hat die Rinne vor sieben Jahren das letzte Mal gesäubert. Inzwischen hat sich da allerhand Kram, meist Laub, angesammelt und ist zu Erde geworden. Ein eigenständiges Biotop hat sich gebildet. Und die beiden Bäumchen scheinen sich dort oben recht wohlzufühlen.

Das Stämmchen der Birke will schon weiß werden. Die war auch eher da als die kleine Fichte. Eigentlich sehen sie hübsch aus, die beiden, doch sie sind so verschieden. Und sie sinniert weiter: So verschieden waren auch wir, der Gernot und ich. Natürlich sind Mann und Frau immer verschieden, biologisch gesehen. Aber vom Temperament und von der Lebensauffassung her passten wir überhaupt nicht zusammen. Er plagte sich stets mit Selbstvorwürfen, nie war er so richtig mit sich zufrieden, nie war ihm das, was er geschaffen hat, vollkommen genug. Sie hingegen fand kaum einen Mangel an seinen Arbeiten. Und wenn etwas zweckmäßig war, dann war es gut, gut genug.

Er war einer von denen, die immer bauen und schrauben mussten. Der Baumarkt war sein Paradies. Das ging ihr manchmal ganz schön an die Nerven. Als er mit dreiundsiebzig noch das alte Stallgebäude verklinkern wollte, ist sie ausgerastet. Sie mochte den ganzen Erneuerungswahn, wie er nach dem Umschwung eingesetzt hatte, nicht.

Am anderen Ende der Stadt hatten sie eine Siedlung hingesetzt. Lauter Klinkerhäuser unterschiedlicher Typen und doch alle wie uniformiert. Die sehen aus wie eine Ansammlung neudeutscher Apotheken. Und auch die Leute dort ähnelten den Apothekern aus dem Werbefernsehen. Um Gottes willen!

Sie liebte das Vertraute. Und das Stallgebäude war ihr vertraut und das sollte so bleiben. Bei dem Streit hat sie sich mächtig im Ton vergriffen, sich aber durchsetzen können. Kümmelzähler hat sie Gernot genannt und Pinschieter.

Doch seit diesem Tag war Gernot nicht mehr der alte. Es fraß in ihm. Seine Lebensphilosophie war angeknackst. Schon während des Streites war er erblasst. Dann sagte er nichts mehr und ging für ein paar Stunden aus dem Haus. Und als er wieder zurückkam, war er sehr einsilbig. Das ging noch eine Woche so weiter, dann der Schlaganfall. Sie war nicht zu Hause, hatte auf dem Kreisamt zu tun, musste dort eine Unrichtigkeit aufklären. Und als sie heimkam, lag er im Bad und rührte sich nicht. Der Notarzt stellte den Schlaganfall fest. Auf der Fahrt in die Klinik war Gernot verstorben. Mein Gott, hat sie das damals umgeworfen! Und was hat sie sich für Vorwürfe gemacht.

Das ist jetzt zwei Jahre her und nun liegt sie hier mit Grippe, allein. Schaut auf die beiden Bäumchen im Dachrinnenbiotop und denkt: Die sind so verschieden wie er und ich und trotzdem sind sie zusammen. Das Schicksal hat sie zusammengetan. Und jetzt stürzen ihr die Tränen aus den Augen, obwohl sie eigentlich nicht so dicht am Wasser gebaut hat. Es ist ihr, als hätte sie jemand in ihrem Kopf angestellt, worüber sie sich hintergründig wundert. Hat sie nicht mit ihrer Trauer längst abgeschlossen? Kann man überhaupt mit seiner Trauer abschließen? Diese Frage geht ihr plötzlich durch den Kopf und sie erinnert sich an so viele Liebenswürdigkeiten, die der Mann ihr entgegengebracht und die sie doch so oft, allzu oft, mit einer gewissen Geringschätzung abgetan hat. All ihre Vorstellungen bei den Renovierungsarbeiten im und am Haus hat er erfüllt und war nie zufrieden, weil er es sich noch besser, noch vollkommener wünschte, ihr zuliebe. Ihr zuliebe oder doch eher sich zuliebe? Das konnte sie nie so recht ergründen. Er handelte eben nach anderen Maßstäben. Sie hat das erst sehr spät erkannt.

Nun wieder der Blick auf Fichte und Birke. Die leben zwischen Himmel und Erde, denkt sie. Gernot befindet sich unter der Erde und ich noch auf ihr. An Himmel und Hölle glaubt sie nicht, es sei denn als Gleichnis für Freude und Leid. Und der Tod, was ist der? Er ist, wenn man leiden muss, die Erlösung. Davon ist sie fest überzeugt. Angst vor dem Tod hat sie längst keine mehr, denn der gehört zum Leben wie einst die Geburt.

Die beiden Bäumchen sollten dort nicht bleiben, denn lange können sie es nicht mehr aushalten. In den heißen Sommern werden sie verdorren. Die Fichte nicht so schnell, die Birke aber bald. Die müssen dort runter, auf die Erde müssen sie, hier gehören sie her.

Es fällt ihr ein, wie sie als Kind und auch als Teenager auf die höchsten Bäume geklettert ist. Mancher Junge hat sich das nicht getraut. Oh, man hat sie sehr bewundert damals, nur Mutter hat gemeckert, Vater war eher stolz auf sie.

Ob sie die Bäumchen herunterholen sollte? Mein Gott, im nächsten Jahr wird sie achtundsiebzig, da klettert man doch nicht mehr auf langen Leitern herum. Sie schätzt die Höhe des Stallgebäudes bis zur Dachrinne. Das sind höchstens sieben Meter. Was sind schon sieben Meter, denkt sie, die Linde damals war doch doppelt so hoch, mindestens. Und da war sie ganz oben.

Ja, sie will die Bäumchen retten und zum Wolfsgrund tragen.

Damals, als sie hergezogen sind, haben sie vom alten Förster die Erlaubnis bekommen, von dort zwei kleine Birken zu holen, um sie auf dem kahlen Hof einzupflanzen. Beide wuchsen schnell in den Jahren, wurden groß und mächtig. Und wenn sie im Frühling ihr frisches Grün zeigen, sind sie besonders schön.

Gernot sagte einmal: „Die beiden Birken, das sind wir.“ Und er bestimmte, dass er die etwas größere sei, denn er war einen Kopf größer als sie, Maria.

Und nun wird sie also zwei junge Bäumchen aus der Dachrinne zum Wolfsgrund tragen und dort einpflanzen: eine Fichte und eine Birke. Und jedes Jahr, so Gott will, wird sie nachschauen und dabei an Gernot denken. Und diesmal soll er die Birke sein und sie die Fichte, das legt sie einfach fest.

Ja, das nimmt sie sich vor. Und plötzlich spürt sie eine wohlige Müdigkeit und schläft ein.

Brancos Belohnung

Sie sind zu Besuch im Seniorenheim Lindenhof, Branco und seine Mutter. Die alten Herrschaften sitzen beim Nachmittagskaffee im geräumigen Speisesaal. Branco und seine Mutter haben sich zu Oma Hilde an den Tisch gesetzt.

Oma Hilde, siebenundachtzigjährig, ist schon drei Jahre hier. Wegen ihrer Osteoporose geht sie an zwei Stöcken. Sie kann nur sehr langsam gehen. Und nun stehen die Stöcke an die Wand gelehnt.

Branco, der Zwölfjährige, langweilt sich. Er möchte etwas unternehmen, doch es will ihm nichts einfallen. Mit seinem schief sitzenden roten Basecape findet ihn seine Mutter so lausbübisch, wobei sie diesen Ausdruck meiden würde. Sie sagt jetzt immer „geil“. In amerikanischen Fernsehfilmen sehen die Kids, wie man heutzutage statt Kinder sagt, so aus.

So lümmelt Branco zunächst am Tisch herum und hört den larmoyanten Gesprächen zu. Schaut auch zu den anderen Tischen und gähnt ungeniert. Dann entschließt er sich doch, aufzustehen und die beiden Gehstöcke genauer zu betrachten. Der eine hat einen gebogenen Griff, der andere einen geraden. Beide liegen gefällig in der Hand, stellt er befriedigt fest.

Branco ist groß und schwer, für sein Alter viel zu schwer. Und schwammig. Er probiert, wie es sich mit diesen Stöcken geht. Die Mutter mahnt, er solle das doch lassen, denn das gehöre sich nicht. Und Oma Hilde sagt: „Lass die stehen, mein Junge. Sei froh, dass du keine brauchst!“ Dabei schickt sie einen Blick auf die, ihrer Meinung nach, dämliche Mütze, sagt aber nichts dazu. Sie ist froh, Besuch zu haben.

Ach, Branco ist es so langweilig. Er hört nicht auf die beiden. Er geht mit den Stöcken ein paar Meter hin und her, bis die Mutter wieder mahnt. Und wenn er das nicht unterließe, bekäme er heute keinen Döner.

Branco weiß, dass diese Drohung so gut wie nichts bedeutet. Also treibt er sein Spiel weiter.

Da er sich aber eigentlich gar nicht so gern bewegt, benutzt er nun die beiden Stöcke als Stützen. Er will ein Stück vom Boden abheben, um gegebenenfalls hin und her zu schwingen. Also stützt er sich auf, seine Köpermasse unterschätzend, und mit einem lauten kurzen Knacken bricht der waagerechte Handgriff.

Der Junge stürzt schwer auf die Fliesen. Sein Geschrei ist so laut und jämmerlich, dass sofort alle zusammenlaufen. Ein in der Nähe befindlicher Pfleger will ihm aufhelfen, doch Branco ist schwer wie ein Sack. Ein zweiter Pfleger greift zu. Der Junge wimmert nur noch, sonst ist alles still. Und in diese Stille hinein sagt Oma Hilde mit tiefer, krächzender Stimme: „Siehste, da haste de Strafe! Warum kannste nicht hörn.“

Als er durch den Tränenschleier auf Oma Hilde blickt, bemerkt er, dass die ungewöhnlich dünn ist. In seinem Kopf bildet sich rächend eine Erwiderung, die er sich aber, ahnend, dass sie augenblicklich nicht hierherpasst, verkneift. Er konserviert sie in seinem breiten Schädel. Zum Glück im Unglück befindet sich direkt neben dem Seniorenheim das Kreiskrankenhaus. Dort führt man ihn hin und er wird geröntgt und gegipst. Diagnose: Bruch des linken Handgelenks.

Hinterher gehen sie dann doch noch zum Türken. Sie setzen sich an einen der Sprelacarttische. Weil Branco heute so leiden musste, bestellt die Mutter diesmal den Superdöner und dazu eine große Cola. Natürlich! Hoffentlich kann der Arme wenigstens essen.

Die Mutter sagt: „Die Hilde hätte die Stöcke besser auf ihrem Zimmer lassen sollen, die wusste doch, dass wir kommen.“

Branco nickt heftig und sagt: „Die alte, dürre Krähe, die!“

Die Mutter entgegnet tadelnd: „Na, na, na!“ – und lächelt nachsichtig.

Doch da kommt der Wirt mit dem Superdöner und der Cola und wünscht: „Guten Appetit!“

Ehrensache auf dem Trödelmarkt

Hier herrscht die reinste Marktwirtschaft, allerdings keine liberale, sondern eine echt soziale. Wie lange noch? Wir hoffen, für immer.

In einer riesigen Feldsteinscheune, der größten Deutschlands, wie auf einem Schild am Eingang zu lesen ist, findet allmonatlich der Flohmarkt (Entschuldigung, der Trödelmarkt) statt. Trödelmärkte sind die Wundertüten der Gesellschaft.

Zum Beispiel: Du findest an einem Stand ein hübsches Gläschen, es steht dort fast unbeachtet abseits, weil größere Objekte die Blicke der Kunden fangen sollen, dunkelgrün ist es vielleicht und kleine Luftbläschen sind eingeschlossen. Und wenn du kundig bist, erfühlst du an einer Stelle des Bodens ein kleines Wunder. Wenn du dieses kleine Etwas erfühlt hast, lacht dein Herz, doch musst du jetzt ganz ruhig bleiben und den Händler so ganz nebenbei fragen, wobei in deiner Stimme ein wenig Geringschätzung schwingen sollte.

„Was soll denn das Ding kosten?“

Und wenn er keine Ahnung hat, könnte er sagen: „Drei Euro kriege ich.“

Entweder du handelst jetzt noch einen Euro runter oder gibst dich knurrend mit dem Preis des Händlers einverstanden.

Ich sage dir, das wäre für dich das Geschäft des Tages gewesen, denn du hättest ein fast zweihundertjähriges Biedermeierschätzchen erworben, für das man im richtigen Antiquariat zirka hundert Euro hinlegen müsste.

Natürlich läuft das nicht jedes Mal so. Jedenfalls kannst du hier, wie man im Trödelmarktjargon sagt, Furz und Feuerstein kaufen. Hier bekommst du viel, wenn auch nicht alles, was du suchst, denn was du suchst, bekommst du meist nicht, dafür manches, was du eigentlich gar nicht gesucht hast. Klingt komplizierter, als es ist, macht aber Spaß.

Ich bin immer dabei. Nicht so sehr als Käufer, eher als Händler. Ich handle mit Uhren und Schmuck und Raritäten. Alles antik, versteht sich, jedenfalls geht es meist in diese Richtung. Rentner bin ich und wäre ich das nicht, dann Sozialhilfeempfänger oder Hartzvierer. Wir sind alle die gleichen Typen. Ich meine innerlich, sozusagen.

Die Käufer, oder sagen wir: die Kunden, sind sozial vielschichtiger. Sollen die auch sein, Hauptsache, sie bringen Knete mit. Trödelmarkteinkünfte sind Nebenerlöse, die fallen beim Finanzamt nicht ins Gewicht, dafür müssen wir ja Standgebühren bezahlen und die muss man erst wieder reinholen, dann ist man aus dem Gröbsten raus.

 

Also baue ich am Freitagabend meinen Stand schon auf, damit es am Samstag und Sonntag richtig brummen kann. Nachts wird hier abgeschlossen von Harald, der ist der Chef hier. Was der sagt, wird gemacht, sonst brauchst du gar nicht mehr wiederkommen.

Eingebrochen wurde bisher kaum. Doch, einmal, da wurden alte Knarren geklaut, aber die waren zugeschweißt, damit hätte man noch nicht mal mehr in die Luft schießen können. Wer die geklaut hat, dem fehlt ein Rad am Wagen. Nein, mit solchem Dreck würde ich nie handeln!

Letztens, während ich aufbaute, kam die Porzellan-Hilde zu mir. Die verscheuert alte Kaffeekannen und Kram aus Haushaltsauflösungen und fragt, ob ich schon wüsste, dass der Bücher-Bolle den Krebs hätte.

„Nee“, sage ich, überrascht und erstaunt, „der ist doch heute gar nicht hier!“

„Eben“, sagt sie, „das ist doch wegen dem Krebs! Magenkrebs!“

Ich bin erschüttert, echt! Der Bücher-Bolle und Magenkrebs.

Sie hält die Hand halb vor den Mund und sagt: „Schlimm, schlimm, das weeß ich von meine Schwester. Aber die hats jeschafft.“

„Und wer weiß noch davon?“, frage ich.

„Na, alle doch“, sagt sie und geht mit bekümmertem Gesicht weiter.

Und ich packe weiter aus und denke an Bolle. Seit über dreißig Jahren kenne ich ihn. Ich war mal sein Ausbilder. Er war Lehrling in meiner alten Firma. Fleißig, gutwillig, freundlich, jetzt, wie so viele, Hartzvierer.

Auf dem Trödelmarkt haben wir uns wiedergetroffen, mit großer Freude und großem Hallo, und ich bot ihm gleich das Du an. Es fiel ihm anfangs schwer, sich dazu durchzuringen, aber es klappte bald und wir waren oft Standnachbarn.

Er handelt hauptsächlich mit Büchern, doch hat er auch allerlei anderen Krimskrams. Manchmal ging ich zu ihm, um mich beraten zu lassen, und hatte er eine alte Uhr, fragte er mich, was man dafür nehmen könnte. Auch kauften wir zu günstigen Preisen voneinander ab. Dies gilt aber für alle Händler hier: Man kauft und verkauft untereinander zu Vorzugspreisen und überhaupt, man tut sich jeden Gefallen. Muss man seinen Stand aus irgendeinem Grund mal verlassen, etwa um selbst einen kurzen Bummel zu machen oder eine zu rauchen, dann passen die anderen auf. Hier gibt jeder und nimmt jeder, so wie es angebracht ist, und die Händler sind untereinander ehrlich bis auf die Knochen. Und der Spaß kommt auch nicht zu kurz, auch wenn es mal nicht so läuft, weil die Leute zu geizig, zu dumm oder auch zu klug sind, je nachdem. Man freut sich über die Verkaufserfolge der anderen, allerdings sollten diese nicht zu groß sein, denn der Neid ist eine gefährliche Natter. Das weiß man.

Und man schimpft über die „Sehleute“, wie man jene bezeichnet, die nur zum Schauen kommen, zum Verdauungsbummel nach dem Kaffeetrinken, um sich die Füße zu vertreten und um klug zu tun. Die bei jeder alten Klamotte ausrufen: „Guck mal, Herbert, so was hatte Tante Gertrud auch, weißt du noch?!“ Also, solche Leute gehen einem gewaltig auf den Keks, grapschen alles an und kaufen nichts. Manchmal reißen sie auch was vom Tisch und wollen es dann nicht bezahlen. Solche hat man eben auch. Doch alles in allem läuft es hier, wie es soll.

Doch nun hat der Bücher-Bolle plötzlich Magenkrebs, so ein Mist aber auch! Wie alt ist er? Bald fünfzig? Was kann man da tun? Wie soll man sich verhalten, wenn er das nächste Mal wieder da ist? Quatsch, ich werde ihn zu Hause besuchen. Oder ist er im Krankenhaus? Ich werde Harald fragen.

Und als ich ihn wegen Bolle anspreche, sagt er zu mir: „Das ist sein Platz und der bleibt ihm, bis wir Genaueres wissen. Der Platz bleibt ihm, verstehst du?!“ Er sagt es laut und scharf, als unterstelle er mir, dass ich gegenteiliger Meinung sei, und schaut mich dabei auch noch unfreundlich an. Ich will mich deswegen jetzt aber nicht mit ihm streiten. Er muss mich völlig missverstanden haben. So was kommt eben auch vor.


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