Altstadt-Blues 2.0

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Altstadt-Blues 2.0
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Altstadt-Blues 2.0

Die Kunststudentin Mona Blume versorgt aus noch vorhandenen romantischen Gefühlen, den Bordercollie-Mischling ihres Exfreundes Micha, einem Kameramann beim ZDF, der gerade dienstlich zum Dreh in Bhutan weilt. Müde und verdrießlich von der feuchtfröhlichen Nacht im Johannisfest-Trubel inmitten lauter Pärchen, gibt Mona dem dringenden Pipibedürfnis ihres Gasthundes nach und lost ihn genervt auf die menschenleere Zitadelle. Als es oberhalb im dichten Gebüsch raschelt und Troll sich seltsam gebärdet, während er eine Digitalkamera unter einem geparkten Auto aufspürt, beschleicht Mona ein be-klemmendes Gefühl von Angst. Die Kamera achtlos über die Schulter geworfen, flüchten beide zurück in die belebte Fußgängerzone. Zu Hause entdeckt Mona angeekelt, das angetrocknete Blut am Gehäuse und benachrichtigt die Polizei. Blauäugig glaubt sie, die Angelegenheit wäre mit der Übergabe der Kamera erledigt, doch weit gefehlt.

Als die Polizei am nächsten Morgen vor der Tür steht, argwöhnisch beäugt von der klatschsüchtigen Hausmei-stergattin, und sie aufs Präsidium bittet, beginnt für Mona kurz vor den Semesterferien eine berauschende Zeit, die ihr gerade ruhig dahin plätscherndes Singleleben völlig aus dem nachdenklichen Gleichgewicht katapultiert. Insgeheim schon auf der Suche nach einer neuen Liebe, stößt sie bei Streifzügen mit ihrer liebestollen Freundin Angie durch die Lokalitäten von Mainz immer wieder auf merkwürdige Vorfälle, trifft skurile Gestalten der Nacht und ohne es zu ahnen, auch auf einen Mörder.

Als dann aus der Coface-Arena erneut eine Politesse spurlos verschwindet, überstürzen sich die Ereignisse…

Waltraut Karls, geboren in Trier, lebt seit etwa dreißig Jahren im Herzen der Mainzer Altstadt. Sie studierte Design/Visuelle Kommunikation an der FH Trier, Screen-Design an der Multimedia-Akademie Mainz, Bildende Kunst an der Universität Mainz und ist vielen bekannt durch ihre zahlreichen Ausstellungen mit eigenen Bildern. Sie unterrichtete drei Jahre im Schuldienst und illustriert Kinderbücher. »Altstadt-Blues 2.0« ist ihr Debüt-Roman

Waltraut Karls

Altstadt-Blues 2.0

Der etwas andere Kriminalroman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zweite überarbeitete Auflage

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor – Mail: drache12@yahoo.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de


Hundemüde, brennende Füße und der stechende Schmerz im Nacken. Hoffentlich kein Vorbote für einen steifen Hals, ihren alten Bekannten aus heiterem Himmel, den sie in den nächsten drei Wochen wirklich nicht brauchen kann. Aber fünfundsiebzig Parksünder hat sie am heutigen Sam stagabend des Johannisfestes im MDE, im mobilen Datenerfassungsgerät, registrieren können. Damit ist sie vollauf zufrieden. Ein ordentlicher Schnitt für den letzten Arbeitstag vor dem Urlaub. Nur, dass sie, Gerda Buchdruck, das gesamte Equipment der neuen Partnerin Kathrin, zusätzlich neben ihrem eigenen, nach Hause und morgen ins Amt transportieren soll, stinkt ihr gewaltig. Doch wie hätte sie dem Betteln der jungdynamischen Neuen widerstehen sollen?

»Du bist die beste, die Beste von allen Kolleginnen! Bitte, bitte, bitte…!« Erst seit zwei Monaten gehört diese Kathrin zum Team und wollte es heute Nacht »…mal so richtig krachen lassen!«, wegen ihres dreißigsten Geburtstags.

Nach Mitternacht wollte sie unbedingt darauf anstoßen und hatte Gerda, nach Ende der gemeinsamen Sonderschicht, überredet zum Besuch dieser merkwürdigen Kaschemme, welche die erfahrene Politesse normalerweise niemals betreten hätte. Kathrin ist die Erste, die lange mit der Einsatzleitung um die Ausnahme gerungen hatte, dass sie beide die Arbeitsgeräte nicht wie üblich nach Feierabend abliefern müssten. Morgen früh, so lautet ihr Deal, soll eine von ihnen zur Dienststelle in der Kaiserstraße kommen, um die erfassten Parkverstöße dieser Nacht ablesen zu lassen. An Gerdas Gürtel baumeln jetzt also zwei MDEs – neben der Tasche mit den übriggebliebenen, druckfrischen Strafzetteln und der Digitalkamera – und über ihrer Schulter schlenkern zwei ausgeschaltete Funkgeräte. Wie üblich hat sie den Schwarzen Peter gezogen und ärgert sich über sich selbst, dass sie sich wieder einmal zu etwas breitschlagen ließ, was sie eigentlich so nicht wollte. Vor der Kneipe atmet die zierliche Frau erst einmal tief durch, bevor sie so bepackt, den Abstieg zur Gaugasse beginnt. Unten angelangt torkelt ihr auf der begrenzten Verkehrsinsel inmitten der Gabelung der Straßenbahnschienen, im Durchgang zwischen den Robinien und dem dreistöckigen, skurrilen Schottenhof, ein Pärchen mittleren Alters entgegen. Es stützt sich mühsam schwankend immer wieder gegenseitig, kippt rechts und links auf die parkenden Autos am Straßenrand, um beim dritten Anlauf die Treppe zum Kästrich zu erklimmen, die sie gerade heruntergestiegen ist.

Gerda schaut ihnen hinterher, verharrt kurz, dann blickt sie skeptisch zur beeindruckenden Kulisse der Stephanskirche, die sich hundert Meter weiter vor ihr in den Nachthimmel reckt. Mit dunklen Schlagschatten, dem verhangenen Mond und so in Dämmerlicht gehüllt, präsentiert sich die eigentlich vertraute Szenerie beklemmend unheimlich, was sie unwillkürlich erschauern lässt. Seit dem schweren Schicksalsschlag vor einem Jahr quälen Gerda sehr ambivalente Gefühle über ihr einstiges Urvertrauen zu Gott und den tiefen Glauben, den sie jetzt nicht mehr aufzubringen vermag. Sobald sie mit sich alleine ist, hadert sie mit dem unbarmherzigen Schicksal, das ihr alles nahm. Sie zweifelt immer wieder am Katholizismus und den streng gläubigen Familienbanden, in denen sie seit ihrer Kindheit so tief verwurzelt war.

Diesen Gott, der ihren Lebensweg wie ein roter Faden begleitete, der als unerschütterlicher Halt stets an ihrer Seite war, ihn stellt sie jetzt infrage, weil sie seine Anwesenheit nicht mehr zu spüren vermag. Gerda streift sich fest über die Stirn, als wolle sie die trüben Gedanken hinweg wischen. Den verkürzenden, aber diffus beleuchteten Durchgang entlang der Kirchenmauern wird sie heute nicht nehmen, auch nicht die unzähligen Treppenstufen nach unten, die gleich dahinter zu Ball- und Bischofsplatz führen. Dort müsste sie so behängt quer durch die Feiernden und dümmliche Sprüche wären vorprogrammiert. Nach Überquerung der Schienenstränge entscheidet sie sich zu einer letzten Anstrengung am Finale des heutigen Abends. Zu den hundert Metern Anstieg bis zum Gautor, wo sie nach Linksbiegung über die Zitadelle nur noch bergab der Straße folgen muss, um so das Fest zu umgehen. Funkgeräte und Digitalkamera lasten schwer auf Gerdas müden Gliedern, als sie sich Schritt vor Schritt den Berg hinauf in Bewegung setzt. Das Ecklokal hat geschlossen und in der Gasse grölt eine Gruppe Betrunkener. Mit einem kleinen Umweg über den Südbahnhof kann sie dann unbehelligt zu ihrer Wohnung in der Uferstraße gelangen. Ausgelaugt und zerschlagen sehnt sie sich unbändig nach den eigenen vier Wänden. Hunger verspürt sie nicht, war doch das üppig belegte Mettbrötchen der einzige Lichtblick in jener verrauchten Pinte. Zuerst wird sie ausgiebig duschen, sich ein Gläschen vom süffigen Dornfelder kredenzen und die müden Füße hochlegen. Morgen beginnt endlich der verdiente Urlaub, drei unglaubliche Wochen lang. Vielleicht gelingt es ihr in dieser Zeit, die aufkeimende Freundschaft mit dem neuen Nachbarn zu vertiefen …? Seit über einem Jahr hat kein männliches Wesen sie mehr richtig geküsst. Niemand durfte ihre intimsten Stellen berühren, niemanden hat sie näher als einen halben Meter an sich herangelassen. Doch dieser stattliche Mann mit den sanften Augen, den gepflegten Händen und dem ansehnlichen Körper, der ihr vor zwei Wochen so intensiv und verständnisvoll zuhörte, der zärtlich und beruhigend über ihren Rücken streichelte … Ihre nervösen Hände behutsam in seinen auffing, als sie ihm in einem schwachen Moment ihre leidvolle Geschichte anvertraute.

Nach jedem Treffen spürt sie mehr und mehr, dass sein ausgeprägtes Interesse an allen Facetten ihrer Person, ohne sie je zu bedrängen, ein beachtliches Stück ihrer alten Kraft und Power wieder aufleben lässt. Auch die für immer verloschen geglaubte Flamme von Lust auf Berührungen, auf körperliche Nähe und Beziehung, hat wieder leise zu glimmen begonnen. Zunehmend gelingt es ihr auch, verschüttete Emotionen zuzulassen und dieser unverhoffte Umstand… erfreut sie sehr. Gleich nach dem Frühstück wird sie die Arbeitsutensilien zum Ordnungsamt bringen, und sich anschließend zu der Jugendstilvilla in die Nerotalstraße begeben. Endlich konnte sie sich dazu durchringen, wenn auch mit sehr bangem Bauchgefühl. Seit dem Tod ihres Vaters vor einem halben Jahr hat sie es nicht übers Herz gebracht, das vertraute Interieur ihres Familienerbes alleine zu betreten. Wen hätte sie auch bitten sollen, sie zu begleiten, sie zu unterstützen, sie zu stützen? Ihren Ex? Diesen Dreckskerl … Die Villa in Gonsenheim ist ihr Elternhaus. Alles, was ihr von ihrer Familie geblieben ist. Auch wenn der Zahn der Zeit die Bausubstanz nicht verschont hat. Vom Keller bis zum Dach wartet ihre übervolle Geburtsstätte mit Erinnerungen auf, mit guten und weniger guten. Dort wurde immer alles aufbewahrt und gehortet. Zeugen ihrer behüteten Kindheit und der unbeschwerten Jugend, aber auch bewegende Nachklänge dieser bleischweren Zeit, als ihr Vater und sie, die viel zu früh dahin siechende, vorher so stolze Mutter zu Hause gepflegt hatten. Der schmerzliche Verlust der geliebten Mutter und Ehefrau hatte sie beide verändert. Hatte die Leichtigkeit aus ihrem Leben verbannt. Die destruktive Trauer ihres so veränderten, freudlosen Vaters konnte sie irgendwann nicht mehr ertragen. Sie flüchtete aus dem großen Haus in die Innenstadt, allein in eine Wohnung am Rheinufer. Erst als Hajo in ihr Leben trat, schöpfte sie wieder neue Hoffnung. Die ständigen, insistierenden Argumente ihres Vaters gegen Gerdas schnelle Hochzeit mit Hans-Joachim, seine Vorahnungen über eine vermeintliche Schürzen- oder Mitgiftjägertendenz beim zukünftigen Schwiegersohn, die sie nicht hören wollte.

 

Doch nicht ihr Liebster …

Die zähen Kämpfe, in die sich Vater und die einzige Tochter immer wieder verstrickten und schließlich der Bruch. Wie recht er doch hatte mit seiner Menschenkenntnis. Wenigstens auf dem Sterbebett konnte sie sich wieder mit ihm versöhnen, bevor er friedlich entschlafen war. Zum Glück hatte sie bei der Hochzeit darauf bestanden, ihren Mädchennamen beizubehalten, denn Frau Trippers, ähnlich wie eine Geschlechtskrankheit, wollte sie wahrhaftig nicht heißen. Sie bleibt einen Moment stehen und schaut hinauf in den getrübten Nachthimmel. Ob ihre Eltern jetzt wieder in Liebe vereint waren und sie von oben sehen konnten?

*

Aus der Altstadt dringen undeutliche Klangmischungen zu ihr hinauf, als sie sich langsam vorwärts bewegt. Die Musik in dieser Kneipe! Diese einst so vertraute Musik, die die dunklen Schatten der Vergangenheit wieder herauf beschwört hat. Die Musik, die sie nie mehr hören wollte… Der vermaledeite Song, zweimal in einer Stunde, nahezu seelische Folter.

Auf dem Absatz umdrehen und flüchten wäre das Beste gewesen für ihren schwer erkämpften Seelenfrieden. So weit fort, wie ihre Füße sie getragen hätten. Gerdas Wangen glühen jetzt, ihr Kopf schmerzt und innerlich fühlt sie sich heillos aufgewühlt. ›Klaus Hoffmanns, Tanze Gerda, tanze… tanz die ganze Nacht!‹

Das Lied ihrer großen Liebe, die sie verloren hat. Tief drinnen empfindet Gerda wieder den brennenden Schmerz von damals. Fast zerbrochen wäre sie daran. Morgen jährt sich der Tag, an dem das schreckliche Unglück über sie hereinbrach, und ihren gesamten Lebensentwurf in einen Scherbenhaufen verwandelte. Durch seine Schuld, seine alleinige Schuld. Dieser Song dort… er riss die längst verheilt geglaubte, tiefe Wunde ihres vernarbten Herzens wieder auf. Wie oft hatte der Lügner sie damit eingelullt! In die trügerische Illusion über Sicherheit und Bestand ihrer Ehe.

»Brauchst dich nicht zu fürchten…« Mit genau diesem Lied … mit ihrem gemeinsamen Lied! Passé. Vorbei! Aber nicht vergessen. Bis zu ihrem letzten Atemzug wird diese Tantalusqual in ihrem Gedächtnis verbleiben, eingebrannt für immer.

Der gemeine Betrüger. »ICH geb’ schon auf dich acht…«

Das ganze Leid nur wegen dieser billigen Schlampe!

*

Dreiundzwanzig Uhr zehn zeigt ihre Armbanduhr. Scheinbar alle zum Feiern unten in der Stadt und keine Menschenseele hier oben. Gerda war nie eine ängstliche Seele, aber etwas mulmig… ist ihr jetzt doch zumute. Sie passiert zügigen Schrittes die verwaiste Eisgrubschule und die anschließenden, schnörkellosen Häuserfassaden. Wolkenverhangene Dunkelheit über dem Volkspark, gedämpfte Musikfetzen vom Hopfengarten und plötzlich… Ein gellender Kinderschrei? Der Spielplatz…? Nichts zu sehn.

»Brauchst dich nicht zu fürchten…!«

Schneller Gerdi, schneller… SIE hat doch keine Angst. Außer Atem erklimmt sie die Anhöhe gegenüber der Goldenluftgasse. Krächzt heiser: »Hallo?« Wo zum Teufel ist ihre feste, amtliche Stimme? Zum Glück – sie kommt und sie funktioniert.

»HEY, SIE! Was treiben Sie denn da?« Eine Puppe fällt ins Gras, ein leises Wimmern, ein kurzes Rascheln. Dann erspäht sie den flatternden Schatten, den schnell der lichtlose Abhang verschluckt. Die breite, am Boden hockende Männergestalt, die ihr die freie Sicht versperrt, schaut ruckartig über die Schulter und springt auf. Der nachfolgende, funkelnde Blick aus der Dunkelheit trifft Gerda wie eine Pfeilspitze, begleitet von einem Zischen.

»Hau bloß ab, DU blöde Schlampe!« Sie denkt nicht daran, verlangt eine Klärung: »Jetzt aber mal langsam! Was war denn hier los? Was wollten Sie…?«

Bloß keine Schwäche zeigen! Mit zwei langen Sätzen ist er vor ihr, wie ein Baum in die Höhe wachsend. Ein langes Messer blinkt auf im schwachen Schein der einzigen Straßenlaterne.

»Was soll das…?« Grob packt sein eiserner Griff ihre unbehängte Schulter, verharrt kurz, wie sich besinnend, und sie erkennt ein junges Gesicht. In der leicht erhellten Schwärze kreuzt sich Gerdas angstvoller Blick flüchtig mit dem mitleidlosen Ausdruck der kalten Augen, die sie anstarren.

Aufsteigende, dumpfe Angst lähmt ihre Glieder, ihre Hände schwitzen, nur ihr Verstand arbeitet fieberhaft. Sie muss etwas tun, aber was?

Ein Funkgerät anschalten und Verstärkung rufen…

Sie versucht danach zu greifen, als der sie überragende Mann Gerda so unvermittelt und rüde zu sich reißt, dass sie taumelnd das Gleichgewicht verliert und ein Teil des Equipments zu Boden rutscht. Er fängt sie auf und umklammert sie mit eisernem Griff so fest, dass sie kaum noch Luft bekommt.

»Lassen sie mich sofort los, nein…! Hören sie auf! H i l f e!« Die große Hand presst sich brutal auf ihren fordernden Mund, will ihn verschließen, sie mundtot machen. Mit stoßweisem Atem versucht sie, den körperlich überlegenen Angreifer abzuwehren. Kämpft verzweifelt an gegen die muskulöse Gewalt des jungen Täters. Alle Geräte und ihre letzte Chance auf Hilfe schleudern in den Abhang.

Sie schreit und fleht mit allerletzter Kraft … um ihr Leben!

»Bitte… Hilfe! Ich will nicht sterben! HILFE!!!« Vergeblich!

Der gnadenlose Stich seines Messers bohrt sich tief durch ihre Eingeweide. Einmal, zweimal und wieder… bis Gerda rückwärts zu Boden sinkt. Rasselnder Atem aus blutendem Rachen… kraftloses Röcheln… ein mattes Stöhnen… ein letztes, fast lautloses Flüstern.

»Nein! Diese Schmerzen, ich verblute… Wo bist du? Gott?! Das tut so weh… Nein! OOH! GOTT?! Oh Nein!« Stille… Totenstille.

Samstagmorgen, 25. Juni

»Oh nein – wer ruft denn um diese Zeit an?«

Der Wecker zeigte sechs Uhr fünfzehn am Samstagmorgen, Johannisfest-Wochenende in Mainz. Ihr Kopf brummte. Je nach Sichtweise war es sehr spät gestern Abend oder früh heute Morgen. Und der allerletzte Winzersekt sicher verdorben! Das schwarze, schwere Pelzbündel auf ihrem Fuß namens »Troll«, hob langsam den Kopf und gähnte sie an. Ja – SIE war auch noch sehr müde. Das Telefon klingelte dreimal, ehe der museumsreife Anrufbeantworter mit lautem Geratter ansprang und die sonore Stimme eines guten Freundes, wie immer verlässlich, das Sprüchlein herunterleierte: » …ist nicht zu erreichen, sprechen Sie nach dem Piep!«

Familie und Freunde wussten, dass ihr das Wochenende heilig war. Also, keine Anrufe vor neun, besser noch zehn Uhr, wenn sie nicht absolut dringend waren. Viele legten dann auf, waren abgeschreckt, aber diesmal… Piieeep…

Die etwas mürrisch klingende Frauenstimme schnarrte laut.

»Ihr PKW steht im absoluten Halteverbot!«

Vielleicht ein blöder Joke? Mona Blume sprang wie elektrisiert aus dem Bett, stieß gegen die halbvolle, unverschlossene Cola daneben, die sich schäumend über den Teppich ergoss. Verflixt! Diesen Spleen vom Stehen lassen der offenen Flaschen musste sie sich endlich abgewöhnen. Troll rollte widerwillig zur Seite.

»Das kann gar nicht sein«, krächzte sie heiser in den Hörer, »wer ist denn da?«

»Hier ist das Verkehrsüberwachungssamt und wenn Sie Ihren Wagen nicht gleich wegbewegen, wird er abgeschleppt!«

Doch kein Scherz! Diese Stimme, eine eiskalte Dusche könnte momentan nicht besser wirken.

»Aber machen Sie schnell!«

»Ich komme sofort«, hörte sie sich antworten und schob das Mobilteil unsanft zurück in die Basisstation. Hektisch riss sie einige saugstarke Blätter von der nahe liegenden Dick & Durstigrolle und presste sie auf den ausgedehnt, klebrigen Fleck. Troll umrundete die junge Frau jetzt schwanzwedelnd, beobachtete mit fragendem Blick, wie sie hektisch die Klamotten vom Vorabend bestieg. Jeans und T-Shirt, Sandalen.

»Nein! Keine Zeit, Troll. Später.«

Ein flüchtiger Blick in den Spiegel, zwei Bürstenstriche übers Haar, ungewaschen ging sie sonst nirgends hin, aber das schien ein Notfall zu sein! Hausschlüssel, Autoschlüssel in den Rucksack und diesen über die Schulter. Türe zu und die steile Treppe hinunter. Der Hund winselte laut hinter ihr her.

Vor ihrer Haustür – Fußgängerzone – erblickte Mona an deren-Ende, einen gelben ADAC-Abschleppwagen in Aktion und rundherum viele bunte Marktstände. Reges Treiben überall. Wieso um diese frühe Zeit? Ach ja, der Samstags-Wochenmarkt, normalerweise auf dem Domplatz, war wegen des Johannisfestes verlegt auf den Hopfengarten-Parkplatz. Mona schwante nichts Gutes und erhöhte ihre laxe Schrittfrequenz. Shit! Ihr schwarzer Golf parkte einsam inmitten zweier Marktstände, die soeben mit buntem Obst und knackigem Gemüse bestückt wurden. Die Marktleute schoben die noch halb leeren Tische freundlicherweise schon zur Seite, als Mona die peinliche Bescherung ansteuerte.

»Sorry! Und vielen Dank«, stammelte sie verlegen mit hochroten Wangen. Hinter dem Autoheck erwartete sie eine hellblond getönte Politesse mittleren Alters ganz in Zweierleiblau, die vollschlanke Figur stocksteif aufgebaut wie eine Zinnsoldatin.

»Jetzt, abba – ganz fix«, schnauzte sie mit bärbeißigem Blick, ohne ihre Pose zu verändern, als die Studentin den Schlüssel hastig ins Schloss schieben wollte. Just in diesem Moment entdeckte Mona den Strafzettel, der an der verschmutzten Windschutzscheibe prangte. Sie angelte ihn mit spitzen Fingern und wenig Begeisterung unter dem Scheibenwischer hervor. Fünfundzwanzig Euro für Parken im absoluten Halteverbot mit Behinderung. Das durfte doch nicht wahr sein! Umgehend war sie dem alarmierenden Weckruf gefolgt. Wütend drehte Mona sich um, fauchte der Matrone dieses entgegen und dass, das Parkverbot üblicherweise erst um acht Uhr begann. Die Speckrollen wogten, als sich die uniformierte Gesetzeshüterin unbeeindruckt vor ihr aufbaute. Den rechten Arm in die Diagonale gehievt, zielte der fleischige Finger auf ein astverdecktes Zusatzschild über dem Original, begleitet vom einem Hinweis mit deutlichem Unterton:

»DAS – steht schon länger! War lange genug in der Lokalpresse angekündigt.« Noch etwas verschlafen folgte Monas Blick dem Fingerzeig. Tatsächlich waren dort der heutige Samstag und der kommende Montag als Halteverbotstage ausgewiesen, ab sechs Uhr. So ein Mist! Beim gestrigen Parken in der Dämmerung war sie wieder mal so in Eile, dass sie natürlich nicht nach Änderungen Ausschau hielt, vor allem nicht in dieser Höhe hinter dichtem Geäst. Ein Zeitungsabo bezog sie nicht, die kostenlosen Wochenblätter wurden entweder nicht geliefert, verschwanden regelmäßig von der Türschwelle oder segelten windzerknüllt – quer durch die Fußgängerzone.

Doofe Nuss! Etwas mehr Kulanz gegenüber den parkmäßig stark gebeutelten Bewohnern der Altstadt könnte wahrhaft nicht schaden. Der Bewohnerausweis war die pure Geldverschwendung. Abends gab es keine freien Plätze wegen einer Flut von Berechtigungen, die die Anzahl der Plätze bei Weitem überstieg. Oder weil gerade die Straße aufgebuddelt wurde oder Fremdnutzer und Kinobesucher alles wild zuparkten. Kein Wunder, dass einem jegliche Lust verging, sich nach zwanzig Uhr motorisiert aus der Altstadt zu bewegen. Bei der Rückkehr wartete garantiert immer der nervtötende Stress einer Sisyphus-Suche!

*

Die füllige Politesse wendete sich ab, scheinbar befriedigt ob ihrer bravourös abgewickelten Dienstpflicht, wie Mona der aufgehellte Gesichtsausdruck signalisierte. Sie watschelte mit ausladenden Schritten hinüber zur brünetten Kollegin, die den Fahrer des monströsen Abschleppwagens im Kasernenton dirigierte. Dieser Tag fing ja schon gut an! Mona blickte ihr hinterher und wollte leicht verdrossen ihr Auto besteigen, als hinter dem Biolandstand ein fremdländisch wirkender Mann mit geballter Faust auftauchte, laut fluchend in unverständlicher Sprache. Ohne Zeit zu verlieren, packte er die nächststehende Blauberockte ruppig am Kragen und schüttelte sie kräftig hin und her, wie eine Katze ihr Junges beim Transport. Schleunigst war der zornige Wüterich umzingelt und vom einzigen männlichen Kollegen der Politessen gepackt. (Wie nannte man diesen eigentlich?) Die herbeigeeilten Mitstreiterinnen attackierten den Herrn aufs Heftigste, gestikulierend und laut keifend. Die Vermutung, dass sein PKW am Haken hing, drängte sich Mona auf. Da konnte sie sich wohl glücklich schätzen, dass die Politesse sie zuvor informiert hatte. Den emotionsgeladenen Job dieser wenig beliebten Damen wollte Mona nicht geschenkt haben. Ständig wüste Beschimpfungen, verbale Attacken und mehr von den »rabiaten« Autofahrern, den Melkkühen der Politik.

 

*

Die pausbäckige Bäuerin nickte verständnisvoll, aber sichtbar erfreut, als Monas betagter Golf sich slalommäßig den Weg aus dem begrenzten Terrain bahnte. Mona lenkte ihn nach rechts in die ehemalige Rotlichtmeile der Neutorstraße, an der Ampel rechts an Cinestar-Kino und Südbahnhof vorbei, am Radhaus den Berg links hoch und an der Ampel wieder rechts in den Eisgrubweg. Entlang der gesamten Straße, Stoßstange an Stoßstange, parkende Autos. In der Goldenluftgasse – auch nichts. Oh yeah, sie war noch so unausgeschlafen. Enerviert versendete Mona ein Stoßgebet an Christophorus, den Schutzpatron der Autofahrer, und bat um einen freien Parkplatz. Als hätte dieser ihr Flehen prompt erhört, erblickte Mona im Rückspiegel einen Typ mit Pferdeschwanz und dunkelrotem Jack-Wolfskin-Rucksack auf sie zu steuern. Er trottete breit grinsend vorbei zu einem orang efarbenen, verbeulten Polo mit Steilheck. Stieg ein, startete mit rauchigen Auspuffgasen, setzte zurück, kurbelte, zeigte ihr immer noch grinsend das Victoryzeichen und knatterte lautstark davon. Wunderbar! Schnell diesen raren Glücksfallplatz okkupieren, ehe ein anderer kam. Monas Auto parkte jetzt unterhalb des Zitadellenwegs, schräg gegenüber der frisch renovierten Burschenschafts-Villa, wie das an der Fassade befestigte Metallschild verriet. ›Katholische Deutsche Studentenverbindung Rhenania- Moguntia‹.

Hier konnte ihr treues Gefährt wohl verweilen bis zum kommenden Dienstag, wenn die Pflicht sie wieder zur Uni rief. Im Eilschritt trabte sie bergab. Vorbei an den hochherrschaftlichen Gründerzeitvillen, die Treppen am Feuerberg-Bräu hinunter (Pfui, stank es hier!), mit kleinem Schlenker zur Altstadtbäckerei, um fix einige Schrippenbrötchen zu besorgen. An den vorderen Marktständen, die bis zur Hälfte in den Bürgersteig ragten, entdeckte sie im Augenwinkel eine günstige Lücke zwischen den frühen Käuferreihen. Sie schob sich hinein und erstand ein Kilo Salatkartoffeln, fünf kleine Zwiebeln und zwei flache, weißfleischige Weinbergspfirsiche.

Die hauchdünnen Plastiktüten schlenkernd eilte sie nach Hause in der Hoffnung, dass der Hund nicht das ganze Haus geweckt hatte mit seinem Gewinsel. Er kratzte wild an der Tür, als er Mona kommen hörte, und begrüßte sie ausgelassen hochspringend, als kehrte sie zurück von einer langen Reise. Eigentlich waren sie ein eingespieltes Team und es war für ihn längst Routine, einige Stunden allein zu verbringen. Heute hatte die Studentin jedoch gegen ihr Ritual verstoßen: Ihm eine Schale vom frisch gezapften, kalkfrischen Kranenberger zu servieren, von Micha als Helau-Cocktail getauft. Das erwartete er stets vom Ersten, der morgens aus dem Bett »aufstieg«, womit Mona ihn jetzt geschwind beglücken konnte.

*

Der glänzend schwarze Troll mit weißen Pfoten und Hals war eine schöne Mischung, vermutlich aus viel Bordercollie und etwas Schäferhund. Eigentlich war er nicht Monas Hund. Sein wahrer Besitzer Michael, Monas Ex-Lebensgefährte und intimster Freund der letzten Jahre, war regelmäßig im Ausland unterwegs, meist mehrere Wochen als Kameramann auf ZDF-Tour und dann wohnte Troll bei ihr. Zurzeit war Micha sogar noch länger gebucht für die aktuelle, sehr aufwendige Reportage.

»In 90 Tagen um die Welt«, die das ZDF-Morgenmagazin täglich live via Satellit ausstrahlte. Micha und seinem Vitamin B, dem allgemein probaten Wegeebner und Sesam-öffne-dich, verdankte Mona ihr bescheidenes Haupteinkommen durch einen der begehrten Studentenjobs beim ZDF, dem Zweiten Deutschen Fernsehen oder auch dem Zentrum der Freude, wie einige Redakteure die Initialen gelegentlich schmunzelnd interpretierten. So! Nach der ganzen Aufregung benötigte sie erst mal ihren geliebten Milchkaffee. Die Espressomaschine war länger nicht benutzt worden, weil Mona in morgendlicher Hektik öfter schnellen Teebeutel-Darjeeling bevorzugte und natürlich …funktionierte die haarfeine Aufschäumdüse nicht. Vielleicht wegen der vollfetten Milch, die nicht hindurchpasste, genauso wenig wie das sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr. Auch gut! Dann würde sie die Milch eben so hineinschütten. Oh nein, weißgraue Klümpchen formierten sich auf der schwarzbraunen Kaffeeoberfläche, sie war sauer und flockte aus. Shit Happens! Adieu Café au Lait! Ab mit dem Gebräu in den Ausguss und doch Schwarztee. Die Schrippe mit Quark und Omas selbstgekochter Blaubeermarmelade schmeckte köstlich. Troll schlürfte genüsslich an seinem Helau-Cocktail aus dem grauen Steinnapf, danach musste er erfahrungsgemäß immer gleich »Gassigehn«.

Die Schuhe auszuziehen, lohnte sich also nicht. Eine halbe Zigarette ging noch, dann stand Monas tierischer Logiergast, die Leine zwischen die scharfen Zähne geklemmt, auffordernd an der Wohnungstür. »Ja, ist ja gut, ich komme schon!«

Was für ein Stress am frühen Morgen!

*

Den gleichen Weg, nur die diametrale Route, der Troll instinktiv folgte, denn er verrichtete seine Geschäfte ausschließlich in den grünen Gefilden der Zitadelle. Sie passierten seitlich die ansprechend dekorierten Marktstände, wieder einmal finster und mit Argusaugen über der randlosen Brille skeptisch beäugt vom Gastwirt in blauer Halbschürze. Dieser bewachte den Bürgersteig vor seiner Bierpinte so scharf, wie wohl einst Zerberus, der dreiköpfige Höllenhund, den sagenhaften Hades. Unbarmherzig konsequent und mit erhöhter Dosis Adrenalin im Blut verscheuchte er im besonderen Radfahrer und ahnungslose Nichtkunden vom Trottoir, die den weißen Plastikstühlen zu nahe kamen.

Auf der überdachten, langgezogenen Terrasse der Privatbrauerei unterhalb der Zitadelle schwelgten schon plappernde Gäste im preiswerten 5,90 € – Frühstück&Getränke-Büfett.

Die parallel dazu aufsteigende Treppe bot stets ein zweifelhaftes Sortiment unwiderstehlicher Duftmarken für sensible Spürnasen, deswegen musste Mona ihren schnuppernden Gasthund auch stets mit sanfter Gewalt über die steinerne Hürde lotsen. Oben angekommen stürzte sich Troll – alarmstuferotmäßig – ins angenehm nahe Gestrüpp. Mona ließ sich auf den großen, leicht bemoosten Stein sinken und zündete genussvoll ihre Zigarette an. Das Unterbewusstsein ziepte wieder einmal. In letzter Zeit meldete es sich oft mahnend, einem echt ungesunden (Warnung und grässliche Ekelbilder auf der Packung!) und außerdem teuren Luxuslaster zu frönen – aufgrund Herrn Schäubles hohem Steuerbedarf. Sie hatte sich eine lederne Hülle besorgt um die unappetitlichen Fotos zu umgehen. Himmlische Ruhe herrschte über dem schönen Platz, die Sonne lachte noch verhalten und außer Rascheln und fröhlichem Vogelgezwitscher, war nichts zu vernehmen. Monas wilde Spekulationen, die »Meenzer« oder »Määnzer« hätten in grauer Vorzeit mal einen obskuren Pakt mit dem zuständigen Wettergott besiegelt, wurden aktuell wieder bekräftigt. Nahezu zu jeder Open-Air-Festivität, ob Rosenmontagszug, Rheinland-Pfalz-Tag oder dem Gutenberg-Marathon breitete sich stabiles Traumwetter aus über Mainz, selbst wenn in Wiesbaden gerade Bindfäden oder cats-and-dogs vom Himmel regneten. Nach Trolls Rückkehr an die ungeliebte Leine überquerten sie die Straße und wählten jetzt die Alternative zum Absteigen, die sich optisch im absoluten Kontrast zum unweiten Villenambiente nach unten schlängelte. Der Weg führte quer durch den gepflasterten Innenhof, der fast kreisförmig angeordneten, scheinbar auf dem Reißbrett entworfenen Häuserquadrate, die nur differenzierbar waren durch die alphabetische Nummerierung oder die üppigen, sich gegenseitig überbietenden Balkonbepflanzungen, und mündete in einer steilen Treppe zur Altstadttangente.