Vom Pagen zum Premierminister

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Vom Pagen zum Premierminister
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Walter Brendel

Vom Pagen zum Premierminister

Der Sündenbock der Wettiner

Vom Pagen zum Premierminister

Walter Brendel

Der Sündenbock der Wettiner

Impressum

Texte: © Copyright by Walter Brendel

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2021

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Ist Brühl mehr als die Brühlsche Terrasse?

Der Aufstieg zur Macht

Karrieresprung mit Anfang dreißig

Mit alter Flagge unter neuem Kapitän

Über wen stürzt Sulkowski?

Brühl – Muster eines Staatsmannes von Augusts Gnaden

Persönlicher Abdruck eines Staatenlenkers

Kein Licht ohne Schatten

„Du weißt, anbetungswürdigstes Herz …“

Mein Ruheplatz

Abgesang auf einen Toten

Blick aus vielen Perspektiven

Bestehen auf glattem Parkett

Hubertusburg und seine Vorboten

Ein Schuldiger muss her!

Prozess um eine Leiche

Zehn Aktenfolianten

Gemeines Sächsisch Recht und Carolina

Wandel des gesellschaftlichen Ideals

Verfahren gegen Heineken und Konsorten

Kriminalverfahren gegen Staatsverbrecher

Der Prozess, der nicht stattfand

Glanz und Scheitern – dicht beieinander

Im Innern

Nach außen

Facetten einer Persönlichkeit

Ist Brühl mehr als die Brühlsche Terrasse?

Heinrich Graf von Brühl, Kabinettsminister unter August dem Starken und Premierminister seines Nachfolgers Friedrich August II., zählt zu den bekanntesten, aber auch widersprüchlichsten Persönlichkeiten der sächsischen Geschichte. Sein Name wird oft mit Korruption, Misswirtschaft und Verschwendungssucht in Verbindung gebracht. Sein offizielles wie literarisches Bild erhielt im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer mehr negative Facetten, während sein wichtigster Gegenspieler, Friedrich der Große, glorifiziert wurde. So heißt es zum Beispiel in der „Deutschen Geschichte“, Bd. 1, S. 508: „Der gewissenlose Minister Brühl“ schädigte „das Land durch seine Misswirtschaft aufs äußerste“.

Wie war es möglich dass ein derart nachteiliges Porträt des ranghöchsten sächsischen Regierungsbeamten die Zeiten überdauerte?

Zunächst war da die Meinung des sächsischen Herrscherhauses selbst. Die bankrotte Staatskasse und der verlorene Siebenjährige Krieg hatten das Ansehen Sachsens gründlich ramponiert. Dass ein gekröntes Haupt keine Schuld daran tragen konnte, verstand sich von selbst. Auch das absolutistische Herrschaftssystem an sich konnte und durfte nicht in Frage gestellt werden. Also musste ein Schuldiger gefunden werden – und der hieß Brühl.

Zum Zweiten nahm Preußen starken Einfluss auf das öffentliche Bild von Brühl. Damit wollte man versuchen, das eigene Negativimage aufzupolieren, das sich durch den Überfall auf Sachsen ohne Kriegserklärung am 29. August 1756 die gnadenlose Ausplünderung des Landes und den darauf folgenden Handelskrieg herausgebildet hatte. Friedrich II. leitete bekanntermaßen eine Annexions- und Eroberungspolitik im großen Stil ein, die erst 1945 mit der Auflösung des Königreichs Preußen ihr Ende fand. Der schlechte Ruf Brühls hatte sich da allerdings in aller Ruhe bereits von Generation zu Generation weiterverbreiten können.

Dabei ist – zum Dritten – der Einfluss der Literaten nicht zu unterschätzen. Aus der Feder einer gewissen Rita Sonneck floss der Roman „Graf von Brühl Der Roman eines Mächtigen“, welcher 1920 beim Verlagshaus Bong/Berlin erschien. Von dem schlechten Schreibstil einmal ganz abgesehen, verharrte dieses Werk fern jeder historischen Wahrheit und hatte nur ein Ziel: Brühl weiter zu verunglimpfen. Fortsetzung der preußischen Geschichtsschreibung in der Literatur? Dieser Roman jedenfalls prägte besonders in der Weimarer Republik das Bild von Brühl und von Sachsen. Zum Glück ist er heute fast vergessen.

Ein weiterer Literat hatte sich zuvor schon an Brühl versucht, 111 Jahre nach dessen Tod, in seiner Wahlheimat Dresden: der Pole Józef Ignacy Kraszewski. Zweifellos einer guter Romancier, aber nicht mit dem Anspruch einer objektiven historischen Darstellung ausgestattet, hat Kraszewski insbesondere in seinen Romanen „Brühl“ und „Aus dem Siebenjährigen Krieg“ leider ein Zerrbild von Sachsen und Brühl gezeichnet.

Mit leichter Feder, lebenspraller Charakterzeichnung und spannungsreicher Handlung gelingt dem seit 1863 zunächst als politischer Flüchtling, danach als sächsischer Staatsbürger in Dresden lebenden Autor 1874 dann ein weiterer Band seiner Sachsen-Trilogie, bei einem großen Leserkreis bis heute beliebt. Die auf der Trilogie fußende DEFA-Produktion „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ mit Straßenfeger-Qualitäten schrieb – wenngleich aus einem anderen ideologischen Blickwinkel – dieses mitunter deutlich von den wahren Fakten und Begebenheiten abweichende Bild fort und in die Herzen und Hirne von neuen Generationen, und so tut man Brühl – wissentlich oder aus Unkenntnis – weiterhin unrecht.

Erst Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts waren Schriftsteller, Biografen, Historiker und Wissenschaftler verstärkt um eine objektive Darstellung bemüht. „Heinrich Graf von Brühl“ von Walter Fellmann und „Heinrich Graf von Brühl. Eine Biografie“ von Dagmar Vogel sind zwei Belege dafür.

Kommen wir nun zu Punkt vier:

Nach dem verlorenen Siebenjährigen Krieg und dem Staatsbankrott wurde 1765 in Sachsen ein Prozess gegen Brühl angestrengt. Hofjuristen, vergleichbar heutigen Staatsanwälten, befassten sich mit Brühl in der erklärten Absicht, ihm Verfehlungen nachzuweisen. Eine Unschuldsvermutung gab es nicht. Brühl musste schuldig sein, und er sollte Rede und Antwort stehen. Doch das konnte er gar nicht mehr, denn er war 1763 verstorben. Man führte also einen Prozess gegen eine Leiche.

Denkmal für Minister von Brühl im Seifersdorfer Tal, konzipiert von Schwiegertochter

Christina von Brühl, in Form eines fiktiven Grabes

Und es kam, wie es kommen musste: Dichtung und Wahrheit verschmolzen, und Vermutungen wie Spekulationen waren Tür und Tor geöffnet. Unter der Feder von Literaten und Historikern wurde sein Vermögen immer größer.

„Sein Vermögen schätzte man auf 100 Millionen“ Taler, so Lauterbach („Deutschen Geschichte“, Bd. 1, S. 99), doch ist nur wenig davon vorhanden, „weil seine sprichwörtliche Leichtlebigkeit und die riesigen Ausgaben seiner Familie alles verschlangen“.

Doch greifen wir dem Ganzen nicht vor. Recherchieren wir lieber gründlich und objektiv, um aus rechtsgeschichtlicher Sicht das einseitige Bild des Staatsmannes und Menschen Brühl durch neue Facetten zu objektivieren.

Das also war die Ausgangslage, als sich am 27. Oktober anno 1763 ein gewisser Hofrat Ferber auf den Weg zu Brühl machte.

Der Aufstieg zur Macht

Als Heinrich am 13. August 1700 in Gangloffsömmern geboren wird, ahnt wohl niemand, dass er dereinst einer der mächtigsten Männer Sachsens werden sollte. Sein Vater, Hans Moritz von Brühl, ist Hofmarschall des Zwergherzogs von Sachsen-Weißenfels, und seine Lebensphilosophie heißt: Arbeit schändet. Dementsprechend ist in seinem Geldbeutel mehr Luft als Taler. Seine Gläubiger gehen bei ihm ein und aus, haben auch eine Menge Geduld. Irgendwann aber ist’s genug damit, und das in Nordthüringen gelegene Familiengut Gangloffsömmern kommt unter den Hammer. Die Söhne des Hofmarschalls müssen nun in die Welt hinaus, um dort ihr Glück zu machen. Für die drei ältesten bieten das Militär und die Verwaltung ein Sprungbrett für die Karriere.

Der jüngste Sohn, Heinrich, steht mehr auf eine Höflingslaufbahn – wenn es denn seine eigene Entscheidung ist. Er tritt jedenfalls 1713 als Leibpage in die Dienste der Herzogin-Mutter von Sachsen-Weißenfels. Die Witwe zahlt ihrem Pagen zwar wenig, hat ihn aber ins Herz geschlossen. Ihr gefällt der schöne Knabe, und sie sorgt für eine standesgemäße Ausbildung. Vor allem soll er mit dem Hofleben vertraut gemacht werden. Der Knabe Heinrich lernt schnell und passt sich in kürzester Zeit den Umständen an, sodass die Herzogin-Witwe ihn schon 1719 zur Leipziger Messe August dem Starken empfiehlt. Doch am Dresdner Hof erweist sich der mittlerweile Neunzehnjährige als einer unter vielen. Die Leiter des Erfolgs ist lang, der Sprung von Sprosse zu Sprosse hoch und gewagt. Außerdem steht Brühl fast mittellos da, während seine Konkurrenten von Haus aus bessere finanzielle Voraussetzungen mitbringen.

 

Brühl zeigte „ein so geregeltes Benehmen und soviel Eifer, daß ihn der König bald von der Menge unterschied und in seine Nähe zog“. Er erkannte sein gesundes und gründliches Urteil, seine leichte Auffassungsgabe, seine, für sein Alter rasche Erfassung aller Angelegenheiten, seine Verschwiegenheit und vollkommene Verläßlichkeit, verbunden mit edler Offenheit und einer Art und Weise, die schwierigsten Dinge leicht und angenehm mitzuteilen. Er beschloß, daß ein solcher Untertan zu den großen Staatsgeschäften emporgehoben zu werden verdient […].“ (Pöllnitz 1734, S. 60 f., zit. nach Vogel 2003, S. 91) Brühl begann also seine Laufbahn als Silberpage; doch erst 1727, am 19. Mai, kam die nächste Stufe an die Reihe. Heinrich wurde Kammerjunker.

Er tat sich weiter durch viel Fleiß, Ausdauer und überdurchschnittliche Intelligenz hervor. Begünstigt durch das Ableben des Kriegsrates Pauli wurde er 1729 schließlich Vortragender Kammerjunker Augusts des Starken, verantwortlich für die Korrespondenz des Königs.

Erstes Projekt: das Lustlager von Zeithain

Ein Jahr später bereits schien sein Aufstieg unaufhaltsam. August der Starke plante eine Präsentation seiner Macht, die in ganz Europa widerhallen sollte. Da aber seine Minister und Geheimräte mit der Aufgabe offenbar überfordert waren, stellte sich der bis dato im Projektmanagament noch bedeutungslose Kammerjunker Brühl an die Spitze und organisierte die Schau. Nun war die Zeit von Brühl gekommen, denn er machte sich binnen weniger Monate für August den Starken und den Thronfolger unentbehrlich. Aus dieser Zeit datiert auch der Beginn einer besonderen Freundschaft mit dem Staatsminister und Generalfeldmarschall August Christoph Graf von Wackerbarth (geboren am 22. März 1662 in Kogel bei Ratzeburg; gestorben am 14. August 1734 in Dresden), der zu den Förderern der Brühl‘schen Karriere gehörte und maßgeblichen Anteil am Aufstieg des jungen Pagen hatte.

Dieses Lager war eine organisatorische Meisterleistung Brühls, die europaweit für Aufsehen sorgte. Das Lustlager von Zeithain wurde eine grandiose Truppenschau Augusts des Starken, verbunden mit der Darstellung königlicher Pracht, die vom 28. Mai bis zum 28. Juni 1730 unweit der Städte Riesa und Großenhain zwischen den Gemeinden Zeithain, Glaubitz und Streumen in der Nähe der sächsisch-brandenburgischen Landesgrenze zelebriert wurde.

August Christoph von Wackerbarth (1662–1734); Gravur von Johann Christoph Sysang

Dieses Lager war eine organisatorische Meisterleistung Brühls, die europaweit für Aufsehen sorgte – nicht nur als größte Truppenschau Europas, sondern vor allem als das gigantischste Barockfest seiner Zeit, das „Spektakel des Jahrhunderts“ schlechthin, welches wegen seiner Pracht und Üppigkeit bis heute Inbegriff barocker Lebensart ist. Vor 47 geladenen europäischen Fürsten und deren Militärs präsentierte August seine 30.000 Mann umfassende sächsische Armee im Manöver, geführt von Generalfeldmarschall Graf von Wackerbarth, und stellte gekonnt auch den hohen Stand der sächsischen Kunst und Kultur zur Schau.

Lager bei Zeithain, Gemälde von Johann Alexander Thiele 1730

Zum Gefolge des preußischen Königs gehörte neben 150 Offizieren auch der Kronprinz. Hier begegneten sich also der spätere Premierminister Brühl und der spätere preußische König Friedrich, der einmal der Große genannt werden sollte. Doch noch waren beide quasi ohne Amt und verstanden sich zunächst prächtig. Vier Wochen Party ohne Ende – da taute selbst Friedrich auf, zur Freude seines Vaters und zum großen Ärger von August. Denn das Ziel seiner Wünsche, die offensichtlich auch erfüllt wurden, war die Gräfin Orcselska, die Lieblingstochter Augusts des Starken. Das war zu viel, August schäumte und raste. Aber Brühl konnte die Staatsaffäre abwenden; er führte dem Kronprinzen eine Gräfin Formera zu. Preußens König dankte ihm mit der höchsten Auszeichnung, dem Schwarzen Adlerorden, in seinem Sohn aber wuchs abgrundtiefer Hass. Nie zuvor und nie wieder hatte Friedrich sich in derartiger Weise einer Frau geöffnet, und Brühl war der Organisator des Desasters. Nach dem Zeithainer Lager begann der unaufhaltsame Aufstieg des Heinrich von Brühl, er wurde zum uneingeschränkt herrschenden Minister. Da konnte der König in Potsdam nur spotten: „Friedrich II. ist sein eigener Minister, Minister Brühl sein eigener König.“ Doch der Spott vermochte den Hass nur mühsam zu verdecken; im Siebenjährigen Krieg dann lebte er ihn zügellos aus. Brühl selbst würde unerreichbar sein, denn er war nach Warschau geflohen. Aber alles, was in Sachsen an Brühl erinnerte, wurde von Friedrich in manischer Wut zerstört, zumeist war er selbst zugegen: die Schlösser Groschwitz, Oberlichtenau und Nischwitz, die Dresdener Palais und eben auch die Brühl’sche Standesherrschaft Schloss Pförten.

„Ich habe Vergeltung üben müssen“, schrieb Friedrich der Gräfin Brühl kühl. Am 1. September 1758 befahl er dem Markgrafen von Brandenburg, „nun gerade nach Forst zu marschieren und das Schloß des Grafen Brühl verbrennen zu lassen“. Der wollte nicht Mordbrenner werden und schickte seinen General Detachent.

„Der Commandeur ließ im Schloß alle Keller aufreißen und allen großen Weinfässern die Boden ausschlagen; was aber an Flaschen und kleinen Gefäßen vorhanden war, ließ er auf zwei Wagen laden. Mittlerweile hatte ein Commando Husaren einen Wagen mit Stroh und einen Wagen mit Holz auf den Schloßplatz gebracht. Unter dem Dache wurden an 12 verschiedenen Orten Haufen von Holz und Stroh hingelegt, desgleichen auch im untersten Tafelzimmer. Also wurden die Haufen alle angezündet, und der Commandeur verbot zugleich, daß kein Mensch sich unterstehen solle, zum Löschen an das Schloß zu gehen, wenn er nicht die Kugel vor den Kopf geschossen haben wollte. Indes hat es Gott so wunderbar gefügt, das nicht nur die beiden Seitengebäude, sondern auch die ganze Stadt im geringsten nicht versehrt worden. Das Schloß allein ist gänzlich bis auf den Grund nebst allen Möbeln und was darin gewesen, verbrannt und zusammengefallen.“ Soweit ein gekürzter Auszug aus dem Bericht des Bettenmeisters (Schloßverwalters) Fiebiger an Graf Brühl. (vgl. Siegfried Kohlschmidt, Die Schande Friedrichs des Grossen in Pförten)

Karrieresprung mit Anfang dreißig

Zurück nach Dresden, zurück zu Brühl: 1731 macht August ihn zum Generalakzisdirektor, das heißt zum Herrn über alle Steuern. Gleichzeitig betraut er ihn mit der „Direction und Besorgung derer zum Cabinet kommenden Domestic-Affairen", also de facto mit dem Amt eines Innenministers. Das Jahr ist noch nicht herum, da erhält Brühl den Titel eines Wirklichen Geheimen Rats, damit verbunden Sitz und Stimme im Geheimen Conseil, das den Herrscher in allen wichtigen politischen Fragen beriet und seine Befehle an die ausführenden Organe weiterleitete.

Dann kamen weitere Gunstbeweise hinzu:

Brühl wird Präsident der Steuer- und der Bergwerkskammer. Als der amtierende Finanzminister, Graf Hoym, wegen Insubordination entlassen wird, übernimmt Brühl dessen Funktion. Als später der Außenminister, Fleury, sein Amt verliert, wird Brühl auch dessen Nachfolger. August der Starke überhäuft Brühl geradezu mit Ämtern und Aufgaben. Wenigstens von der regelmäßigen Teilnahme an Dienstsitzungen ist Brühl vom Monarchen ausdrücklich entbunden. August will Brühl auch auf Reisen stets um sich haben. August beansprucht Brühls Dienste zum Teil rund um die Uhr. Brühl setzte die Wünsche des absolutistisch denkenden Königs auch gegen Widerstände durch und erwies sich dem Herrscher gegenüber als vollkommen loyal. Dieses Verhalten trug ihm Hass, Ablehnung und üble Nachrede der oppositionellen Stände (Adel und Bürgertum) in Sachsen und Polen ein. Man begann gegen den dahergelaufenen Emporkömmling zu intrigieren – weil Talent, Intelligenz, Fleiß und Ehrgeiz eines nicht standesgemäßen Posteninhabers wohl auch damals schon Trägheit und Stumpfheit im Mittelmaß störten und aufscheuchten. Graf Joseph Gabaleon von Wackerbarth-Salmour, Adoptivsohn Wackerbarths sprach offen aus, dass er Brühl für einen skrupellosen Postenjäger halte, dem nahezu alle fachlichen und charakterlichen Voraussetzungen für eine Karriere im Staatsdienst fehlten. Doch damit biss er bei August auf Granit. Jeder Souverän brauchte schließlich Männer, die sich für ihn die Finger krumm und schmutzig machten. Und Brühl war in Sachsen dieser Mann, er übernahm die heikelsten Aufträge, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

Zum Beispiel den, eine gut arbeitende Spionageabwehr aufzubauen. Brühl schaffte dieses in kürzester Frist und mit beachtlicher Intelligenz. Die Fäden des Nachrichtennetzes in Sachsen und Polen liefen im Schwarzen Kabinett zu Warschau zusammen. Fortan lagen die höchsten Geheimnisse der ausländischen Diplomaten als Abschrift auf Augusts Schreibtisch. Flemming, Löwendal, Watzdorf (der auf Betreiben Brühls 1733 auf den Königstein gebracht wurde; aber dies gehört eigentlich zu einer Liebesgeschichte) und die anderen einstigen Größen waren tot oder fristeten nur noch ein Schattendasein.

Brühl wuchs also langsam in die Rolle eines ersten Mannes, zumal Augusts Gnadensonne über ihm leuchtete. Seit 18 Monaten war er Minister und seinem Herrn nahezu unentbehrlich. Zwischen Herrscher und Minister bestand das beste Einvernehmen. Nie jedoch hat August II. einem seiner Minister gestattet, mehr zu sein als ein Werkzeug. Der Macht eines Günstlings waren somit enge Grenzen gezogen. Sobald er sie überschritt, verlor er das Vertrauen des Herrschers – und mit ihm oft genug auch seine Freiheit.

Selbst Jakob Heinrich von Flemming, der August von allen Mitgliedern des Geheimen Conseils am nächsten gestanden hatte, besaß nicht das Recht, eigenmächtig Befehle zu erteilen. Als er es trotzdem versucht hatte, war er sofort scharf zurechtgewiesen worden und übte reumütig Selbstkritik: „Allein Seine Majestät sind Herr und Meister und können es auch anders ordonnieren, als womit wir zufrieden seyn müssen. Ich nehme mir aus allen diesen Dingen eine Lehre vors Zukünftige, und des Königs Worte sind mir allezeit Gesetze."

Mit alter Flagge unter neuem Kapitän

Die Stellung, die sich Brühl am Hofe Augusts des Starken durch Zielstrebigkeit, harte Arbeit und umsichtige Entscheidungen erarbeitet hatte, führte ihn bis in die Ministerriege, und er besaß zeitweilig mehr Vollmacht als der leitende Staatsminister Heinrich von Flemming. Im Machtgefüge des Kurfürst-Königs war er eine feste Größe und für August nicht mehr wegdenkbar. Doch der „Starke“ wurde schwach, er alterte zusehends, und der Diabetes mellitus – weshalb ihm bereits eine Zehe amputiert werden musste – machte ihm mehr und mehr zu schaffen. Hinzu kamen Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen. Er wog zuletzt über 110 Kilogramm. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis er das irdische Reich verlassen würde. Was aber kam danach?

Friedrich August, der eheliche Sprössling, war das genaue Gegenteil seines Vaters. Er lebte nur für seine Neigungen, interessierte sich nicht für Politik und Wirtschaft und ließ die Zügel bei der Lenkung des Staates schleifen. Außer der Liebe zur Kunst und der Jagdleidenschaft hatte er nichts von seinen Vater mitbekommen.

Der päpstliche Gesandte in Warschau nannte den Thronfolger in einem vertraulichen Bericht „kenntnisarm, indolent (gleichgültig), weichlich, träg, zum Müßiggang geneigt". Flemming drückte sich etwas vorsichtiger aus, aber in der Sache stimmte er mit dem vatikanischen Diplomaten überein: „Er liebt die Pracht und den Schmuck und glaubt, Geschmack zu haben. Er liebt die Tafel, die guten Speisen und den Wein, aber ohne Ausschweifung. Er liebt die Musik der Italiener. Er hat die gewöhnlichen Neigungen aller Prinzen: Jagd, Pferde und Hunde."

 

Augusts Sohn hatte bereits einen Günstling, dessen Biografie der von Brühl glich. Vom ehemaligen Hofpagen hatte er sich hochgearbeitet und saß so fest im Sattel, dass er Konkurrenz nicht zu fürchten brauchte: Aleksander Józef von Sulkowski, 1695 in Krakau geboren und einer alten polnischen Adelsfamilie entstammend.

Am Dresdner Hof gab es genug Leute, die in Sulkowski den neuen Regierungschef sahen. Seit nunmehr zweiundzwanzig Jahren stand er im Dienste des neuen Kurfürsten, und das sprach für sich. Er war ein ausgezeichneter Schütze und vorzüglicher Reiter, und das schätzte Friedrich August II.; Brühl dagegen beteiligte sich an Jagden nur, wenn es die Hofetikette erforderte, und im Sattel vermochte er sich allenfalls ordentlich zu halten, wenn er ein lammfrommes Pferd ritt.

Auch bei einer Bewerbung um die polnische Krone war Sulkowski dank Geburt, Beziehungen und Konfession zumindest ebenso wichtig wie der die Materie beherrschende Brühl, auf längere Sicht als Pole sogar weniger entbehrlich. Und der Kurfürst umgab sich zudem ungern mit neuen Leuten.

Für Brühl gab es nur drei Möglichkeiten. Er nahm seinen Abschied vom Hofe und zog sich mit einer Abfindung auf seine Güter zurück, er blieb weiter Minister, aber ohne Befugnis und Einfluss, oder er musste sich dem neuen Herrscher auch unabkömmlich machen.

Das war also die Ausgangslage, als August der Starke am 1. Februar 1733 um 4 Uhr nach einem Schwächeanfall im Alter von 62 Jahren in Warschau verschied.

Die Postenjäger und Streber wurden aktiv. Der neue Herrscher würde sich wohl leichter lenken lassen als der Vorgänger mit seinem ausgeprägten Machtbewusstsein.

Jetzt musste Brühl handeln. Er machte dem versammelten Hof im Sächsischen Palais zu Warschau eindeutig klar, dass der Tod des Herrschers einen Tag lang geheim zuhalten sei. Schnell sicherte er Dokumente, messbare Werte, Geld und Juwelen und fuhr gen Dresden. Brühl traf am 22. Februar 1733, mehr als drei Wochen nach dem Tode Augusts, in Dresden ein. In der Nacht noch empfing ihn der neue Kurfürst mit offenen Armen, und auch Sulkowski sprach Brühl ob der Rettung des königlichen Barvermögens seine Anerkennung aus. Brühl wurde also in den Kreis des Kurfürsten aufgenommen. Er brauchte nur knapp drei Stunden, um festzustellen, dass seit dem Herrscherwechsel rein gar nichts geschehen war. Er sah, dass die Hilflosigkeit des Landesherrn unverkennbar war und Sulkowski – der mit den Ämtern eines Oberjägermeisters von Litauen, Direktors der Parforcejagd sowie eines Obersten in der Kursächsischen Armee, eines Oberkammerherrn, Oberjägermeisters von Kursachsen, Generals der Infanterie und Staatsministers des Auswärtigen begnadete Sulkowski – zwar als Waidmann eine gute Figur machte, von Verwaltungs-, geschweige denn Führungsaufgaben allerdings keine Ahnung hatte. Für Brühl stand wohl doch mehr zu Buche als eine Empfehlung des Primas von Polen. Die größte Trumpfkarte sah Brühl darin, dass er die letzten Stunden bei August dem Starken verbracht hatte. Dessen Worte konnte Brühl nun für seine Zwecke interpretieren, und die letzten Worte seines Vaters waren dem neuen Kurfürsten heilig.

Auch die äußeren Umstände passten in das Bild, welches Brühl sich machte. Augusts des Starken letztes Kabinett war schwach wie kaum eines zuvor. Den Vorsitz hatte Wackerbarth inne, der Dienstälteste, zuständig für militärische Belange, desinteressiert an allem, was nicht Armee hieß, schon kränkelnd. Als Intimus des verstorbenen Kurfürsten durfte er Rücksichtnahme erwarten. Die neuen Minister waren derart blass, dass selbst die Höflinge Mühe hatten, sich der Namen zu erinnern. Als profiliertester Minister neben Wackerbarth galt der junge Brühl.

Graf Sułkowski im Harnisch mit der Schärpe des Ordens vom Weißen Adler, dessen Ritter er war

Die erstrebte polnische Krone kostet in einer Wahlmonarchie viel Geld, und trotz seines mangelnden Intellekts begreift Friedrich August II. doch, dass nicht sein Jugendfreund und Jagdgenosse Sulkowski, sondern allenfalls der in der Materie steckende Brühl die Wahlgelder beschaffen kann.

Drei Tage nach seiner Ankunft in Dresden wird Brühl mit dem Departement Domestic Affaires betraut, und weitere elf Tage später ist er „Geheimrat“. Doch das kann nicht die Erfüllung seiner Wünsche sein, denn beides, Minister und Geheimrat, war er bereits unter August dem Starken gewesen. Die polnischen Angelegenheiten haben indessen Vorrang, zumal die Kaisertochter auch Königin werden will. Brühl macht sich ans Werk und besorgt das Geld für die Königswahl.

Die Polen zeigten wenig Neigung, noch einmal einen Sachsen zum König zu wählen. Es entbrannte der Polnische Thronfolgekrieg (1733–1738). Während Österreich und Russland nach einigem Zögern die Bestrebungen des neuen sächsischen Kurfürsten unterstützen, die den Fortbestand der Personalunion Sachsen-Polen bedeuteten, wollte Frankreich den früheren polnischen König Stanislaus I. Leszczyński (den Schwiegervater Ludwigs XV.) als Nachfolger einsetzen. Die Kriegshandlungen begannen 1733 mit dem Erscheinen russischer Truppen vor Warschau, woraufhin der sächsischen Partei die Wahl Friedrich Augusts gelang. Der einige Tage zuvor ebenfalls gewählte Stanislaus Leszczynski floh nach Danzig, das daraufhin 1734 von russischen und sächsischen Truppen eingenommen wurde. Aber erst die Aufgabe der Konföderation von Dzików beendete 1735 die Kampfhandlungen gegen die sächsischen Truppen in Kleinpolen.

Da in der Staatskasse nichts war, hatten halt Kredite hergemusst. Johann Christian von Hennicke, Brühls Vertrauter in Finanzdingen, hatte gute Beziehungen zu polnischen wie sächsischen Banken, auch zum Leipziger Bankhaus Oertel, das zum Hauptgeldgeber wurde. Damit begann Brühl seine Amtszeit zwar mit Schulden, aber es waren Schulden, die niemandem wehtaten. Viele hatten schon mit neuen Steuern gerechnet – und fühlten sich erleichtert.

Indem er dem Kurfürsten auch die Nachfolge seines Vaters als polnischer König sicherte, untermauerte Brühl seine Stellung als zweiter Mann im Staate, nach Sulkowski.

Am 23. Juni 1733 hatte Friedrich August II. endlich das neue Kabinett berufen. Brühl war durch seine Geldbeschaffungsaktion unentbehrlich, wurde einer der Kabinettsminister und zuständig für innere Angelegenheiten. Ihm unterstanden alle Staatsbeamten, auch die der beiden anderen Departements. Das Militärwesen blieb weiter bei Wackerbarth, zugleich Vorsitzender der Ministerversammlung aufgrund seines Dienstalters. Die Außenpolitik besetzte der Kurfürst mit Brühl und Sulkowski in gleichberechtigter Verantwortung; in den polnischen Angelegenheiten erschien ihm der Pole als besonders nützlich, doch da dieser in der Verwaltungspraxis unerfahren war, sollte Brühl dies ausgleichen. Diese Doppelbesetzung war wohl einmalig und zeugt von des Kurfürsten geringer Menschenkenntnis. Alle Dokumente mussten jetzt zwei Unterschriften tragen, jene von Brühl und die von Sulkowski.

Am 25. Juni erfolgte die erste Korrektur. Auch das Departement Kriegswesen wurde doppelt besetzt, Sulkowski erhielt die gleichen Vollmachten wie Wackerbarth. Der Kurfürst erklärte seine Entscheidung damit, dass eine Entlastung des alternden Wackerbarth vonnöten sei. Wahr war jedoch, dass Sulkowski interveniert hatte; er war den militärischen Belangen zugewandt, nicht den diplomatischen. Doch mit der Doppelbesetzung war noch nicht Schluss. Am 19. Oktober 1733 wurde Sulkowski auch dem Departement Inneres als Co-Minister zugeteilt und am 2. November 1733 das Vortragsrecht auf Brühl und Sulkowski beschränkt, wobei Letzterer allerdings von der Vorbereitung eines Vortrags und der Teilnahme an den Ministerberatungen befreit war.

Die Entscheidungsfreiheit war Brühl damit genommen. Für jede Maßnahme brauchte er jetzt die „zweite Unterschrift“. Das Vortragsrecht hatte er nur, weil er die Materie beherrschte und Sulkowski nicht, - aber so die kurfürstliche Weisung - er musste in jedem Punkt Sulkowski informieren, der jedoch umgekehrt einer solchen Verpflichtung enthoben war.

Mit Wackerbarths Tod 1734 gab es im Kabinett eine grundlegende Verschiebung. Sulkowski leitete nun das Kriegswesen allein und war Co-Minister in den beiden anderen Departements. Da er zudem der Vertraute des Kurfürsten war, herrschte er nahezu uneingeschränkt. Doch dann, am 25. März 1735, übertrug der Kurfürst Brühl „die Aufsicht über sämtliche Cassen ... ingleichen die Beobachtung der Cammer- und Bergwerkssachen, wie nicht weniger die Verpflichtung des Cammer- und Accis-Collegii, auch Berggemachs“, und zwei Tage später erging an alle Instanzen die landesherrliche Spezialorder, „dass dergleichen Brief-, Porto- und Estaffettengelder ... auf bloße von Unserem Wirklichen Geheimen Rath von Brühl als Minister von dem Departement der domestiquen Affairen unterzeichneten Cabinetts-Verordnungen in Zukunft jedesmal an die Interessenten gezahlt werden sollen". Damit waren Brühl die Staatsfinanzen völlig in die Hand gegeben.

Um ein derart merkwürdiges Kabinett arbeitsfähig zu halten, musste ein Landesherr schon erfahrener sein als Friedrich August II. Offiziell war Brühl folglich zuständig für Sachsens Innen- und Außenpolitik. Dass er es nur halb war und dies auch noch zu verbergen hatte, brachte mancherlei Schwierigkeiten für ihn mit sich. Er jagte oft genug der „zweiten Unterschrift“ nach, musste mitunter monatelang warten, bis Sulkowski wieder einmal in Dresden weilte, erst ihm den Sachverhalt erläutern, dann dem Kurfürsten. All das widerstrebte Brühl. Brühl war ein Minister, der die Geschäfte besorgte, wurde als dirigierender Minister angesehen, doch entscheiden konnte er nichts.