Skandale

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Es ist beinahe unerträglich, wie selbstgerecht und zugleich lächerlich verklemmt es da zuging. Wie sich die voyeuristische Boulevardpresse und die klatschsüchtige Gesellschaft an dem Sittenskandal weideten, ohne das Treiben beim Namen zu nennen. „Wer waren ihre Freunde?“, fragte die „Frankfurter Rundschau“ nach Nitribitts Tod und suchte selbstverständlich ihre Freier.

Auch die Justiz des neuen Rechtsstaats bekleckerte sich nicht mit Ruhm: 22 Akten, zwei Tonbänder, Bildmaterial, Nitribitts Wohnungsschlüssel, eines ihrer Schamhaare und ihr sagenumwobenes Notizbuch mit angeblich über sechzig bekannten Kundennamen verschwanden spurlos und tauchten erst fünfzig Jahre später teilweise wieder auf. Die Ermittler waren fahrig und fahrlässig.

Bekannte und Weggefährten beschrieben die Nitribitt als charmant, vulgär und verspielt; als knallhart und dominant; und als einsam und voller Ängste. Rosemarie Nitribitt hatte wenig Freunde, und selbst die waren eher Bekanntschaften.

Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hatte Nitribitt viel erreicht. Aber die Grenzen ihrer Entfaltung waren deutlich. So war und ist es nun mal: Der Kunde hat das letzte Wort. Da es nach oben nicht weiterging und sie auf keinen Fall wieder nach unten wollte, kostete Nitribitt in vollen Zügen alles aus, was sie um sich herum zu fassen bekam: In ihrem dreiteiligen Kleiderschrank stapelten sich Spitzenwäsche und über 50 Paar Schuhe. Mitten im Sommer 1957 kaufte sie sich einen Wildnerzmantel für 11 000 DM und einen ebenso wertvollen Brillantring. Erspartes lagerte sie am Finanzamt vorbei in einer blauen Kassette im Wohnzimmerschrank.

Starb sie, weil sie zu viel wusste?

Vielleicht ist es wahr, dass Rosemarie Nitribitt im Konsumrausch den Bogen auch mit ihren Kunden überspannt hat. Bis heute halten sich Gerüchte, dass sie sterben musste, weil sie zu viel wusste. Dass sie Spitzenpolitiker und Wirtschaftsbosse mit Scheinschwangerschaften oder deren Bloßstellung erpresste.

Eines der Gerüchte über Rosemarie Nitribitt klingt wie ein Ende, das man ihr alternativ gewünscht hätte. Angeblich wollte sie aussteigen, in eine Bar, eine Pension oder ein Gestüt investieren. Wollte sie doch noch ihren alten Traum von einem „grossen Salon“ erfüllen, nicht als Ehe-, sondern als Karrierefrau?

Die Wahrheit ist: Kurz vor ihrem Tod bestellte Nitribitt ein schwarzes Mercedes Coupé 300 S mit dunkelgrünen Sitzen für 34 500 DM, weil ihre Kunden sich über den unbequemen Einstieg des SL beschwert hatten. Am 29. Oktober war der Wagen abholbereit. Gegen 15 Uhr an diesem Tag empfing Nitribitt den letzten Freier, danach kaufte sie gegen halb fünf Uhr in Fritz Matthias Metzgerei ein Pfund Kalbsleber für Pudel Joe. Das Auto holte sie nicht mehr ab. Rosemarie Nitribitts Ende war wohl unausweichlich. „Irgendwann schlägt mir noch einer den Schädel ein“, sagte sie einmal zu einem Bekannten.

Bis zuletzt kämpfte Rosemarie Nitribitt. Bis zuletzt war sie von Scheinheiligkeit umgeben. Der Pfarrer verweigerte ihr das letzte Geleit. Ein anonymer Auftraggeber spendete ihr, dem Freudenmädchen, den Grabstein mit der biblischen Inschrift: „Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein im Leben“. Noch nach über 60 Jahren ist Nitribitts Grab gepflegt, manchmal stehen frische Blumen darauf.

Der Traum vom sozialen Aufstieg der Rosmarie Nitribitt endete böse.

Skandal im Kanzleramt (1972)

Ein Stasi-Spitzel im Zentrum der Macht, im Bonner Kanzleramt. Das war einer der größten Erfolge des DDR-Geheimdienstes, den es gegeben hat. Bundeskanzler Willy Brandt droht zu stürzen, über den eigenen Referenten. Man setzt den Kanzler der Bundesrepublik einer solchen Situation aus. Jahrelang führt der Agent ein Doppelleben zwischen Verehrung und Verrat.

Wer war er eigentlich, ein Freund des Kanzlers oder ein Mann von Markus Wolf – oder beides gemeinsam? Der Spion im Schatten des Kanzlers - Günter Guillaume.

24. April 1974: Ein unauffälliges Miethaus in der Ubierstraße 107 im Bonner Stadtteil Bad Godesberg. Im Morgengrauen bringt sich ein BKA-Kommando der „Sicherungsgruppe Bonn" vor der Tür zur Wohnung des Ehepaares Guillaume in Stellung. Dann wird an der Tür geklingelt, Günter Guillaume öffnet, denn er erwartet die Milch- und Brötchenlieferung. Er ahnt nicht, wer seine sonstigen Besucher sein konnten. Nachdem er die Haustüröffnung betätigte, nimmt er bereits am Geräusch im Treppenhaus war, dass es mehrere Menschen sind, die Einlass begehrten.

Die Beamten kennen ihr Ziel, 1. Stock rechts. Sie haben einen Haftbefehl dabei, unterzeichnet von Bundesgeneralanwalt. Er betrifft auch die Frau des Spions, Christel Guillaume. Dann standen sie vor der Wohnungstür. Guillaume öffnet noch im Bademantel. Der Sohn des Ehepaars Guillaume, Pierre Boom, wird von dem Lärm der Polizisten geweckt und kommt aus seinem Zimmer. Er ahnt nichts vom Doppelleben seiner Eltern und wird zurück in sein Zimmer geschickt. Er saß dann auf seinen Bett und konnte sich das Ganze nicht erklären. Ein schlechter Traum? Er schaut aus dem Fenster und sieht die Straße voller Polizeiwagen stehen. Schwer bewaffnet mit Maschinenpistolen sperrten die Männer die Straße.

Das Ehepaar Guillaume wird verhaftet. Die Polizei durchsucht die Wohnung. Frau Guillaume durfte sich von ihrer weinenden Mutter und ihren Sohn verabschieden, bevor sich die Handschellen schlossen. Günter und Christel Guillaume, Top-Spione der DDR-Sicherheitsorgane. Dass sie es soweit schaffen würden, damit hatte niemand gerechnet.

***

Günter Karl Heinz Guillaume wird am 1. Februar 1927 in Berlin geboren und wird mit 17 Jahren Soldat (Flakhelfer) der Wehrmacht. Ein Jahr später erlebt er das Ende des Dritten Reichs. Nach dem Krieg tritt er 1952 in die SED ein und gelangte 20 Jahre später als Spion der Stasi in das westdeutsche Kanzleramt.

Er war bei Kriegsende 18 Jahre alt und war noch geprägt von den Kriegserlebnissen. Er hat das ganze Ende und die schwere Nachkriegszeit erlebt. Plötzlich teilte der Eiserne Vorhang Europa. Die Sowjetunion dehnt ihren Machtbereich nach dem Westen aus. Am 7. Oktober 1949 wird die DDR gegründet, ein zweiter deutscher Staat mit sozialistischer Prägung. Das gegenseitige Misstrauen gipfelt im Spionagewettstreit. Den westdeutschen Geheimdienst gründet ein ehemaliger General der faschistischen Wehrmacht, Reinhard Gehlen. Im Osten baut der der SED-Mann Erich Mielke ab 1950 das Ministerium für Staatssicherheit auf. Sie nannten sich selber „Schwert und Schild der Partei“. Das eine war die Absicherung des Staatsapparates durch die Überwachung. Und das war etwas, was der Bundesnachrichtendienst im anderen Teil Deutschlands überhaupt nicht darf. Die Stasi hatte gleichzeitig eine polizeiliche Befugnis und durfte Leute festnehmen. Es gab eigene Stasi-Gefängnisse. Sie überwachte die eigenen Bürger mit großem Aufwand. Abhörgeräte, Briefkontrollen und Spitzel an jeder Ecke.

Die Auslandsspionage ist organisiert in der HVA, Hauptverwaltung für Aufklärung, die an 1952 von Markus Wolf geführt wurde. Der Sohn eines jüdischen Arztes wird am 19. Januar 1923 geboren und wächst nach der Emigration 1934 im sowjetischen Exil auf. Er wird an der Parteischule der Komintern (Kommunistische Internationale) ausgebildet, um nach Kriegsende in den Westen zu gehen. Er kehrte er 1945 nach Deutschland zurück und trat 1946 in die SED ein. Dort macht er schnell Karriere. Mit erst 29 Jahren wird er Leiter des außenpolitischen Nachrichtendienstes der DDR. Im Westen bleibt Wolf lange „der Mann ohne Gesicht“. Erst 1979 gelingt es Agenten des BND das Phantom zu enttarnen.

Wolf war ein sehr intelligenter Mann, der eine glaubhafte und eindrucksvoll antifaschistische Geschichte hatte, aber er war mit seiner Tätigkeit in der Stasi an vorderster Stelle bei der Aufrechterhaltung der DDR beteiligt. Das auch mit Methoden, die man bei einem Geheimdienst für problematisch hält und eigentlich nur noch bei der CIA, dem KGB und dem israelischen Mossad findet.

Im Jahr 1950 wurde Günter Guillaume Redakteur im Verlag Volk und Wissen in Ost-Berlin. Die Stasi heuert ihm an. Er soll in die BRD reisen und Gewerkschaften und nahestehenden Parteien mit Propaganda-Material versorgen. 1951 lernt er die Sekretärin Christel Boom kennen. Ein Jahr später heiraten sie und werden von der HVA für einen Einsatz im Westen trainiert. Observation, geheimdienstliche Nachrichtenübermittlung, Abschütteln von Verfolgern.

Die Stasi sprach unterschiedlichste Personen an, um sie als Informanten zu gewinnen. Das versuchte natürlich auch der BND, um Informanten im Osten zu rekrutieren. Die Geschäftsregeln für beide Systeme waren ähnlich.

Günter Guillaume wurde zum verbeamteten Spion. Agenten der HVA haben einen klaren Auftrag. Ausspähen von Politik, Militär, Wirtschaft und Technologie im feindlichen Westen. Guillaume Ungefähr 10 bis 12 000 Spione der DDR waren in der Bundesrepublik aktiv im Einsatz. Viele Ostagenten arbeiten jahrelang unerkannt im Westen, auch in den Medien. Selbst in der Spiegel-Redaktion saßen sie. Die Guillaumes eignen sich gut als Spione, denn Ehepaare scheinen unverdächtig. Christels Mutter, eine Holländerin, dient als Alibi für die Übersiedlung. Durch ihre holländische Staatsbürgerschaft kann Erna Boom problemlos aus der DDR ausreisen. Sie meldete ihren Wohnsitz in Frankfurt am Main an, so dass das Ehepaar am 13.Mail 1956 über die noch offene Grenze in den Westen „flüchten“ konnte, ohne sich den geheimdienstlichen Befragungen im Notaufnahmelager zu unterziehen. Die Legende dazu: Familienzusammenführung mit Mutter Erna. Im Gepäck eine „Starthilfe“ in Höhe von 10.000 DM. Allein im Mai 1956 kehren 25 000 Ostdeutsche, alerdings zumeist ohne „Starthilfe“ der DDR den Rücken. Einerseits als Republikflucht geahndet, bietet das für die HVA auch die Chance, unbemerkt weitere Spione in den Westen zu schleusen, denn ein ganzer Teil der „Republikflüchtigen“ arbeitet für die HVA.

 

Die Guillaumes ziehen auch nach Frankfurt am Main und werden auf die SPD Hessen-Süd angesetzt. Es ging nicht nur um pure geheimdienstliche Erkenntnisse, sondern auch um die politische Aufklärung. 1957 wird Guillaume Mitglied der SPD und etabliert sich beim rechten Flügel der Partei. Das Ehepaar machte durch Fleiß in der Parteiarbeit auf sich aufmerksam. Die Familie führt zunächst den kleinen Tabakladen „Boom am Dom“, eine Anlaufstelle für Ost-Spione. Der Austausch von Informationen erfolgt durch präparierte Zigarettenhülsen. Das Leben der Familie in Frankfurt wird weiter aus der DDR dirigiert. Die Stasi hat zumeist den Ehepaaren geraten, kinderlos zu bleiben, denn Kinder wachsen in Westdeutschland auf und wissen nichts von der Tätigkeit der Eltern und eine solche Legende gegenüber den eigenen Kindern aufrechtzuerhalten über Jahrzehnte ist sehr riskant. Doch die Guillaumes gehen das Risiko ein und Sohn Pierre kommt zur Welt. Die Stasi schickt geheime Glückwünsche übers Radio, bei vielen Geheimdiensten damals eine gängige Methode. Der Funkspruch aus Ost-Berlin lautet: „Glückwunsch zum zweiten Mann.“

Eiszeit im Kalten Krieg. Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 ist die Spaltung Deutschlands in Beton gegossen. Der Osten schottet sich ab und hat fortan ein Problem. Um Agenten einzuschleusen, muss die Stasi geheime Grenzübergänge einrichten. Günter und Christel folgen weiter ihren Auftrag. Christel macht zuerst Karriere. Anfang der 60iger Jahre wird sie Büroleiterin bei Willi Birgelbach, Bezirksvorsitzender der SPD Hessen-Süd und Mitglied des Bundesvorstandes. Günter wird 1968 Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Frankfurter Stadtrat. Sohn Pierre begleitet ihm auf Parteifesten. Günter hatte sehr großes Talent, die bei Leuten beliebt zu machen, weil er äußerst umtriebig, gut organisiert und sehr arbeitseifrig war.

Auf Weisung von Markus Wolf sucht nun der Spion den direkten Weg zu Macht. Er zieht in den Wahlkreis von Verkehrsminister Georg Leber und bewies dabei sein Organisationstalent, was dem Minister eine sehr hohe Anzahl von Erststimmen einbrachte. Günter Guillaumes Berichte an die HVA wurden 1990 vernichtet, doch Reste bleiben in der MfS-Datenbank zurück. Ausführliche Berichte von 1969 über Georg Leber. Regelmäßig reisten Kuriere von Ost-Berlin nach Frankfurt, mit dem sich Guillaume konspirativ dann traf und Material übergab. War das nicht möglich gab es dann die „Toten Briefkästen“.

Sieben Jahre lang hat sich nun Günter und Christel Guillaume im Westen hochgearbeitet. Jetzt zahlt sich die Mühe aus. Christel ist mittlerweile in der Staatskanzlei der Landesregierung in Hessen beim Staatssekretär Birgelbach hoch angesehen. Georg Leber empfiehlt ihm mit einem persönlichen Brief ans Kanzleramt Günter als äußerst zuverlässigen Mann.

1969 wird Willy Brandt erster sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik. Seine Biografie verspricht eine neue politische Kultur. Geboren am 18. Dezember 1913, als Herbert Frahm in Lübeck. Er war ein uneheliches Kind. Nach Beginn der NS-Diktatur emigrierte er 1933 nach Norwegen und lebte hier mit Frau und Tochter bis Kriegsende im Exil. In Deutschland wird er 1957 als regierender Bürgermeister von West-Berlin bekannt. Während Westberliner und Westdeutsche Jugendliche gegen das alte System und dessen Autoritäten protestieren, versucht Willy Brand den Brückenschlag der Generationen. Bis 1966 übte er dieses Amt aus. Als die Sozialdemokratie nach 20 Jahren CDU-Regierung ins Kanzleramt einzog, wurde Willy Brandt 1969 Bundeskanzler. Und es werden neue Mitarbeiter gebraucht. Nun ist das Kanzleramt nur eine kleine und überschaubare, aber auch eine sehr sensible Behörde, von heute auf morgen mussten fast alle Mitarbeiter ausgetauscht werden. Guillaume soll Gewerkschaftsreferent werden und rückt immer mehr an die Schaltstelle der Macht. Doch seine DDR-Herkunft erregt Verdacht. Droht der Ost-Spion aufzufliegen?

An sich, als er ins Kanzleramt kam, müsste er sich der Sicherheitsüberprüfung für Verschlusssachen unterziehen. Und dort hätte auffallen müssen, dass bei der Legendenbildung Pannen passiert sind. Es gibt Verdachtsmomente gegen den vermeintlichen Ost-Flüchtling, aber sie werden nicht konsequent verfolgt. Staatssekretär Egon Bahr bleibt dennoch misstrauisch und er rät dem Kanzleramtschef von einer Einstellung von Guillaume ab. Doch seine Warnung verhallt ungehört. Im Januar 1970 unterschreibt Guillaume seinen Arbeitsvertrag. Er bezieht ein kleines Büro in der Abteilung Wirtschaft und Soziales. Die ganze Familie freute sich darüber, dass der Vater einen Sprung von der Landes- auf die Bundesebene gemacht hat.

Ein Spion im Zentrum der Macht, die Stasi kann ihr Glück kaum fassen. Markus Wolf hielte das noch 1999 für unmöglich, dass dieses geschafft wurde. Er war ja als DDR-Bürger mit seinem richtigen Namen bekannt und auch davon ausgehend, dass er SED-Mitglied war. Man wagte gar nicht davon zu träumen, aber der Traum wurde wahr.

Seit 1955 gilt im Westen die sogenannte Hallstein-Doktrin. Die DDR wird nicht als legitimer Staat anerkannt. Das macht eine Annährung unmöglich. Willy Brandt will das ändern. Er setzt auf Aussöhnung mit dem Osten. Man merkte, dass es mit noch mehr Atomwaffen und Konfrontation einfach nicht mehr weitergeht. Die neue Maxime der Bonner Regierung hieß Wandel durch Annäherung. Der Kanzler will den kalten Krieg friedlich überwinden. Seine Ost-Verträge markieren den Neubeginn. Mit dem Moskauer Vertrag von 1970 erkennt die Bundesrepublik die Ost-Grenzen an. Im selben Jahr wird Brandts Kniefall in Warschau weltberühmt als Geste der Entspannungspolitik. Für viele Ost-Bürger ist er der Friedens-Kanzler. Die DDR-Führung aber bleibt skeptisch. Meint es Brandt wirklich ernst?

Die neue Politik war natürlich vom großen außenpolitischen Interesse, aber sie verlief auch nicht so geradlinig, dass man meinen konnte, nun ist der große Frieden ausgebrochen und alles geht in Richtung Normalisierung.

Guillaume ist inzwischen begeisterter Anhänger des Kanzlers. Und überzeugt davon, mit seinen geheimen Berichten im Sinne Brandts zu handeln. Es war aber Verrat, nicht nur an der Bundesrepublik, sondern auch an den Personen, die ihm vertrauten, als an Willy Brandt und wie man aus so einer Verrats-Geschichte etwas Gutes erreichen wollte, hat sich nicht erschlossen.

Guillaume fällt auf, weil er allzu sehr gefallen möchte, sein liebdienerisches Verhalten kam nicht überall gut an. So legte er Spitzenbeamte Präsente zu Ostern, Nikolaus und Weihnachten auf dem Schreibtisch. Das sorgte zumindest für hochgezogene Augenbraunen und Kopfschütteln. Er war also ein Außenseiter, aber dann auch wieder nicht.

Guillaumes Amt erfordert neue Kommunikationswege. Die Kuriere Wolfgang und Anita Rausch treten in Aktion. Anita fuhr als Anhalterin im Auto von Günter Guillaume mit und er erläuterte ihr die Situation. Bei weiteren geheimen Treffen gab dann Guillaume sein gesamtes Wissen aus dem Kanzleramt an die „Kollegen“ weiter.

1972 gerät Brandts Mehrheit im Bundestag in Gefahr. Aus Protest gegen seine Ostpolitik wechselten mehrere Abgeordnete der Regierungsfraktion die Seiten. Die Opposition von CDU/CSU stellt die Misstrauensfrage, und will CDU-Mann Barzel zum neuen Kanzler wählen lassen.

In der DDR traut man mittlerweile Brandts Entspannungspolitik und der Sozialdemokrat soll im Amt bleiben. Obwohl Gegenkandidat Barzel rein rechnerisch die Mehrheit besitzt, fehlen ihm am Ende zwei Stimmen. Vieles deutet daraufhin, dass die von der Stasi gekauft wurden. Brandt bleibt im Amt, aber im Parlament fehlt ihm die Mehrheit. Im Herbst 1972 finden vorgezogene Neuwahlen statt. Günter Guillaume rückt nun noch mehr an den Kanzler heran. Er organisiert den Wahlkampf und begleitet Brandt im Sonderzug. Rund sechs Wochen sind sie unterwegs. Der Fahrplan ist von Guillaume abgestimmt. Er war der unscheinbare Taschenträger des Kanzlers, und man hat das Gefühl, dass er den Kanzler liebte.

Der Spion zeigt Fleiß, war ein Arbeitstier, ein Organisationstalent – aber kein Gesprächspartner für den Kanzler. Brandt suchte immer solche Partner, die ihm politisch und intellektuell anregten und Guillaume war nicht der Mann mit der richtigen Bildung dafür. Aber so unbefriedigt er auch als Gesprächspartner war, Brandt schätzte seinen Arbeitseifer und seinen Ordnungssinn. Der Sonderzug ist ein rollendes Büro und per Fernschreiber mit dem Kanzleramt verbunden. Auf diese Weise erhält Gunter Guillaume zum ersten Mal die geheimsten Informationen. Die gesamte Arbeit des Kanzleramtsministers und seiner Mitarbeiter lief nun über Günter Guillaume. Es hieß in den Schreiben „an den Herrn Bundeskanzler über Herrn Guillaume“.

Ist der Kanzler auf der Wahlkampfbühne trifft sich Guillaume heimlich mit seinen Kontaktmann. In Restaurants und Kneipen werden neue Informationen übergeben.

Willy Brand gewinnt am 19. November 1972 die Wahl. Nie zuvor hat die SPD ein besseres Ergebnis geholt. Mit der erfolgreichen Wahlkampagne macht sich Guillaume nun für den Kanzler unentbehrlich du wird Brandts Parteireferent, eine Spitzenposition mit Zugang zu allen Korridoren der Macht. Da bekommt man mit, wer welche Position vertritt, kann Schädlinge entlarven, sieht, wer für die DDR nützlich ist oder sein kann, wie man sich mit kommunistischen Strömungen auseinandersetzen will und mit dieser Rolle hat er auch die Kontakte zu Sozialdemokraten in anderen Ministerien gehabt. Er kannte die Netzwerke und die Partei des Netzwerkes.

Wichtige, als geheim eingestufte Dokumente nimmt Guillaume mit nach Hause und fotografiert sie ab. 1973 übermittelt er die Pläne der Bundesregierung zum Osthandel. Ganze Aktenberge kann Guillaume aus dem Kanzleramt tragen, denn sein Koffer wir nicht kontrolliert. Er war ein wandelndes Kanzlerbüro, weil er auch den Kanzler außerhalb des Hauses begleitete du niemand wäre auf die Idee gekommen, seine Aktentasche oder dem Aktenkoffer des Kanzlers, den Guillaume stets bei sich hatte, zu kontrollieren. Guillaume folgt dem Kanzler auf Schritt und Tritt und ist gefangen zwischen Verehrung und Verrat. Dieser Widerspruch war ein Kernwiderspruch in seinem Leben überhaupt, den er auch bis zu seinem Tod nie gelöst hatte. Denn er war nicht gewillt, eine der beiden Loyalitäten freiwillig aufzugeben. Dazu war dann der harte Einschnitt der Enttarnung erst nötig.

1973 verdichtet sich beim Verfassungsschutz der Verdacht gegen Guillaume. Zum Verhängnis wird ihm nicht zuletzt der Radiogruß von 1957 aus dem Stasi-Hauptquartier, die Glückwünsche zum Geburt des Sohnes. Der BND hat die alten Codes entschlüsselt. Verfassungsschutzpräsident Günter Nollau legt den Innenminister ein Dossier mit 30 Verdachtsmomenten vor. Aber für eine Festnahme fehlen noch handfeste Beweise. Guillaume soll zunächst im Amt bleiben und auf frischer Tat ertappt werden. Das war mehr wie fahrlässig. Brandt wurde ja erst viel später eingeweiht. Innenminister Genscher rät dem Kanzler, sich nichts anmerken zu lassen. Brandt hält die Vorwürfe für abwegig, spielt das Spiel aber mit.

Die Geheimdienste wollen zunächst Christel Guillaume bei einer Übergabe fassen, aber sie bemerkt ihre Verfolger. Die Stasi rät dem Ehepaar, die Spionagetätigkeit einzustellen. Doch Guillaume wittert eine große Chance. Er soll den Kanzler in den Urlaub begleiten. Nie wieder wird er Brandt so nah sein. Im Juli 1973 fahren beide Familien ins norwegische Urlaubsdomizil. Sohn Pierre ist damals 16 Jahre alt.

In der skandinavischen Idylle erleben sie alle entspannte Ferientage, immer in Sichtweite Guillaume. Auch die Stern-Journalistin Wibke Bruhns reist nach Norwegen, um ein Buch über Brandt zu schreiben. Und sie merkte, dass Brandt nicht so sehr darauf erpicht war, dass Guillaume immer in seiner Nähe war. Obwohl der Mann hochverdächtig ist, wird er nicht beschattet. Insoweit verständlich, denn in der menschenleeren Gegend dort wäre jeder Observant sofort aufgefallen. Die Amtsgeschäfte des Kanzlers laufen auch im Urlaub weiter. Und wieder landen die Nachrichten aus dem Fernschreiber zuerst bei Guillaume. Interessant dabei ein Briefwechsel mir US-Präsident Nixon. Im Sommer 1973 herrschten im transatlantischen Bündnis Spannungen. Hochbrisante Informationen, die den Osten ein Bild von zerrissenen Nato-Partnern vermitteln können. Insgesamt 49 Fernschreiben gehen hier durch seine Hände, 11 davon als geheim eingestuft. Nutzt sie Guillaume?

Markus Wolf bestreitet später, diese Informationen erhalten zu haben. Wollte Guillaume jetzt aufgeben? Er bestreitet das.

Zurück in Bonn wird Guillaume nun rund um die Uhr observiert, Männer des Verfassungsschutzes begleiten ihn auch auf eine Dienstreise nach Frankreich. Warum er die Reise nicht zur Flucht genutzt hat, ist für Markus Wolf ein Rätsel. Wir wussten nicht, dass er observiert wurde, dass wusste er nur selbst. Wir hatten ja jegliche Verbindung eingestellt“, so der Ex-Geheimdienstchef. „Es kam und gab keinen Befehl aus Berlin. Ich hätte es auch nicht getan und meine Familie im Schlamassel sitzen lassen“, so Guillaume.

 

Anstatt zu fliehen fährt also Guillaume zurück nach Bonn. Die ersten Hinweise auf seine Spionagetätigkeit sind schon fast ein Jahr alt, als der Zugriff erfolgt. Der Spion tut etwas Unglaubliches. Als die Polizei in seine Wohnung kam, stand er da im Bademantel und sagte: „Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren“.

Das war das dümmste was er machen konnte und er lieferte selbst den Beweis mit seinen Worten, denn in der Wohnung fand man nichts. Dieser Satz war ein wesentlicher und gerichtsverwertbarer Aspekt, der gegen ihn sprach, da bis zu seinem Geständnis die Beweislage relativ dünn war. Laut Guillaume galt aber das Geständnis seinen Sohn Pierre, der bis dahin ahnungslos war. Vor den Augen des 17jährigen führt das BKA Eltern und Großmutter ab. Dass der Junge nicht allein blieb, übernachtete ein BKA-Beamter mit in der Wohnung. Pierre unterhält sich mit dem Mann die ganze Nacht und erfährt die Wahrheit über seine Eltern.

Der Verdacht gegen die Oma lässt sich nicht erhärten, sie wird entlassen. Die Eltern bleiben in U-Haft. Willy Brandt kommt von einem Staatsbesuch aus Ägypten zurück und wird von der Verhaftung seines Referenten informiert. Der Kanzler unterschätzt die Meldung von der Verhaftung. Schon nach kurzer Zeit erfährt es die Öffentlichkeit und Brandt gerät ins Kreuzfeuer der Kritik. Er muss sich im Bundestag erklären.

Der Verfassungsschutz prüft, zu welchen Informationen Guillaume Zugang hatte. Dabei berichten Sicherheitsbeamte auch Details aus Brandts Privatleben. Guillaume habe ihm Frauen zugeführt, darunter auch Wibke Bruhns. Sie bestreitet das natürlich und sagt „Wir alle wissen doch in Bonn, wer Willys Brandts Geliebte war.“

Dass Brandt Affären hat, ist kein Geheimnis. Kann die Stasi ihm damit unter Druck setzen? Markus Wolf dazu: „Kein Politiker ist wegen seines Intimlebens erpressbar“. Fraktionschef Herbert Wehner informiert den Kanzler über die Vorwürfe und Wehner wird sein größter Kritiker. Er stellte sich auch nur lauwarm hinter Brandt in dieser Krisensituation. Brandt wusste nun, er hatte die Partei nicht mehr hinter sich. Sein Fokus liegt auf der Außenpolitik. Daheim zermürben ihm Staatsschulden, Ölkrise und steigende Arbeitslosenzahlen. Der Kanzler wirkt amtsmüde. Die Guillaume-Affäre war nun die Möglichkeit, aus dem Amt zu scheiden. So sah es zumindest Nachfolger Helmut Schmidt. Für Willy Brandt wir der Druck zu groß, im Mai 1974 erklärt er seinen Rücktritt. Ist Guillaume nur der Tropfen, der das Fass überlaufen lässt?

„Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass geheime Papiere durch die Hände des Agenten gegangen sind. Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie und auch, um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen."

Die Affäre war der Anlass, nicht der Grund, denn Brandt war psychisch und physisch angeschlagen, politisch und privat. Der Rücktritt schockiert das deutsche Volk in West und Ost und für den Agentensohn geht mit dem Kanzler auch ein großes Idol. Er findet es heute noch tragisch, dass sein leiblicher Vater seinen politischen Vater ein Ende bereitet hat. Brandt stürzt über den Spion eines Regimes, was ihm zu stützen versuchte. Die sprichwörtliche Ironie der Geschichte. Der Drahtzieher in Ost-Berlin ist fassungslos. „Das war für unseren Nachrichtendienst ein Eigentor und ein ganz schlimmes dazu“. Guillaume dazu: „Darüber würde ich mich gern mit Herrn Wolf selbst unterhalten“.

Nicht die Geheimnisse und Verrat von Guillaume verändern die Geschichte, nur seine Position im Zentrum der Macht. Am 15. Dezember 1975 wurde Günter Guillaume vom 4. Strafsenat des OLG Düsseldorf unter anderem wegen Landesverrats zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe und fünf Jahren Verlust der Amtsfähigkeit und der Aberkennung des aktiven Wahlrechts verurteilt, seine Frau zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Und auch im Gefängnis war die HVA an seiner Seite. Der Sohn darf die Eltern regelmäßig besuchen. Seine Fragen aber beantworten sie nicht.

1981 schließen die beiden deutschen Staaten einen Deal zum Gefangenenaustausch. Nach sechs Jahren Haft werden die Guillaumes vorzeitig entlassen. Nach 25 Jahren im Einsatz trifft der Top-Spion seinen Chef in Ost-Berlin wieder. Beide Eheleute erhielten den Karl-Marx-Orden; Günter Guillaume wurde zum Oberst im MfS befördert, seine Frau Christel zum Oberstleutnant im MfS. Fortan trat Günter Guillaume bei MfS-Agentenschulungen als „Stargast“ auf. Am 28. Januar 1985 verlieh die Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam Guillaume in „Anerkennung seiner besonderen Verdienste um die Sicherung des Friedens und die Stärkung der DDR“ den Titel „Doktor der Rechtswissenschaft (ehrenhalber)“. Guillaume Ehe war während der Haft zerbrochen. Aufgrund einer Affäre, die Günter Guillaume am Tag seiner Rückkehr in die DDR mit der ebenfalls für das MfS arbeitenden Krankenschwester Elke Bröhl begonnen hatte, ließ sich Christel Guillaume am 16. Dezember 1981 von ihrem Mann scheiden. 1986 heiratete Günter Guillaume die 17 Jahre jüngere Bröhl, deren Familiennamen er annahm.

Der Sohn des Ehepaars Guillaume, Pierre Boom, ging nach der Verhaftung seiner Eltern 1975 in die DDR, wo er eine Ausbildung zum Fotojournalisten absolvierte. 1988 stellte er einen Ausreiseantrag und siedelte mit seiner Familie noch im selben Jahr in die Bundesrepublik über. Weil das MfS seine Ausreise unter dem Namen Guillaume nicht zulassen wollte, nahm er den Mädchennamen seiner Mutter an, den diese durch Adoption durch einen Niederländer erworben hatte, und nannte sich fortan Pierre Boom.

Im November 1990 fällt die Mauer, dass MfS gab es nicht mehr. Für Günter Guillaume brach eine Welt zusammen. Der Kontakt mit Sohn Pierre kam nun endgültig zum Erliegen und Guillaume verschwand in der Versenkung. Im Archiv des MfS existiert aber noch ein Film mit dem Titel „Auftrag erfüllt“, welcher über Spionen-Paar nach ihrer Rückkehr gedreht wurde. Während Christel Boom ihr verpfuschtes Leben bedauert, war Günter Guillaume von seinen Einsatz für den Frieden bis zu seinem Tod überzeugt. „Einiges geschah damals ohne mein Zutun. Für die weitere Karriere im Bundeskanzleramt reichte es, mich als Mann des Volkes immer wieder in Erinnerung zu bringen, als Praktiker, der es verstand, den einfachen Leuten aufs Maul zu schauen", schreibt Guillaume 1988 in seinen von der Stasi publizierten Erinnerungen.

Günters erste Frau starb als Christel Boom am 20. März 2004 an einem Herzleiden. Am 10. April 1995 starb Günter Bröhl an metastasierendem Nierenkrebs in Petershagen/Eggersdorf, nahe Berlin. Willy Brandt starb am 8. Oktober 1992.

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