Politisch motivierte Morde

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Die Ermordung Ernst Eduard vom Rath und die schrecklichen Folgen

Ernst Eduard vom Rath, das Opfer, wurde am 3. Juni 1909 geboren und war ein deutscher Diplomat und Botschaftssekretär in Paris. Vom Rath besuchte das Realgymnasium in Breslau. Sein Jurastudium absolvierte er in Bonn, München und Königsberg. 1928 wurde er Mitglied des Corps Palatia Bonn.

Der Eintritt in die NSDAP erfolgte am 14. Juli 1932, in die SA im April 1933. Ab 1934 nahm er den Posten eines Gesandtschaftsattachés im Auswärtigen Amt ein, 1935/36 absolvierte er den Vorbereitungsdienst in Paris als persönlicher Sekretär seines Onkels. Am 24. Juni 1936 bestand er die diplomatisch-konsularische Prüfung und wurde im Generalkonsulat in Kalkutta eingesetzt. Dort erkrankte er im Dezember 1937 nach eigenen Angaben an einer schweren Amöbenruhr (Die Amöbenruhr oder Amöbendysenterie, eine Form der Amöbiasis, ist die mit Bauchschmerzen, blutig-schleimigen Durchfällen und Tenesmen einhergehende Infektion des Darmes durch die Amöbe Entamoeba histolytica, einen Einzeller (Protozoon) und musste deswegen im März 1938 Indien verlassen.

Ernst Eduard vom Rath

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland zu einer mehrmonatigen Kur in St. Blasien wegen eines „Darmleidens“ erfolgte am 13. Juli 1938 seine Versetzung an die Botschaft in Paris, wo er am 18. Oktober 1938 zum Legationssekretär ernannt wurde. Entsprechend eidesstattlichen Erklärungen der behandelnden Ärzte litt vom Rath an einer homosexuell übertragenen gonorrhoischen Mastdarmentzündung. Er wählte in Berlin jüdische Ärzte zur Behandlung der Erkrankung, vermutlich um die Wahrscheinlichkeit einer Meldung oder Denunziation zu verringern.

***

Der Täter, Herschel Feibel Grünspan oder auch Hermann Grynszpan, wurde am 28. März 1921 in Hannover geboren. Er war ein in der Weimarer Republik geborener und aufgewachsener polnischer Staatsbürger jüdischen Glaubens.

Herschel Feibel Grünspan

Herschel besuchte die Bürgerschule I beziehungsweise die Volksschule Burgstraße bis zum Jahr 1935, ohne einen Abschluss zu machen. In Hannover war er Mitglied der Zionistengruppe Misrachi und des Sportclubs Bar Kochba. Nach Ansicht seiner Lehrer war er überdurchschnittlich intelligent, hatte aber keine Lust zu arbeiten. Mit Unterstützung seiner Familie und der hannoverschen jüdischen Gemeinde besuchte Grynszpan die in der Christgasse gelegene rabbinische Lehranstalt (Jeschiwa) in Frankfurt am Main, um unter anderem Hebräisch zu lernen.

Offenbar sagte ihm diese auf fünf Jahre angelegte Ausbildung nicht zu, denn er brach sie nach elf Monaten wieder ab. Mittlerweile hatte die Diskriminierung der Juden in Deutschland mit dem „Judenboykott“, dem „Berufsbeamtengesetz“, dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen und weiteren antisemitischen Gesetzen schon sehr konkrete Formen angenommen, so dass Grynszpan keine Arbeit und keine Lehrstelle fand. Er bemühte sich dann, nach Palästina auszuwandern, erhielt jedoch aufgrund seines Alters einen vorläufig abschlägigen Bescheid; er sollte sich in einem Jahr wieder bewerben.

Im Juli 1936 reiste Grynszpan im Alter von 15 Jahren mit legalen Dokumenten – einem polnischen Pass und einem von Belgien geforderten Rückreisevisum nach Deutschland, das eine Wiedereinreise bis zum 1. April 1937 erlaubte – zu seinem Onkel Wolf Grynszpan nach Brüssel, ursprünglich, um dort auf das Visum für die Einreise nach Palästina zu warten. Sein Onkel empfing ihn ziemlich kühl, als er feststellte, dass Herschel mittellos war. Er hatte nur 10 Mark ins Ausland mitnehmen dürfen und verfügte auch nicht über mehr Geld. Herschel nahm daher das Angebot seines anderen Onkels aus Paris an, zu diesem zu ziehen. Freunde von Wolf Grynszpan schmuggelten Herschel im September 1936 illegal über die Grenze nach Frankreich, da sie davon ausgehen mussten, dass ihm auf dem offiziellen Weg die Einreise verweigert würde. Als er in Paris ankam, war er krank – er litt unter Magenschmerzen und häufigem Erbrechen. Grynszpan war von kleiner Statur, nur 1,54 m groß und wog nur etwa 45 kg.

Grynszpan war orthodoxer Jude und besuchte regelmäßig den Gottesdienst. Auch in der Umgebung der Familie seines Onkels lebten überwiegend Juden. Ihre Hauptsprache war Jiddisch, aber auch deutsch wurde gesprochen. Herschel Grynszpan unterstützte seinen Onkel gelegentlich bei der Arbeit, aber er ging keiner geregelten Beschäftigung nach. Er traf sich mit Freunden, ging häufig ins Kino und besuchte Lokale, die dem homosexuellen Milieu zugerechnet wurden.

Grynszpan versuchte über zwei Jahre vergeblich, in Frankreich eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Bemühungen, dann wieder zu seiner Familie nach Hannover zurückzukehren, scheiterten am Widerspruch des hannoverschen Polizeipräsidenten, der sich weigerte, Grynszpan zurück nach Hannover reisen zu lassen, weil seine Papiere angeblich nicht in Ordnung seien. Der polnische Pass hatte auch Ende Januar 1938 seine Gültigkeit verloren. Im August 1938 wurde Grynszpan schließlich auch noch der Ausweisungsbefehl aus Frankreich zugestellt, so dass er sich in völlig auswegloser Lage befand. Grynszpan hätte bis zum 15. August Frankreich verlassen müssen, aber sein Onkel versteckte ihn in einer Mansarde in einem anderen Haus in Paris. Grynszpan hatte keine Arbeit, wurde von der Polizei gesucht und musste sich verstecken – eine ausweglose Situation.

Mittlerweile waren seine Eltern und Geschwister – die noch polnische Staatsbürger waren, obwohl die Familie schon seit 27 Jahren in Deutschland lebte – am 28./29. Oktober 1938 in einer reichsweiten gewaltsamen Aktion, der Polenaktion, verhaftet und gezwungen worden, ohne jegliche Vorbereitung sofort ihren Wohnsitz und ihre Existenz in Hannover aufzugeben. Man hatte sie deportiert und bei Bentschen über die deutsche Grenze in Richtung Polen abgeschoben. Von dieser Massenabschiebung waren etwa 17.000 Juden betroffen. Die völlig unvorbereiteten Menschen wurden zuerst von Polen zurückgewiesen und hielten sich deshalb teilweise im Niemandsland zwischen der deutschen und polnischen Grenze im Freien auf. Andere wurden ohne Probleme ins Land gelassen. Darüber war auf der ganzen Welt und auch in der Pariser Presse berichtet worden.

Die abgeschobenen Menschen waren völlig hilflos. Nachdem die Grynszpans nach Polen gelangt waren, konnten sie eine Karte nach Paris schreiben. Grynszpan erhielt am 3. November eine Postkarte seiner Schwester Berta, in der sie ihm schilderte, wie die ganze Familie unter Zurücklassung von allem Hab und Gut, unvorbereitet und ohne jegliche Mittel von der Polizei zwangsweise und überfallartig abtransportiert worden war. Die Familie saß völlig mittellos in einem Lager im polnischen Zbąszyń (Bentschen). Berta bat ihren Bruder, ihnen Geld nach Polen zu schicken. Als Grynszpan die Karte seiner Schwester erhielt, war er völlig verzweifelt, denn er befand sich ja selbst in größter Not.


„Lieber Hermann, Von unserem großen Unglück hast Du sicher gehört. Ich will Dir genau schildern, wie das vorgegangen ist. … Donnerstag abend ist ein Sipo [Sicherheitspolizist] zu uns gekommen und sagte, wir müssten zur Polizei und die Pässe mitbringen. So wie wir standen, sind wir alle zusammen mit dem Sipo zur Polizei gegangen. Dort war schon unser ganzes Revier versammelt. Von dort hat man uns alle im Polizeiauto nach dem Rusthaus [Ein Gasthaus] gebracht. … Man hat zwar nicht gesagt, was los ist, aber wir haben gesehen, dass wir fertig sind. Jedem von uns hat man einen Ausweis [d. h. vermutlich Ausweisungsbefehl] in die Hand gedrückt bis zum 29. [Oktober] muss man das Land verlassen. Man hat uns nicht mehr nach Haus gelassen. Ich habe gebettelt, man soll mich nach Hause lassen wenigstens etwas Zeug zu holen. Bin dann mit einem Sipo gegangen und habe in einem Koffer die nötigsten Kleidungsstücke gepackt. Das ist alles was ich gerettet habe. Wir sind ohne Pfennig Geld. [Folgende Passage gestrichen, vermutlich: Kannst Du und Onkel nicht etwas nach Lodz schicken]? Grüsse und Küsse von alle Berta“

Nachdem Grynszpan die Karte seiner Schwester bekommen hatte, konnte er weitere dramatische Schilderungen der Deportationen am 4. November der in Paris erscheinenden jiddischen Zeitung Haynt (Journée Parisienne) entnehmen. Was er las, machte ihn noch mehr um seine Familie besorgt. Am 6. November bat er seinen Onkel darum, sofort Geld zu seinen Eltern zu schicken. Als Abraham zögerte, kam es zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf Grynszpan die Familie seines Onkels unter Mitnahme seiner Ersparnisse verließ.

Grynszpan übernachtete in einem billigen Hotel und schrieb einen Abschiedsbrief an seine Eltern, den er in seine Tasche steckte. Am 7. November 1938 kaufte er in einem Waffengeschäft einen Revolver für 235 Franc. Danach suchte er die deutsche Botschaft im Palais Beauharnais auf und verlangte einen Botschaftssekretär zu sprechen. Er wurde von der Frau des Portiers an den Botschaftssekretär vom Rath verwiesen, den jüngeren der beiden zu diesem Zeitpunkt diensthabenden Beamten. Der andere wäre Gesandtschaftssekretär Ernst Achenbach gewesen, der aber an diesem Tag zu spät zum Dienst kam. Der Botschafter Johannes von Welczeck hatte die Botschaft beim Eintreffen von Grynszpan gerade zu einem Morgenspaziergang verlassen. Der Amtsgehilfe Nagorka ließ Grynszpan ohne Anmeldeformalitäten in Raths Amtszimmer treten, wo beide danach allein waren. Der Historiker Hans-Jürgen Döscher schloss daraus, dass Rath und Grynszpan miteinander bekannt waren, Der Schweizer Historiker Raphael Gross und die meisten anderen Forscher halten dagegen das Zusammentreffen von Grynszpan und vom Rath für einen bloßen Zufall. Grynszpan schoss mit seiner Waffe sofort fünfmal auf Rath, wobei zwei Kugeln trafen, eine in Höhe des Brustbeins, die andere im Unterleib. Die Verletzungen waren so schwer, dass Rath ihnen zwei Tage später erlag.

 

Zuvor hatte Hitler noch seinen Leibarzt Karl Brandt und den Chirurgen Georg Magnus zur Behandlung von Rath nach Paris geschickt. Dem Polizeiprotokoll zufolge beschimpfte Grynszpan vom Rath bei der Tat mit dem Ausdruck „sale boche“ („dreckigen Deutschen“) und rief aus, dass er im Namen von 12.000 verfolgten Juden handele. Ähnlich äußerte er sich in dem bei ihm gefundenen Abschiedsbrief an seine Eltern: Sein Herz habe geblutet, als er von ihrem Schicksal gehört habe, er müsse protestieren, so dass die ganze Welt davon erfahre. Grynszpan ließ sich ohne Fluchtversuch am Ort der Tat verhaften (Rath hatte ihm noch einen Faustschlag versetzt und hatte um Hilfe rufend das Zimmer verlassen) und begründete auch gegenüber dem französischen Untersuchungsrichter sein Handeln in diesem Sinn. Eine Tötungsabsicht und Rachegedanken bestritt er aber in späteren Vernehmungen und in einem Brief an seine Eltern in der Untersuchungshaft. Da Grynszpan zum Tatzeitpunkt minderjährig war, wurde er in das Jugendgefängnis Fresnes bei Paris überstellt.

Die französischen Behörden leiteten einen Prozess gegen Grynszpan ein; der Untersuchungsrichter Tesniere stellte am 7. November eine Klage gegen Grynszpan wegen eines Mordversuchs fertig. Nach dem Tode Raths am 9. November 1938 wurde die Anklage auf Mord mit Vorsatz erweitert. Die französischen Verwandten von Grynszpan, Abraham und Chawa Grynszpan, wurden, da sie durch die Unterstützung von Grynszpan nach Ansicht des Gerichts gegen das Ausländerrecht verstoßen hatten, am 29. November 1938 zu vier Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt.

Auch von deutscher Seite bereitete man sich auf den Prozess vor. Goebbels ernannte schon am 8. November den Juristen Friedrich Grimm zum Vertreter des Deutschen Reiches, einen Rechtsberater des Reiches und Fachmann für Propagandaaufgaben, in denen gegen Juden gehetzt werden sollte. Grimm sollte die Interessen des Deutschen Reiches in der Mordsache vom Rath wahren. Für den 11. November 1938 setzte Goebbels das Treffen einer Prozessplanungsgruppe im Propagandaministerium unter der Leitung des Regierungsrates Wolfgang Diewerge an. Teilnehmer waren Vertreter des Auswärtigen Amtes, der NSDAP/Auslands-Organisation sowie Friedrich Grimm. Grimm trug vor, dass eine Auslieferung Grynszpans nicht erwartet werden könne und der Prozess auf jeden Fall in Frankreich stattfinden werde. Auf der Sitzung wurde beschlossen, dass Grimm den Prozess beeinflussen solle und in Nebenklage die Interessen der Eltern und des Bruders vom Raths vertreten solle. Das war nur zusammen mit französischen Anwälten möglich, deren Auswahl man Grimm auftrug.

Goebbels hatte in dem Attentatsfall interveniert, da er aus diesem Prozess eine Propagandaschlacht für Deutschland machen wollte. Nachgewiesen werden sollte, dass eine jüdische Weltverschwörung gegen Deutschland Krieg führe und auch das Attentat organisiert habe. Die deutsche antijüdische Politik sollte als Abwehr des jüdischen Angriffs auf der ganzen Welt verstanden werden. So sollte in Deutschland und auch im Ausland Verständnis für die Vorgänge der Reichspogromnacht und die weitere Unterdrückung der Juden in Europa geweckt werden. Grynszpan sei von dieser „jüdischen Weltverschwörung“ gelenkt. Diese stand nach der Propaganda der Nationalsozialisten auch hinter der französischen liberalen demokratischen Presse, die den jugendlichen Grynszpan indoktriniert habe. Mit dem Attentat habe, so die nationalsozialistische Propaganda, auch das deutsch-französische Verhältnis beschädigt werden sollen. Zu dem Zeitpunkt war das Verhältnis beider Staaten gespannt, das Münchner Abkommen war gerade erst etwa einen Monat alt. Grimm fuhr umgehend nach Paris. Dort bekam er den Hinweis, dass der Verteidiger Grynszpans, Maître Vincent de Moro-Giafferi von der französischen Liga gegen den Antisemitismus, der Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme (LICA), die Eltern Grynszpans aus Polen zum Prozess einladen wolle, um sie über die deutschen antijüdischen Aktionen aussagen zu lassen. Grimm intervenierte in Polen, so dass die polnische Regierung, selbst antisemitisch eingestellt, den Eltern die Ausreise untersagte. Grimm pendelte ständig zwischen Deutschland und Frankreich und nahm dort Einfluss auf die Vorbereitung des Prozesses.

Der Prozessbeginn verzögerte sich, bis mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 eine völlig neue Situation gegeben war. Wegen des Stimmungsumschwunges in der Bevölkerung Frankreichs hätte die dortige Justiz Grynszpan wohl freigesprochen, zumal Deutschland als Kriegsgegner nicht hätte am Prozess teilnehmen können. Grimm machte sich gegenüber dem Propagandaministerium aber anheischig, den Prozess vom neutralen Ausland aus zu manipulieren. Mit dieser Aufgabe betraut, begab er sich während des Sitzkrieges für einige Monate an die Deutsche Botschaft nach Bern und hielt über die Schweiz und den Anwalt Guinand Kontakt zu den französischen Untersuchungsbehörden. Zu diesem Zwecke wurde er sogar zum Generalkonsul des Deutschen Reiches ernannt. Trotz des Kriegszustandes gelang es Grimm, beim französischen Generalkonsul in Bern ein Visum für Guinand und dessen Bestellung zum Vertreter des Deutschen Reiches im geplanten Prozess zu erhalten. Guinand wurde in Paris sogar auf Anweisung des selbst verhinderten Justizministers Bonnet vom stellvertretenden Justizminister empfangen. Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass der Prozess sistiert wurde, aber Grynszpan im Gefängnis blieb.

Das Attentat wurde in großen Teilen der jüdischen Gemeinschaft und auch in Frankreich missbilligt, nicht zuletzt wegen Befürchtungen, es würde von den Nationalsozialisten zum Vorwand für Vergeltung genommen werden, welche durch die Ereignisse voll bestätigt wurden. Man versuchte von jüdischer Seite, Grynszpan als Verrückten hinzustellen. Diese Darstellung wirkte lange nach und findet sich beispielsweise noch in einschlägigen Äußerungen von Hannah Arendt in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem von 1963 wieder.

Grynszpan blieb trotz seiner Jugend ohne Prozess rund 20 Monate inhaftiert, bis zum deutschen Sieg über Frankreich. Die Franzosen hatten Grynszpans Gesuch abgelehnt, auf Seiten Frankreichs gegen die Deutschen kämpfen zu dürfen. Sobald der künftige Botschafter Otto Abetz mit seiner Mannschaft, zu der auch der Rechtsprofessor Friedrich Grimm gehörte, am 15. Juni, dem Tag nach dem Einmarsch deutscher Truppen, in Paris eingetroffen war, wurde nach Grynszpan gefahndet, schon einen Tag vor Ankunft der Botschaftsmitarbeiter war eine Gestapoeinheit unter Helmut Knochen nach Paris gekommen. Ein Sturmbannführer dieser Einheit, Karl Bömelburg, war gleichzeitig Leiter einer Gruppe der Geheimen Feldpolizei. Bömelburg und Grimm hatten nun den Auftrag, Herschel Grynszpan gefangen zu nehmen. Dazu ließ Grimm am nächsten Tag die Geheime Feldpolizei Polizei- und Gerichtsdienststellen durchsuchen und alle Verfahrensakten beschlagnahmen. Alle jüdischen Organisationen und alle Anwaltskanzleien, die mit Grynszpan zu tun gehabt hatten, wurden durchsucht. Grimm eignete sich sogar die Handakten von Grynszpans Verteidiger Moro-Giafferis an.

Am 19. Juni meldete Grimm an das Außenministerium, dass Grynszpan „illegal“ aus dem Gefängnis in Paris entfernt worden sei. In der Tat war Grynszpan mit anderen Gefangenen in den unbesetzten Süden geschickt worden und er kam bei einer Bombardierung des Zuges zunächst frei. Mittellos und ohne ausreichende Sprachkenntnisse, gelang es ihm jedoch nicht, unterzutauchen. Vielmehr stellte er sich erneut den französischen Behörden: zuerst im Gefängnis von Bourges, wo ihn ein Staatsanwalt laufen ließ, und dann in Toulouse.

Grimm machte Grynszpan in Südfrankreich ausfindig und ersuchte den französischen Justizminister um seine Auslieferung. Gleichzeitig stellte das Auswärtige Amt einen Auslieferungsantrag bei der Waffenstillstandskommission. Am 18. Juli 1940 übergaben die Franzosen Grynszpan an der Grenze zwischen der unbesetzten und der deutschen Besatzungszone an die Deutschen, die ihn nach Berlin in das Gestapogefängnis im Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße 8 verbrachten. Diese Auslieferung verstieß gegen den Waffenstillstandsvertrag und gegen Bestimmungen des Völkerrechts, denn Grynszpan hatte keine deutsche Staatsbürgerschaft und die Tat war vor dem Einfall der Deutschen auf französischem Boden begangen worden.

Nun sollte endlich ein politischer Schauprozess nach NS-Muster stattfinden. Seine Bühne sollte der Volksgerichtshof sein und das Reichspropagandaministerium unter Joseph Goebbels sollte bei ihm mitwirken. Bewiesen werden sollte die Existenz der „jüdischen Weltverschwörung“, die die Zerstörung Deutschlands im Sinne und den Weltkrieg verursacht habe. Mitplaner des Prozesses waren Rechtsanwalt Grimm und Wolfgang Diewerge. Grynszpan drohte jetzt allerdings auszusagen, sein Opfer vom Rath aus der Pariser Homosexuellenszene zu kennen. Damit durchkreuzte er die Strategie der Nationalsozialisten. Möglicherweise bediente sich Grynszpan damit einer Verteidigungstaktik seines Pariser Anwalts Moro-Giafferi. Die Ankläger mussten nämlich nun befürchten, dass Grynszpan im geplanten Prozess die angebliche Homosexualität vom Raths und eventuell anderer Nationalsozialisten in Paris zur Sprache bringen würde. Auch habe Grynszpan die „Rechtmäßigkeit seiner Auslieferung in Zweifel ziehen“ können. Auf Befehl Hitlers wurde der Prozess im Juli 1942 abgesetzt. Grynszpan kam zunächst ins KZ Sachsenhausen. Um den 26. September 1942 wurde er ins Zuchthaus Magdeburg verbracht.

Was im Einzelnen danach mit ihm geschah, ist nicht genau geklärt. Zumeist wird davon ausgegangen, dass er irgendwann zwischen 1942/1943 und dem Ende des Krieges starb. Der Historiker Ron Roizen, der sich 1986 mit dem weiteren Schicksal von Grynszpan befasste und sich dabei auch auf eine Untersuchung des französischen Arztes Alain Cuenot von 1982 stützte, zitiert einen Brief von Fritz Dahms, einem Beamten im Auswärtigen Amt, der mit dem Fall Grynszpan 1942 befasst war, an den Historiker Helmut Heiber. In diesem Brief heißt es, Dahm habe davon gehört, Grynszpan sei kurz vor Kriegsende gestorben. An Genaueres konnte er sich nicht erinnern und das Auswärtige Amt wäre zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr offiziell in solchen Dingen genau informiert worden. Er führt auch an, dass schon in den 1960er Jahren der mit dem Fall betraute Untersuchungsrichter in München in den damals noch nicht öffentlich zugänglichen Akten im Bundesarchiv keinen Hinweis auf Grynszpan nach 1942 finden konnte. Adolf Eichmann gab in seinem Prozess 1961 in Jerusalem an, vermutlich 1943 eine Vernehmung Grynszpans durch einen Mitarbeiter veranlasst zu haben und danach selbst mit Herschel Grynszpan gesprochen zu haben. Er wusste aber nichts über sein weiteres Schicksal.

Geklärt sind jedoch die Folgen des Attentats. Grynszpans Attentat war in Deutschland auf Geheiß von Joseph Goebbels Aufmacher in allen Zeitungen und diente als Vorwand für staatsweit in Deutschland und Österreich inszenierte Pogrome, die Novemberpogrome 1938 oder die so genannte „Reichskristallnacht“. Zu ersten Ausschreitungen war es allerdings schon am Abend des 7. November in Kassel und Umgebung gekommen. Einige Stunden nach Bekanntwerden des Todes vom Raths am Abend des 9. November gingen NSDAP und SA in einer vorbereiteten und konzertierten Aktion gegen jüdische Bürger und deren Besitztümer vor: Trupps von zivil gekleideten SA-Leuten und Parteiangehörigen waren unterwegs, ausgerüstet mit Stangen, Messern, Dolchen, Revolvern, Äxten, großen Hämmern und Brechstangen. Sie brachen in Synagogen ein, steckten sie in Brand und zerschlugen mit Stangen die Schaufenster jüdischer Läden. Dann brachen sie plündernd und zerstörend in die Geschäfte ein. In gleicher Brutalität gingen Schläger-Trupps gegen Juden in deren Wohnungen vor. Sie wurden, sofern nicht geöffnet wurde, gewaltsam aufgebrochen und verwüstet. Vorgefundenes Geld wurde konfisziert, Sparbücher und Wertpapiere wurden mitgenommen. Die Juden wurden misshandelt und gedemütigt, auch die Frauen und Kinder. Insgesamt wurden etwa 400 Menschen ermordet, hinzu kamen Selbsttötungen, ca. 30.000 Männer wurden als „Aktionsjuden“ in KZs deportiert. Rund 7500 Geschäfte und fast alle Synagogen (ca. 1400) wurden niedergebrannt oder auf andere Weise zerstört. Zum Hohn für die Pogromopfer wurden die Juden in einer am 12. November 1938 erlassenen „Verordnung über die Sühneleistung“ auch noch gezwungen, zusätzlich eine „Kontributionszahlung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark zu leisten. So wurde Grynszpan ungewollt zum indirekten Helfer der Progrome. War sein Attentat diesen Preis wert?

 
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