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Gesänge und Inschriften

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WALT WHITMAN

Die Gestalt des Dichters Walt Whitman und alles was er geschrieben hat mutet an, als ob Amerika, die Vereinigten Staaten, auf die Goetheworte: »Amerika, du hast es besser, Als unser alter Kontinent, der alte; Hast keine verfallenen Schlösser, Und keine Basalte!« ein lautes: Ja, ja, ja, so ist es! hätten über die See herüberrufen wollen. Hat doch Whitman selbst oft genug von sämtlichen Dichtern der Veruneinigten Staaten Europas, übrigens in Worten größten Respektes, gesagt, daß sie der Vergangenheit und dem Zeitalter des Feudalismus angehören, mit Ausnahme des einen Goethe, der seine besondere Stellung dadurch hat, daß er ein König ohne Land, ein Dichter ohne Nation ist. Amerika ist für Walt Whitman das Reich der Zukunft, der noch nicht fertigen, sondern erst zusammenwachsenden, anschießenden Volksgemeinschaft.

Es wäre nüchterne Kleinlichkeit, vielleicht auch so etwas wie politische Eifersucht, wollte man dem Dichter einwenden, solcher Standpunkt zeuge doch von gefährlichem, übertriebenem Hochmut. Denn um Whitmans Selbstgefühl, das er von sich und seinem Volke hat, zu verstehen, muß man die Art Politik beiseite lassen; die wohnt etliche Stockwerke tiefer als solche Kulturbetrachtung aus der Höhe der wollenden Dichterphantasie. Whitman hat – wiewohl er es nicht gerade so ausdrückt – von seinem Volke das Gefühl, daß es ein neuer Beginn ist, frische, aus Völkermischung entstandene Barbaren, die einen Abschnitt in die Geschichte bringen. Man denke daran, wie die Germanen, schon zu den Zeiten des Arminius, der sogar seinen Namen von der römischen gens Arminia genommen hat – wie hieß er in Wahrheit? Gewiß nicht Hermann, aber vielleicht Sigfrid? –, wie diese Germanen vielfach vertraut waren mit der großen griechisch-römischen Kultur, und wie sie doch, zumal als der neue Mythos, das Christentum, über sie gekommen war, mit einer ganz neuen, primitiver scheinenden Kultur anheben mußten. So sind für Whitman, der in sich selbst die große, wilde, durch keinerlei Konvention gebrochene Natur fühlt, die Amerikaner ein eben erst werdendes neues Volk, Barbaren und Beginnende: und den neuen, großen Glauben, die neue Kunst, die allem großen Volke vorleuchten muß, will er selbst ihnen schaffen helfen. Sein Selbstgefühl ist viel mehr ein Gefühl seines Volks als seiner selbst; man darf sich durch das mystische »Myself« (Ich) seiner Verse nicht irre machen lassen; er hat es ganz klar empfunden und gesagt, daß er nur ein erster, kleiner Beginn ist, ein früher Vorläufer eines amerikanisch-perikleischen Zeitalters. Und er hat überdies immer gemeint, daß Amerika nur den besonderen Beruf hat, ein paar Schritte voraus zu sein, daß aber alle Völker der Erde den nämlichen Weg gehen werden.

Welchen Weg? Er sagt ihn uns in seinen »Trommelschlägen«, die er während des Krieges ertönen ließ:

 
Seid nicht verzagt, Empfindung wird den Weg zur Freiheit bahnen jetzt;
Die sich lieben untereinander, sollen die Unbesieglichen werden.
… Dachtet ihr, Advokaten schüfen euch den Zusammenhalt?
Oder Verträge auf einem Papier? oder die Waffen?
Nein fürwahr, so ist weder die Welt, noch irgendein lebendes Ding zusammengewachsen.
 

Seine »Demokratie« ist ein freies Volk tätiger Menschen, die alle Hemmnisse des Kastengeistes hinter sich gelassen, alle Gespinste überjährter Vergangenheit durchbrochen haben; jeder auf seiner Scholle oder in seinem Handwerk, an seiner Maschine, ein Mann für sich selbst. Whitman vereint gleich Proudhon, mit dem er in vielem geistig verbunden ist, konservativen und revolutionären Geist, Individualismus und Sozialismus. Die Liebe aber zwischen den Menschen, die noch notwendig dazu kommen muß, ist nach seiner Lehre, für sein Künstlergefühl, keine vage, im allgemeinen verschwimmende Menschenliebe; sie soll vielmehr, wie die Liebe, die die Familie gegründet hat, vom Geiste der Ausschließlichkeit beseelt sein, sie soll bestimmte Menschen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen und natürlich auch Männer mit Frauen zu neuen sozialen Gruppen zusammenschließen. Das ist der Zusammenhang, in dem die Kameradschaft, der Whitmans schönste und innigste Gedichte gelten, mit all seinen Träumen von neuen Lebens- und Volksgestalten steht. Es ist vergebliches Bemühen modischer Pseudowissenschaft, in diesen Kameradschaftsgefühlen irgend etwas Perverses oder Pathologisches oder gar Degeneriertes finden zu wollen. Wir müssen wieder lernen, daß starke Männer und starke Zeiten sentimental sind; und daß schwächliche Zeiten und Generationen es sind, die sich scheuen, sich rückhaltlos und inbrünstig ihren Gefühlen, für das geliebte Weib, oder den innig geliebten Freund, oder das Meer und die Landschaft und das Weltall hinzugeben. Whitman war diese kosmische Liebe und dieser Überschwang des Gefühls zu eigen; und nur aus diesem Chaos und Abgrund der Innigkeit kann, so ist sein Glaube, sein neues Volk erstehen. Auch hier, ohne daß er je auf Parallelen aus ist oder nur an sie denkt, deutliche Anklänge an die Geisteswelt des Künstlervolkes, der Griechen, und an ihre gesellschaftlichen Einrichtungen und Gewöhnungen. Eine besondere Richtung des Empfindens hat Whitman gehabt; daraus auf eine besondere Veranlagung seiner Natur zu schließen, sei solchen überlassen, die sich auf einer Zwischenstufe der Wissenschaft befinden.

Der besonderen Natur jeder gestaltenden Phantasie entspricht es, daß in allem Gefühl und in allem Geformten die Erotik lebt. Hätte Whitman so wie Faust das Evangelium Johannis zu übersetzen unternommen, sein erster Satz hätte wohl lauten müssen: »Im Anfang war das Gefühl.« Er betont das Gefühl und damit die Poesie als den Anfang alles Lebens und alles Volkes aber auch ganz bewußt, weil er weiß, von welcher Seite her den Amerikanern die Gefahr droht: »Was der amerikanischen Bevölkerung am gefährlichsten ist,« sagt er, »das ist ein Übermaß von Wohlstand, »Geschäft«, Weltlichkeit, Materialismus; was am meisten fehlt … das ist ein warmes und glühendes Volksgefühl, das alle Teile zu einem Ganzen vereinigen würde. Wer anders als eine Schar erhabenster Dichter kann jene Gefahr in Zukunft abwehren, diesen Mangel ausfüllen?« Nur ein großes Volk, meint er, kann große Dichter haben; aber vorher muß die Poesie es sein, die das große Volk gestaltet, »künstlerischen Charakter, Geistigkeit und Würde« ihm verleiht.

Der Dichter also, der Walt Whitman in seinem Gefühl von sich selbst und seiner Aufgabe sein will, ist Priester, Prophet, Schöpfer. Daß er außerordentliche Gewalt auf sein Volk und die geistige Macht seines Volkes – und derer, die in fremden Völkern als einzelne zu seinem Volke gehören – ausgeübt hat und weiter übt, ist sicher. Wie die Geschichte weiter geht, ob sein kühnstes Verkünden so Wirklichkeit wird, wie Phantasie und Wollen sich irgend erfüllen können, indem sie eine Wirklichkeit, die nicht genau gerade so aussieht, räumlich schaffen helfen, das kann keiner heute sagen. Aber das ist gewiß, daß er Amerikas größter Dichter und ein innig starker Lyriker für uns alle ist; und daß er der Lyrik eine neue Form und ein ungeheures neues Stoffgebiet – alle Tatsächlichkeiten der körperlichen und geistigen Welt – gegeben hat.

 
Ich glaube, ein Grashalm ist nichts Geringeres, als das Tagwerk der Sterne.
 

In diesem Sinne hat er sein erstes Gedichtbuch (1855) »Grashalme« genannt und hat dann im Lauf von mehr als dreißig Jahren sein ganzes dichterisches Werk in immer neuen Auflagen in dieses Buch, sein Buch, das er selbst ist, eingefügt.

Whitman, geboren am 31. Mai 1819 als Sohn eines Zimmermanns und Hausbauers im Staate New York, hat einen typisch amerikanischen Lebenslauf gehabt, bis recht spät der Dichter aus ihm herausbrach; er besuchte die Volksschule, war eine Art Laufbursche erst bei einem Rechtsanwalt, dann einem Arzt, wurde Setzerlehrling und, im Alter von neunzehn Jahren, Dorfschullehrer. Dann gründet er ein Wochenblatt, reist als Setzer und Journalist vielfach im Lande hin und her und wird schließlich Zimmermann wie sein Vater in Brooklyn. Vorher hatte er vielerlei Aufsätze, auch kleine und größere Novellen veröffentlicht. Während er Zimmermann war – aber nicht gerade durch die körperliche Arbeit, sondern durch die Muße; man beklagte sich wohl in der Familie über sein vieles Spazierengehen und Herumliegen – kam das Neue über ihn: auf einmal und zugleich der neue Geist, die neue Form, und mit dem Unendlichkeitsgefühl auch der Unendlichkeitsstoff. Später, während des Krieges, ist er drei Jahre lang freiwilliger Krankenpfleger, wobei er den Kranken durch sein Geplauder und durch sein teilnahmsvolles schweigendes Bei-ihnen-Sitzen, durch seine Liebe und die suggestive Kraft seiner Person – alle seine Bilder zeigen, daß die Innigkeit, die Versunkenheit und die Mitteilsamkeit seines Wesens sich auch in seiner Leiblichkeit gestaltet hatte – am meisten Gutes tat. Eine Zeitlang bekleidete er dann einen untergeordneten Posten in einem Ministerium, wobei er der Maßreglung um seiner Gedichte willen nicht entging; 1873 erlitt er den ersten Schlaganfall, war aber noch lange in starker geistiger Kraft tätig; lebte von den Erträgnissen seiner Schriften und Unterstützungen des Kreises, der sich mehr und mehr an ihn schloß; in Camden, New Jersey, ist er am 26. März 1892 gestorben.

Im Alter von über dreißig Jahren also ist Whitman zu seiner Dichterkraft gekommen; was er vorher geschrieben, hat kaum eine Beziehung zu dem Wesen, das nun herauskam. Einer, der langsam reift und über den es dann noch mit vehementer Plötzlichkeit kommt, ist er. Das Vorwort, das er 1855 seinem Buche mitgab, vereinigte die Reife des Mannes, der wie eingewachsen auf seinem Platze steht, mit der blutjungen Hingerissenheit des Beginnenden. »Der reichste Mann ist der, der aller Pracht, die er sieht, Gleichartiges aus dem größeren Vorrat seines eigenen Selbst entgegenstellt.« Das ist seine erste Entdeckung, zu der erst später Einflüsse von Fichte und Hegel gekommen sind, während, wie Bertz in einem übrigens ungenießbaren Buch richtig zeigt, Emerson schon damals eingewirkt hat: daß der Mensch in seinem Ich, in seiner Geistigkeit die ganze Welt trägt, daß die Welt nur eine unendliche Fülle von Mikrokosmen ist, eine Pluralität und Unzähligkeit von »Identitäten«, von selbstbewußten Kreuzungspunkten der Weltenströme. Was er also den Amerikanern als Religion des Geist- und Universalgefühls bringt, ist eine neue Form der ewigen Lehre der Philosophen und Mystiker von Indien über die christliche Mystik zu den Magikern der Renaissancezeit und weiter über Berkeley und Fichte bis in unsere Tage: der heute sogenannte Monismus dagegen hat nur schwache Ähnlichkeit mit dieser Erkenntnis. Am meisten Verwandtschaft hat Whitmans Lehre noch mit dem nicht entsagungsvollen, sondern freudig dem vollen Leben zugewandten magischen Pantheismus, wie er sich in der Renaissance von Nicolaus Cusanus her bei Paracelsus, Agrippa von Nettesheim und ähnlichen Geistern gebildet hatte. Der viele Aberglaube bei diesen darf unsere Vergleichung nicht stören; das war ihre gerade erst von ihnen geschaffene Natur»wissenschaft«, wie Whitman in unserer Natur»wissenschaft« und Technik schwelgt. Ja, sogar in der Form findet man bei jenen Magiern der Renaissance – die Whitman kaum gekannt haben wird – Verwandtes; so hat Agrippa von Nettesheim ein gewaltiges Motto zu seinem Buch »Von der Eitelkeit der Wissenschaften«(1), das nach Geist und Form völlig whitmanisch ist. Ich führe es hier an:

 
1In zwei Bänden bei Georg Müller, München deutsch erschienen, von Fritz Mauthner neu herausgegeben.