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Bullenhitze

Volker Sebold

BULLENHITZE

von

Volker Sebold


Handlung und Personen sind frei erfunden und sind der Fantasie des Autors entsprungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2020

© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05509-7 (Print)

978-3-429-05098-6 (PDF)

978-3-429-06490-7 (ePub)

„Gewalt ist stets ein Reich undurchdringlicher Dunkelheit, das wir vermessen, aber niemals vollständig verstehen können.“

Jacques Sémelin

RÜCKBLENDE

1

Der 16. März 1945 war vorüber. Der Main hatte die vergangene Zeit mit fortgenommen, um sie in einem fernen Meer zu ertränken.

Gebäudeskelette streckten ihre Gerippe wie klamme Finger in den Himmel, um Vergebung zu erlangen. Das „Tausendjährige Reich“ hatte Würzburg begraben. Fensterlose Löcher in den Hausruinen glotzten in eine ungewisse Zukunft. Die Festung thronte über den Brückenheiligen, die im Bombenhagel standhaft geblieben waren.

Durch Schutt, den der Bumerang des Terrors hinterlassen hatte, versuchten sich Trümmerfrauen ihre Wege zu bahnen. Sehnsüchtig danach, den Leichengeruch zu verdrängen und das Leben mit allen Poren aufzusaugen.

April 1953. Die Kälte des Winters war noch nicht gewichen. Die Amerikaner besetzten vakante Stellen mit entnazifizierten Deutschen oder solchen, denen es gelang, ihre Fahne in den Wind zu hängen.

Ein schmächtiger Junge, immer hungrig, lief fröhlich pfeifend durch die Straßen. Er blies eine dunkle Haartolle nach oben, kickte den Stein eines geschundenen Hauses vor sich her, während sein Schulranzen auf- und abwippte. Die Hände steckten in den Taschen einer Lederhose. Der Junge hatte gute Laune. Er war der Einzige mit einer Eins in Deutsch gewesen. Darauf war er mächtig stolz. Um seinen Hals baumelte ein Schlüssel.

Der Junge öffnete die Haustür, stieg die Stiegen der Holztreppe hoch bis unters Dach. Die Dielen knarzten unter seinem Schritt.

Kurz bevor er die Wohnungstür aufschloss, ging er noch schnell auf das Klosett im Flur, entließ einen Strahl und freute sich auf das Mittagessen. Wahrscheinlich gab es wieder Kartoffeln und Quark.

Vorsichtig steckte er den Schlüssel ins Schloss. Er wollte die Mutter überraschen mit der Eins. Er tappte durch den kleinen Flur. Kein Essensgeruch. Er wunderte sich. Sein Mund formte „Mama“, als er innehielt. Geräusche, die er nicht kannte. Heftiges Atmen. Männliches Stöhnen. Er erschrak. Schlich weiter. Die Tür des Schlafzimmers war nur angelehnt. Er erkannte, über einen Stuhl gehängt, die Uniform eines Polizisten. Dann blickte er in die Augen seiner Mutter, die ihn ungläubig entrückt anstarrten. Er drehte sich um, rannte aus der Wohnung, durch die Straßen, zum Flussufer. Er weinte und wunderte sich, dass sein Körper immer noch Tränen übrighatte. Wo er doch schon so viele vergießen musste. Der Vater war im Krieg gefallen. Als ob es nur ein Hinfallen gewesen war. Die Sirenen. Der Luftschutzkeller. Die Bomben. In ihm war diese Angst, die ihn nie verlassen werden würde. Dafür war seine Mutter immer für ihn da. Ihre Nähe. Ihre Wärme. Sie war für ihn da. Nur für ihn.

Er spürte einen Stich im Herzen und verstand, dass er sie nun teilen musste. Mit einem fremden Mann. Den er nicht kannte. Nicht kennen lernen wollte. Wut stieg in ihm hoch und ließ die Pflanze Hass in sich keimen.

Ihn fröstelte. Er war zehn Jahre alt. Der Krieg macht einen älter. So spürte er schnell, dass sich im Leben schon wieder etwas Gravierendes verändern werden würde.

Als er Stunden später nach Hause zurückkam, war der Mann verschwunden. Der Blick der Mutter drang durch ihn hindurch, nagelt sich in die Wand. Apathisch schritt sie zu dem kleinen Radio, das auf der Anrichte stand. Sie drückte den elfenbeinfarbenen Knopf. Als swingende Musik der Amerikaner erklang, drehte sie ihren Körper, als sei er schwerelos. Das Kind hatte die Mutter so noch nie gesehen.

Auf dem Tisch lag eine Tafel Schokolade. Für ihn. Er ignorierte den Leckerbissen, ging in sein Zimmer und schloss sich ein.

Das Kind störte. Die Mutter und der Polizist gaben sich die Liebe, die sie in den schweren Zeiten schmerzlich vermissen mussten. Und sie waren nicht bereit, diese Liebe zu teilen. Schon gar nicht mit einem Kind.

Stillschweigend saßen die drei am Frühstückstisch. Der Junge zitterte, als er seine Tasse mit Kakao zum Mund führen wollte. Ein Schluck schwappte heraus, als er die Tasse am Mund ansetzte. Der Kakao besudelte sein Hemd und spritzte auf das Tischtuch. Vor Schreck ließ der Junge die Tasse fallen. Wie in Zeitlupe zerschellte sie auf dem Fußboden. Der restliche Kakao hinterließ eine hässliche braune Spur. Unvermittelt und wortlos schlug ihm der Polizist brutal mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Mutter schwieg. Sie stand auf, holte einen Putzlappen und wischte die Flüssigkeit auf.

„Wasch dich!“, flüsterte sie und schob ihren Sohn in Richtung Badezimmer.

„Dein Kind braucht mal eine anständige Erziehung! Hat keine Manieren, der Bengel!“, polterte der Mann.

Das Kind, ängstlich und unsicher, brachte schlechte Noten nach Hause. Bei den kleinsten Verfehlungen brüllte der fremde Mann den Jungen an. Als er es nicht mehr aushielt vor lauter Demütigungen durch den Erwachsenen und den Polizisten einen „Scheiß Nazi“ nannte, holte dieser den hölzernen Kochlöffel aus der Schublade, legte den Jungen übers Knie und prügelte solange auf ihn ein, bis er selbst außer Atem geraten war.

Wenn er seine Mutter flehend, mit verheulten Augen und tiefroten Flecken auf den Oberschenkeln anblickte, sah er nur ihre stumme Verzweiflung und Schwäche.

Der Junge wusste, dass der Mann immer wiederkommen würde. Wieder und wieder. Was hatte er nur, dass seine Mutter ihre Liebe so einseitig vergab? Er zog sich in sein Zimmer zurück und lernte zu schweigen. So oft es ging, verbrachte er die Zeit draußen. Er lernte wie besessen, da er merkte, dass sich seine Gedanken auf diese Art und Weise Freiheit zurückholten. Er betete, dass der Mann möglichst bald, für immer, verschwinden würde.

Nach einem Monat wurde sein Gebet erhört. Der Polizist war in eine üble Kneipenschlägerei verwickelt worden. Er hatte einen Soldaten der us-Armee schwer verletzt. Sein Faustschlag war so hart, dass der Amerikaner die Sehkraft des linken Auges verlor. Er wurde versetzt. Seine Mutter erfuhr die Geschichte von einem befreundeten Mann aus der Verwaltung. Sie nahm das Geschehen scheinbar regungslos hin. Es schien, als habe ihr der Vorfall überhaupt nichts ausgemacht.

Sie widmete sich wieder ihrem Sohn, als sei nie etwas geschehen.

2

Die Mutter lag zu Hause im Bett und konnte sich nicht mehr bewegen. Ein Schlaganfall hatte ihr die Bewegung und das Denken geraubt. Der Sohn, mittlerweile im erwachsenen Alter, kümmerte sich liebevoll um die alte Frau. Er brachte es nicht über das Herz, sie in ein Heim abzuschieben.

Schließlich starb sie. In der Nacht. Ein schneller Tod. Der Sohn fand sie, als er ihr das Frühstück ans Bett bringen wollte. Er nahm ihre kalte Hand in die seine. Seine Gedanken kreisten kurz in der Vergangenheit. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn, ging zum Telefon und rief den Hausarzt.

Nie hatte er mit seiner Mutter über deren Verhältnis mit dem Polizisten gesprochen. Mutter und Sohn hatten ihn aus ihrem Leben verdrängt. Das Leben ging weiter. Ihre Beziehung wurde respektvoll, geprägt von höflichen Manieren. Die Mutter hatte seinen beruflichen Werdegang finanziell, soweit es ging, unterstützt. Sie wurde auf ihre alten Tage religiös und ging jeden Sonntag in den Dom zum Gottesdienst. Betete für beide Seelen. Sie bewunderte die teuren Mäntel der Reichen, die sie von der Predigt ein wenig ablenkten. Ihr Sohn blieb zu Hause und verkroch sich in seine Bücher.

Über die Jahre, die sie beide zusammenlebten, vermisste der Junge nur eines: Nie hatte seine Mutter ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Er wusste nicht, ob er in dieser Welt willkommen war. Aber er liebte seine Mutter. Verzieh ihr die unsägliche Beziehung zu diesem Monster, das in seinen Träumen immer wiederund wiederkehrte. Ihn mit einem Flammenschwert in Stücke schnitt. Seine Mutter war die Einzige gewesen, die ihm Trost und Wärme spenden konnte, wenn er fror.

Noch am Tag der Beerdigung, spät am Nachmittag, begann der junge Mann die Wohnung auf den Kopf zu stellen. Er war sich selbst nicht im Klaren, nach was er eigentlich suchte. Es war ein innerer Drang, der seit Stunden in ihm wühlte und dem er jetzt nachgab. Es war wohl die Sehnsucht, ein Geheimnis zu lüften, obwohl vielleicht gar keines existierte. Er durchwühlte Mutters Wäsche, das Bettzeug. Sog den Duft ihrer Unterwäsche ein. Durchblätterte alte Bücher. Unbrauchbares warf er in einen Abfallsack.

Als er Der Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo in Händen hielt und darin blätterte, fiel, als er es nach unten hielt und schüttelte, so dass die Seiten in der Zimmerluft flatterten, ein Brief zu Boden. Dessen Inhalt sollte sein Leben für immer verändern. Zitternd las er die schnörkellose Handschrift der Mutter:

 

Sehr geehrter Herr NSDAP-Kreisleiter,

ich möchte mich als einfache Frau an Sie wenden, weil ich mein Gewissen erleichtern muss. Mein Mann scheint ein Kommunist und Judenfreund zu sein. Als er aus Frankreich auf Heimaturlaub war, lästerte er, dass unser Führer ein dummer, arroganter Mensch ist. Es sei schade, daß das Attentat am 20. Juli nicht geklappt hat, dann wären die Verbrecher jetzt da, wo sie hingehören: in der Hölle. Genauso hat er es gesagt. Ich kann mit so einem Mann nicht mehr zusammenleben. Ich will mich scheiden lassen, aber er möchte das nicht. Ich will nur meine Pflicht gegenüber unserem heroischen Führer tun, weil ich an ihn glaube. Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Mann seine verdiente Strafe erhält.

Heil Hitler!

Der Mann vergrub das Gesicht in den Händen. Tränen, es sollten die letzten sein, die er vergoss, rannen ihm in die Mundwinkel, tropften auf die Buchstaben und wuschen etwas Tinte vom Blatt.

Er hatte seinen Vater nie kennenlernen dürfen. Er wurde, das war nachvollziehbar, während eines Fronturlaubes gezeugt. Er war jedoch kein Kind der Liebe. Er war das Kind eines aufgestauten Gefühls. Ein Akt wie ein Blitzkrieg. Schnell und effektiv. Dennoch spürte er eine Bindung zu diesem Mann, der auf den Fotos, die ihm seine Mutter manchmal zeigen musste, so traurige Augen hatte und nie lächelte. Und jetzt, nachdem er den Brief gelesen hatte, kam ihm der Gedanke, dass dieser Soldat vielleicht gar nicht sein leiblicher Vater war. Ihm wurde schwindelig.

Hektisch blätterte er weitere Bücher auf, und tatsächlich, ein weiterer Brief entglitt. Diesmal aus Goethes Gesammelten Werken.

Der Absender: Nachkriegsgericht Würzburg. Er las rasend schnell. Zweimal hintereinander. Dem Inhalt entnahm er, dass die Mutter von jemandem angezeigt worden war, weil sie ihren Mann den Nazischergen ans Messer geliefert hatte. In ihrer Vernehmung vor dem Richter hatte sie angegeben, sie sei hochschwanger gewesen, und ihr Mann, auf Heimaturlaub, habe das Kind nicht anerkennen wollen. Kriegszeiten seien nun mal andere Zeiten. Heute wisse man alles besser, aber damals hätte sie einfach Angst gehabt, als der Mann den Führer beleidigt und ihr auch noch gesagt hatte, er liebe sie nicht mehr. Sie war verzweifelt. Aber die Frucht in ihrem Leibe erhielt ihren Lebensmut. Sie habe nie gewollt, dass er an die Ostfront geschickt wurde, wo er einen tragischen Tod fand.

Aus diesen Sätzen sprachen Häme und Hohn. Der Mann war sich absolut sicher, dass die Mutter seinen Vater in den sicheren Tod geschickt hatte. Wissend und wollend. Wieso tat sie so etwas? Er stand auf. Sein Herz raste. Wie ein Tier im Gehege lief er in der Wohnung hin und her. Seine Mutter, eine Denunziantin? Er stürmte ins Bad und übergab sich. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und besah sein Spiegelbild. Wer bin ich? Wie viel Vater, wie viel Mutter trage ich in mir? Er hatte seine Mutter nicht gekannt. Seine Liebe zu ihr verdunstete wie Wasser in der Sonne. Kein Hass. Ihm wurde nun auch die Beziehung zu dem Polizisten deutlicher. Seine Mutter war eine regimetreue deutsche Frau, die sich dem Führer bedingungslos unterworfen hatte. Als es mit dem Reich zu Ende ging, kam ihr ein neuer deutscher Uniformträger gerade recht. Der Polizist. Er versuchte die schlechten Gedanken an die Mutter zu verscheuchen. Es gelang ihm nicht.

Einige Zeilen weiter las er, dass das Gericht hinsichtlich des Wohlergehens des Jungen im Sinne der Mutter urteilte und sie freisprach.

Der Mann nahm eine Schatulle zur Hand. Er faltete die beiden Briefe sorgfältig. Atmete tief durch. Legte sie hinein. Dann stellte er das Behältnis behutsam auf seinen Schreibtisch. Er blickte aus dem Fenster. Abermals lag sein Leben in Schutt und Asche. Die Dämonen des Krieges lassen einen nie ruhen.

Ihm kam der Mann mit der Uniform in den Sinn, als er damals so gutgelaunt, mit der Eins, nach Hause gekommen war. Mit dem Polizisten zog das Unheil auf. Man hatte ihn alleine gelassen. Mit seinen Gedanken. Mit seinen Sorgen. Mit seinen Ängsten. Mit seinen Schmerzen. Deutschland wollte wieder wachsen. Da war kein Platz für Sorgenkinder.

Er strich ein blütenweißes Papier glatt. Befeuchtete die Spitze des Dupont-Füllers mit der Zunge und begann dem toten Vater einen Brief zu schreiben.

AUFBLENDE

1

Sommer 2003.

Röhrende Jets verursachten am blauen Himmel kondensierende Kratzer. Eine Putzfrau schüttete einen Eimer Wasser aus, das sofort verdunstete. Die Sonne brannte heiß auf ausgezogene Leiber. Hitze schälte den Lack vom Blechkleid ächzender Karossen. Häuser lehnten faul in der Hitze und fraßen Staub mit gierigen Mäulern. Schweißperlen tropften zu Boden. Wespen stachen gut gelaunt in Menschenfleisch. Europa beklagte Tausende Hitzetode, zur Freude der Insekten, die lustvoll ihre Lätze umgebunden hatten. Ernteausfälle waren zu verzeichnen, und Atomkraftwerke wurden abgeschaltet. Kleine Flüsse trockneten aus. Der Würzburger Kessel brodelte. Jene Stadt, deren Kirchtürme den Himmel perforieren, damit der rechte Glaube auf die Menschen rieselt.

Drohende Schatten zogen aus der Ferne auf.

Dunkle Flecken auf einem Gesicht.

Ein lachendes, hübsches Gesicht.

Dunkle Flecken auf einem Gesicht.

Blut.

Blut.

Blut.

Blut, das fließt.

Blut, das pocht.

Blut, das stirbt.

Unreines Blut floss durch die Adern der Hauptkommissarin Rebecca Rust. Das vibrierende Handy auf dem Nachttisch riss sie aus einem Albtraum. Die Haarsträhnen hingen schweißverklebt an der Stirn. 6 Uhr 30.

„Ja?“

„Hallo Rebecca. Wagner hier. Einsatzzentrale. Entschuldige, dass ich dich wecken muss. Aber du musst unverzüglich zur Dienststelle kommen! Es wurde ein Mord gemeldet. Ein Kollege ist das Opfer. Die Chefs sind schon verständigt. Du kannst dir vorstellen, wie nervös hier alle sind!“

Ferdinand, der Kater, strich um ihre Füße, als sie aus dem Bad kam. Sie gab ihm ein ganzes Schälchen Trockenfutter und hoffte, dass er sich faul in der Wohnung verkroch, bis sie nach Hause kam.

Der schwarze Nissan Micra fand seinen Parkplatz vor dem Dienstgebäude. Rebecca hastete die zwei Stockwerke hoch ins Büro. Der Aufzug war immer noch defekt. Ein Kollege rief ihr hinterher, dass das linke Bremslicht kaputt sei. Sie wusste das, aber es war ihr egal.

Nach dem Anruf nahm sich Roland Utz, drei Jahre älter als Rebecca und von Beginn an im selben Ermittler-Team, noch die Zeit, sich den Schweiß der Nacht vom Körper zu waschen. Unter der Dusche kratzte er sich gedankenverloren am Hintern. Die Augen geschlossen, dachte er, dass er sich nie daran gewöhnen werde, dass Menschen sich gegenseitig umbringen. Das Wasser bahnte sich seinen Weg durch die Haare am Körper und verschwand im Abfluss. Beim Abtrocknen hatte er einen Niesanfall.

Verdammter Heuschnupfen. Der Kaffee war durch die Maschine gelaufen. Schwarz. Dazu eine Zigarette. Dann aufs Fahrrad. Der Kriminalhauptmeister brauchte zehn Minuten ins Büro.

René Streitenberger. Einundfünfzig Jahre alt. Verheiratet. Drei Kinder. Zwei im Studium. Eine pubertierende Tochter zu Hause. Kriminaloberkommissar. Seine Frau schlief weiter, als das Telefon im Parterre penetrant klingelte. Sein unruhiger Schlaf erfuhr Befreiung.

„Ich habe verstanden. O.K.! Scheiße! Bin gleich da.“

Schnell ein halbes Brötchen mit Nutella. Er hielt mit seinem Wagen kurz beim Bäcker, holte sich einen Kaffee zum Mitnehmen und verbrannte sich die Zunge. Er hatte schlechte Laune, als er um kurz nach sieben Uhr im Besprechungszimmer stand. Die Chefs waren natürlich schon da. Und er, wie immer, der Letzte. Die Blicke kannte er schon.

„Guten Morgen, Kollegen.“

Rufer war nervös. Er war der Leiter der Kriminalinspektion.

„Unangenehme Geschichte. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Im öffentlichen Toilettenhäuschen, unten am Mainufer, Höhe Arbeitsamt, fand man die Leiche eines Mannes. Das Ganze wurde anonym über eins, eins, null gemeldet. Die Uniformierten sind vor Ort und sichern den Tatort. Hoffentlich ohne Spuren zu zerstören. Erste Meldungen, und jetzt wird’s interessant, sprechen davon, dass das Opfer ein Kollege ist. Alles deutet auf Mord hin. Die Auffindesituation: Hose nach unten gezogen, Flecken am Hals. Wir wissen alle, meine Dame, meine Herren, dass es sich bei der Toilette um einen stadtbekannten Schwulentreff handelt.“

Die Ermittler blickten sich an und schnauften im Gleichklang ein und hörbar aus.

Rufer, Briefmarkensammler aus Passion, exakt im Auftreten, ließ seine scharfen Augen über die Mannschaft blitzen. Das geräuschvolle Einziehen der Luft durch die Nasenflügel, nach jedem Satz, verriet seine Anspannung.

„Bei Hitze gibt es Ärger. Das war schon immer so. Wenn die Temperaturen steigen, nehmen die Aggressionen zu. Mehr Menschen auf der Straße. Mehr Alkohol. Längere Helligkeit. Alles Punkte, die der Kriminalität zusprechen. Wir müssen den Ball aufnehmen und das grausame Spiel beenden. Unangenehme Geschichte, das. Ich fordere zunächst absolutes Stillschweigen gegenüber der Presse. Das übernehmen wir. Frau Rust, ich übertrage Ihnen als frischgebackene Hauptkommissarin und Ihrem Team hiermit den Fall. Ich erwarte Diskretion und perfekte kriminalistische Aufklärung. Ich verlasse mich auf Sie. Enttäuschen Sie mich nicht. Viel Erfolg! Und informieren Sie mich über alles zeitnah. Unangenehme Geschichte, das.“

Mit einem blütenweißen Stofftuch wischte sich der Chef der Kripo den Schweiß von der Stirn und trank ein Glas Wasser in einem Zug leer.

Auf dem Weg zum Ort des Verbrechens wurde nicht gesprochen. Die Angst unter Kontrolle halten. Den Kollegen keine Blöße zeigen. Sich den Toten möglichst grausam entstellt vorstellen, damit einen die Realität etwas besänftigt.

Der BMW rollte über das Kopfsteinpflaster. Der Adrenalinspiegel stieg. Stickige Hitze drang durch die Lüftungsschlitze, um sich als zweite Haut an die Insassen zu schmiegen. Die Klimaanlage blieb, aus Rücksicht auf Rolands Heuschnupfen, ausgeschaltet.

Das Absperrband verhinderte die Weiterfahrt. Im Streifenwagen hatte ein Kollege den Beifahrersitz zurückgedreht und döste. Überstunden. Die Nacht hat ihren Preis. Ein zweiter übermüdeter Beamter kam auf den BMW zugelaufen. Schweißflecken unter den Achseln wirkten wie überdimensionierte Abzeichen des Sommers. Sie hatten das bambusfarbene Hemd dunkel gefärbt.

„Hallo, Rebecca. Hallo, René. Roland.“

„Morgen, Manni.“ Man kannte sich. Die Stadt war überschaubar.

„Rebecca! Ich kenne den Toten. Es ist Langner. Mein ehemaliger Ausbilder bei der Bereitschaftspolizei. Wir haben nichts verändert und niemanden durchgelassen. Er liegt dadrinnen. Verrückte Welt. Echt krass!“

Mit dem Daumen deutete er hinter sich auf das kleine Toilettenhäuschen aus Bruchstein.

„Soweit ich weiß, war der Mitteiler anonym. Wenn ihr jetzt übernehmt, hauen wir endlich ab. Ich schreib euch aber noch einen kurzen Vermerk.“

Die drei Ermittler zogen sich am offenen Kofferraum die weißen Schutzanzüge über. Sie diskutierten kurz, ob sie auf den Staatsanwalt warten sollten, bevor sie reingingen. Sie warteten nicht.

René hatte den Fotoapparat bereit. Rebecca testete das Diktiergerät. Roland kniete sich hin, um die Leiche zu untersuchen.

Der Gestank menschlicher Ausscheidungen nahm ihnen den Atem.

„Das beschissenste Klo in dieser Stadt!“, würgte René hinter seinem Mundschutz hervor und hellte mit dem ersten Blitz den gekachelten Raum unnatürlich auf.

Jeans und die schwarzen Boxershorts des Toten waren bis zu den Kniekehlen heruntergezogen. Er lag bäuchlings auf schmutzigen Fliesen. Den Oberkörper bedeckte ein weißes Kurzarmhemd. Auf dem nackten Hintern glänzte ein milchiges Sekret. Roland strich die Substanz in ein Reagenzglas und beschriftete es. Es sah nach Sperma aus. Es roch nach Sperma. Es war Sperma.

Grün schimmernde Fliegen umkreisten den Leichnam. Die Hitze unter den Schutzanzügen war unerträglich und durchtränkte die Kleidung. Rebecca musste darauf achten, nicht zu hyperventilieren. Roland eilte nach draußen, um eine Heuschnupfenattacke hinauszuniesen.

„Druckspuren am Hals. Moment, ich dreh den Leichnam jetzt um.“

Die Leiche rülpste. „Mahlzeit!“

 

Der Humor von Polizisten ist ein eigener. Ein Blick in die Mundöffnung. Routine.

Roland zog die bereits erstarrten Finger des Toten auseinander. In der Handinnenfläche der rechten Hand lag ein Zettel, darauf ein Wort, am Computer geschrieben:

ICH

„Ich weiß ja nicht. Aber mit den Schwulen komm ich nicht so ganz klar. Tun so, als seien sie die Liebsten der Gesellschaft. Haben bei Frauen ’nen echten Stein im Brett, und dann töten sie sich doch aus Geldgier oder Eifersucht oder was weiß ich. He Rebecca, guck mal!“

Flash! Ein Blitz zuckte durch den Raum, und Rebecca war Nummer 24 zwischen all den Leichenbildern.

„Fotografiere lieber die Kontakte an den Wänden und lass den Unsinn!“

Rebecca war genervt.

René kommentierte die obszönen Sprüche an den Wänden, als es Roland zu bunt wurde.

„Halt endlich die Klappe, René! Mach einfach deine Arbeit!“

Roland hatte im Geldbeutel, der in der Gesäßtasche des Toten steckte, dessen Dokumente gefunden. Der Kollege hatte Recht. Es war Christian Langner. Der Ausweis der Bereitschaftspolizei zeigte sein Konterfei. In der Börse befanden sich exakt 312,94 Euro. Sie stutzten. Sah nicht nach Raubmord aus.

Der Staatsanwalt, Jochen Bohm, war mittlerweile eingetroffen und ließ sich von Rebecca informieren. Sie kannten sich und hatten schon manchen Kampf vor Gericht ausgefochten.

Die Leichenbestatter warteten rauchend vor ihrem Mercedes. Die Tatortarbeit war erledigt. Die Männer in schwarzer Kleidung, die nach Schweiß stank, hoben den Verstorbenen in den schmucklosen Sarg.

Letzte Fahrt. Rechtsmedizin.

Die Sonne sandte ihre Strahlen, als wolle sie das Zink schmelzen und den Toten brandmarken.

Nachdem sie der Obduktion beigewohnt hatten, bat Professor Schwacke die Ermittler in sein Büro. Wie immer hatte er nüchtern und effizient die Leiche untersucht. Roland war den Obduktionen, denen er beiwohnen musste, für seinen Heuschnupfen dankbar. Durch die verstopfte Nase drang so nicht jener Geruch, den der Tod den Lebenden ein letztes Mal entgegenatmet.

„Erwürgt! Das Opfer ist eindeutig durch Erwürgen ums Leben gekommen. Das Sperma, das auf dem Hintern platziert war, ist wohl mit Absicht dort, ähm, abgelegt worden. Ein Analverkehr fand zwar statt, jedoch mindestens vierundzwanzig Stunden vor Eintritt des Todes. Das Sperma war noch nicht ganz getrocknet. Ich bin gespannt, ob es die gleiche dna aufweist wie die des Toten. Das dürfte für Sie ein interessanter Ermittlungsansatz werden. Aber ich sehe schon, wie ihre Gedanken kreisen. Die Todesursache, meine Dame, meine Herren, ist eindeutig Ersticken. Es gab am Tatort und kurz davor mit Sicherheit keinen Analverkehr. Der Körper zeigt keine typischen Kampfspuren. Keine Hämatome oder Risswunden. Das Zungenbein ist gebrochen, der Kehlkopf weist Bruchstellen auf. Die Würgemale am Hals haben Sie ja selbst dokumentiert. Ich werde Ihnen schnellstmöglich einen Bericht zukommen lassen. Viel Glück, Frau Rust. Meine Herren. Kaffee?“

Ohne die Antwort abzuwarten, goss Professor Schwacke vier Becher ein, während sich drei Ermittler verdutzt anblickten.

Im Büro, das sie sich mit Roland teilte, hatte sie über der Tür einen Spruch angebracht: Lupus pilum mutat, non mentem (Ein Wolf ändert sein Haar, aber nicht seine Absicht).

René, der bei der Spurensicherung, im Fotolabor, seinen Platz hatte, erhielt den Auftrag, in die Wohnung Langners zu fahren.

Das Zweizimmerappartement war bieder eingerichtet und penibel sauber. Offensichtlich war Langner Einzelgänger. Zudem hatten Nachforschungen ergeben, dass er keine Schulden hatte. Die Eltern waren vor einigen Jahren gestorben. Die Anwohner sagten, der Vater hätte die Andersartigkeit seines Sohnes nicht ausgehalten.

Im Schlafzimmer fanden sie ein paar Schwulenpornos. Nichts deutete auf ein extravagantes Leben des Toten hin. Er lebte als Single und hielt wenig Kontakt zu seinen Nachbarn.

Die Kollegen der Bereitschaftspolizei verhielten sich ihnen gegenüber reserviert. Ja, man hatte gemunkelt, dass Herr Langner homosexuell sein könnte. Na und! Er war beliebt und kollegial. Was einer in seiner Freizeit machte, ging niemanden etwas an. Als sie zum Auto zurückkehrten, stolperte Rebecca über einen Stein, der vom Aushub für das neue Sportzentrum auf die Straße gerollt war. Die Luft flirrte über dem Asphalt.

„Ich wette, wenn wir hier draußen sind, zerreißen sie sich die Mäuler. Und dann wussten sie schon immer, dass Langner mal so enden würde. Diese Scheinheiligen!“ René kommentierte mal wieder unaufgefordert.

Roland bog Büroklammern zurecht, um sich die Fingernägel zu putzen. Rebecca hasste das, vermied aber, ihn darauf anzusprechen. Sie holte zwei Becher Kaffee. Fluchte, da die Maschine nebenan schon wieder defekt war und sie in den obersten Stock gehen musste.

ICH, was glaubst du, René? Hast du eine Ahnung, was es bedeuten soll?“

René hob die Schultern an und legte den Kopf zur Seite.

ICH bin das Opfer oder ICH bin der Täter. Allmachtsfantasien eines Psychopathen, wenn du mich fragst. Vielleicht auch: ICH bin schwul?“

René stutzte. Rebecca lächelte nicht.

„Vielleicht auch nur ein unvollständiges Gebilde. Da kommt noch was auf uns zu. Da bin ich mir sicher.“

„Die Buchstaben sind am Computer geschrieben. Akkurat und ohne Satzendzeichen.“

„Es ist noch viel zu früh, uns auf irgendwas festzulegen. Es wäre reine Spekulation. Warten wir doch mal die Laborproben ab.“

„Wir haben bis dato auf den Bildern vom Tatort nichts Verdächtiges gefunden. Die Nummern an den Wänden sind abtelefoniert. Meistens waren die Angerufenen verblüfft und erstaunt, dass sie nicht nur im Telefonbuch, sondern auch im Schwulenklo auftauchen. Ich lasse es mir nicht nehmen. Der Mörder kann nur in der Szene zu finden sein. Überleg doch mal. Schwulenklo. Opfer: schwul. Sperma auf dem Hintern. Was wollen wir denn noch? Ich denke, wir müssten die Jungs in der Szene mal gehörig aufmischen!“

So war René. Geradeheraus. Direkt. Aber manchmal, das musste Rebecca sich eingestehen, blieb nur die Wahl, seinen einfachen Gedanken zu folgen. Unter anderem deshalb war er auch in ihrem Team.

Eine Woche später war die Analyse da: Das Sperma, das der Täter auf dem Anus von Langner platziert hatte, wies eine differente dna auf. Demnach war es das erste wirkliche Beweismittel, das sie hatten. Ein Abgleich in den Datenbanken des bka verlief allerdings ohne greifbares Ergebnis. Die Laune sank wieder. Rebecca sah sich gezwungen, Renés Vorschlag zu folgen und die Schwulenszene zu überprüfen.

Ihr war nicht wohl in ihrer Haut. Als junge Beamtin musste sie im Rahmen ihrer Ausbildung unter Gauweilers Innenministerherrschaft Homosexuelle an Szenetreffs aufspüren, ihre Namen notieren, um sie aktenkundig zu machen. Die AIDS-Hysterie hatte die Gesellschaft erfasst und ließ manchen Politiker zu überzogenen Handlungen hinreißen. Halbwahrheiten und Lügen vermischten sich zu einem unseligen Gebräu.

Auch wenn sie mit Bauchschmerzen das Gespräch mit Rufer bestritt, war der auf ihrer Seite. Sie einigten sich auf so wenig Unterstützungsbeamte wie notwendig und beschränkten sich auf den Bahnhofsbereich, die öffentlichen Toiletten und den Ringpark.

Rebecca forderte in der Einsatzbesprechung Fingerspitzengefühl bei Menschen, denen sie nun, nur aufgrund von deren Veranlagung, auf die Pelle rücken mussten. Selbst im Jahr 2003 mussten sie sich verstecken, um einer Veranlagung nachzugehen, für die sie nichts können. Sie würden die Leute aufscheuchen, aus ihrer Anonymität holen, da führte kein Weg daran vorbei. Der Mord an Langner war ein zu hoher Preis.

Rebecca und René schritten auf das Kriegerdenkmal im Ringpark zu und überlegten gerade, die Aktion erfolglos abzubrechen, als ein junger Mann aus dem Buschwerk sprang. Er erstarrte vor Schreck, als er die Ermittler erblickte.

„Ihr Scheiß-Bullen! Macht mal hier nicht so ’nen Rabatz! Haut endlich ab! Scheiß Faschistenpack!“

Bevor er Fersengeld geben konnte, war René schon bei ihm und packte ihn am T-Shirt. Doch der Junge war geschmeidig. Riss sich los und rannte weg. René war aufgrund seines Alters schnell aus der Puste. Rebecca versuchte, den Weg abzuschneiden. Doch dann stolperte der Flüchtende über eine Baumwurzel und schlug brutal zu Boden. René war über ihm und schlug die Faust in seine rechte Niere, worauf der Junge laut aufschrie. Vor dem zweiten Schlag hielt Rebecca Renés Arm und schüttelte energisch den Kopf.

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