Buch lesen: «Die Keusche»

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Volker Krug

DIE KEUSCHE

Sechs Liebesgeschichten

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

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Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Mein Liebes

Die Keusche (1962)

Der verhinderte Romeo (1967)

Dolgen (1975)

Eine Zigarettenlänge (1994)

Draußen im Walde (2004)

Reminiszenz an eine Jugendliebe (2008)

Abendgruß

Mein Liebes

Täglich finden Freud und Sorgen

in dein weites Herz hinein.

Ach, wie wünscht ich,

könnt auch ich

darin geborgen sein.

Die Keusche (1962)

Hinter den Bäumen im Westen sank ein herrlicher Tag hinab. Noch flimmerten die Felder im Ausklang der Ernte, seltsam verklärt. Langsam verglühte die Sonne in der zitternden Wärme des Abends.

Er stand unter der einzigen Laterne des Gasthofs und spürte die zärtliche, streichelnde Hand des Herbstes, den letzten Gluthauch des scheidenden Augusts. Er stand und wartete.

Sie kam nicht.

Und während er verharrte und den Blick in die leblosen Giebel des Dorfes schweifen ließ, dachte er etwas enttäuscht: ‚Das Übliche!‘

Sie kam nicht.

Er hasste diese verstreuten Häuser. Er hasste diesen Samstagabend, der ihn so allein ließ. Vor nicht einmal drei Wochen war er hier angekommen, in diesem mecklenburgischen Dorf; im August zweiundsechzig, als Praktikant bei einem Messtrupp der Firma Geophysik. Wie jeden Sommer mussten sie hinaus ins Feld, die schwere Arbeit kennen lernen, nachempfinden. Auch das gehörte zum Studium. Auch dass es den einen oder anderen „ans Ende der Welt“ verschlug. In ein solches Achthundertseelendorf eben. Tote Hose!

Doch sie kam nicht …

Er hatte es eigentlich erwartet. Gewohnheitsmäßig. Was in aller Welt sollte man sonst dieser Einöde abverlangen? Ein Flirt, ein wenig Abwechslung. Aber bedeutungsloser Küsse wegen? Gewohnheitsmäßig?

Wer denn war dieses Mädchen mit dem goldenen Haar? Das Lachen hatte ihm gefallen. Bedeutete das alles?

Sie kam nicht.

Wohin nun führte ihn diese angegammelte Stunde lähmender Misslaunigkeit? Wohin mit den miserablen Gedanken? Wohin mit der bedrückenden Melancholie? Nein, vielleicht war es sogar besser so und er musste für diese Viertelstunde verwartete Besinnung danken.

Er schaute hinüber zum offenen, lichtdurchtränkten Eingang des Wirtshauses, in dem er wie einige andere auch sein Quartier gefunden hatte, aus Mangel an besseren Möglichkeiten hatte finden müssen. Andere waren auf Bauernhöfen untergekommen. Allein, für diese vier Wochen, die er hier mit seinem Praktikum verbringen musste, schien eine andere Lösung nicht möglich zu sein, war nur ein bescheidener Gästeplatz vonnöten. Allerdings fand er sich nicht allein in dieser glücklosen Lage. Zwei Hilfsarbeiter teilten mit ihm das vollgestopfte Zimmer. Und er ließ sich kaum aushalten, dieser Trubel, der unten herauf aus der Gaststube in die komfortlose Enge drang. Vor Mitternacht war an ein Einschlafen überhaupt nicht zu denken! Ach! Der Missmut überstülpte ihn, da er den Lärm hörte, das Tohuwabohu sah vorn an der Eingangstür. Die drei Linden am Anger standen wie drohende Riesen und fächelten sanfte Luft gegen das ziegelrote Dach.

Sollte er dennoch auf sein Zimmer gehen?

Er zog verdrossen die Brauen zusammen und stapfte hinüber zum Tor. Stinkender, stickiger Qualm, schwellender Lärm schlug ihm entgegen, als er die klappernde Tür zum Gastraum öffnete. Schwaden von Rauch durchnebelten die Luft; die Aschenbecher quollen über von zerdrückten Stummeln. Auf den deckenlosen Holztischen standen die Gläser in zahllosen Lachen von Bier. Säuerlicher Geruch drang in die Nase. Dies alles, obwohl die Fenster weit offen standen! Sein Blick tastete sich von einem Tisch zum anderen. Wetterverbrannte Gesichter; meistens Kollegen aus dem Messtrupp.

Am Tisch neben der Theke saßen die vier Bohrer: Tschombé, Lumumba – fast jeder hier hatte mit einem Spitznamen zu leben –, de Groote, Hansheinrich. Sie spielten unentwegt Karten, wie immer. Volle Gläser standen auf dem Tisch, zwei leere fielen um, weil eine herrische Faust auf die Platte donnerte. Die Kumpel würdigten ihn keines Blickes, als er hereintrat, schienen hochkonzentriert. Recht so! Was sollte er mit ihnen schaffen oder reden an diesem verdorbenen, verschenkten Abend.

Er setzte sich, in die Ecke gedrängt, an den einzigen freien Tisch. Mit dem Daumen signalisierte er dem Wirt seinen Wunsch nach einem schaumigen Bier. Der Wirt nickte stumpf.

… Sie war also nicht gekommen. Nun gut!

Musste man halt den Weltschmerz im Bier ersäufen! Dachte er, lächelte er. Nein, nichts mit Kleinschlagen eines unschuldigen Tisches! Immer besonnen, immer zurückhaltend! Keine Schimpfworte, kein Ausspucken! Mürrisch schaute er auf die fragwürdige Blume des Bieres, das der Wirt ihm vor die Nase setzte. Der Schaum zerplatzte, wie alles, wie alles … Unermüdlich drehte er das Glas zwischen den Fingern. – Letztes Jahr war es doch ähnlich gewesen. Oder? Wie oft eigentlich hatte er schon vergeblich gewartet! Verlorene Zeit! Oder auch nicht? Hier zu sitzen, ließ sich bestimmt nicht sinnvoller an. Dieselben Gedanken, dieselbe Enttäuschung! Wollte er denn nie daraus lernen! Ja, zum Teufel, hatte er andererseits nicht das Recht, sein Leben auszukosten?

Müdigkeit legte sich ihm auf die Augen. Sollte er nicht doch lieber die Kammer da oben aufsuchen? Zweifelnd schaute er zur Decke, dachte mit Grauen an die lädierte, altmodische Waschschüssel ohne Abfluss, den unreinen Eimer stattdessen, die funzlige Nachttischlampe, die muffige Bettdecke.

„Student?“

Erschrocken fuhr sein Blick herab.

„Hast noch’n Platz, Student?“

„Ich heiße Reinhard“, erwiderte er, verärgert darüber, immer nur mit Student angesprochen zu werden.

Aber der andere hatte sich bereits gesetzt, ohne Seitenblick, ohne Antwort zu erwarten. Es war einer der Hilfsarbeiter, Margarine-Schorsch, nicht der Eifrigste eben, auch nicht der Behäbigste. Was wollte ausgerechnet der von ihm? Wirklich nur einen Platz am Tisch? Er bekam sein Bier und einen Korn. Griente.

„Schon lange hier?“

Was ging dies Margarine-Schorsch an! Reinhard wiegte den Kopf. Abermals schien sein Gegenüber nicht an einer Antwort interessiert. Der junge Mann, kaum älter als er selbst, schaute sich gelangweilt um, kippte den Schnaps mit verzogenem Gesicht hinunter und stürzte den Inhalt des Bierglases nach.

‚Soll er das Saufen lassen, wenn es ihm nicht schmeckt!‘, dachte Reinhard, verstimmt durch die ungewünschte Ablenkung. Der andere schaute gläsern zu ihm hin, lächelte abfällig und widmete sich sogleich dem anderen Geschehen in der Gaststube. ‚Kann dieses Individuum überhaupt Glück empfinden?‘ schmollte Reinhard in Gedanken. ‚Ist der überhaupt fähig dazu? Grinst mich an! Ideale, was bedeuten ihm Ideale! Dümpelt hin von einem Tag in den anderen. Schlafen – Arbeiten – Saufen – Fressen – Schlafen!‘ Verdrossen drehte Reinhard sein Bierglas zwischen den Händen. ‚Am besten umwerfen, psschscht, dass es klirrt! Blöde gucken! Hohnlachen! Wisst ihr denn nicht, wie hässlich ihr seid, ihr … ihr Zwerge! Ihr Fratzen! Die das Leben wegwerfen!‘

„Mädchen, hä?“, kicherte MS, nun schon sein zweites Doppel vor der Nase. „Hat dich sitzen lassen, Student? Weibervolk, verdammtes!“

Ein Gespür dafür besaßen solche Leute, schien es Reinhard. Na ja, es gab nicht viel daneben zu tippen. Er selbst mochte nichts sagen darauf, nicht antworten. Um nicht gar zu ungehobelt zu erscheinen, nickte Reinhard dann doch leicht mit dem Kopf.

„Scheiße“, resümierte Margarine-Schorsch. „Elende Wirtschaft! Kann ein Lied davon singen, Student. Ganze Kompanien Mädels hätt’ ich gehabt an jeder Hand. Aber wenn man nur eine will, nur die eine, dann ist es Scheibenkleister. Verstehst? Scheiße. Alle Spielverderber. Kann ich dir sagen, Student, kann ich dir sagen! Kennst du die Keusche?“

„Die Keusche? – Nö.“

„Mensch, der kennt die Keusche nicht!“ Margarine-Schorsch lehnte sich erstaunt über den Tisch und grinste. „Was bist du überhaupt für’n Kerl, hä? Mann, diesen Pullover kennst du nicht?“

„Gehört hab ich manches …“, versuchte Reinhard einzuwenden. Nichts hatte er gehört, natürlich nichts!

„Gehört, gehört! Kieken muss man, Junge!“

Reinhard erinnerte sich schwach, dass der Name „die Keusche“ unter den Feldarbeitern wohl ab und an gefallen war. Aber sonst? Deren Gesprächsthema, nicht seins! Wie sollte ihn eine solch luftige Person beschäftigen! Nein, er hatte sie tatsächlich noch nicht gesehen. Was sollte es auch! Wer war sie schon!

„Titten hat die“, fuhr Margarine-Schorsch mit leuchtenden Augen fort und spreizte die Hände. „Alles dran, Student! Die braucht ordentliche Pranken!“

„Ach, ist sie nicht Lehrerin.“, versuchte sich Reinhard zu erinnern? Doch, doch, er hatte sie wohl einmal gesehen, von weitem, mit einem kleinen Köfferchen.

„Genau die! Aus Sachsen angereist in diese Öde, um uns das Leben zu versüßen. Keine irdische Kragenweite, sag ich dir! Gar nicht zu vergleichen mit den feisten Bauernweibern hier. Fein und gebildet! Sieht man schon an den Fingern. Und ihre Stimme: Wie ausgelassene Butter. Den Gang musst du dir ansehen, Student, tänzelt wie ne Stute vorm Hengst! Wenn sie sich nur öfters sehen ließe! Verstehst? Wir sind ja nun schon ein halbes Jahr hier, gesehen hab’ ich sie aber nur zwei Mal. War ganz schön abgefahren auf sie, muss ich gestehen. Die Kumpel ziehen mich auf deswegen!“ Er schaute sich um und schien nicht wenig stolz. „Purer Neid! Aber an die kommt keiner ran, das behaupte ich mal, niemand. Die ist die verdammte Keuschheit selbst – wie vom Papst geschaffen! Ich will ja auch nur riechen, verstehst, mal verkosten. Mehr ist für unsereinen gar nicht drin. Aber ich fress einen Besen, wenn die nicht irgendwo ’n Macker sitzen hat. Wär sonst bestimmt nicht so zickig. Geht nicht ins Kino, nicht zum Schwof. Ist scheißfreundlich, aber so bissig, dass dir gleich das Lachen vergeht. Oder du kriegst eine gescheuert, wie unserm Inschenieur. Schiebt dich einfach beiseite! So was gibt’s einfach nich! Vernaschen, ja, das wär’s!“

„He, Margarine-Schorsch!“, rief es vom Nachbartisch. „Hat sie dich wieder versetzt?“ Gelächter. Margarine-Schorsch winkte gelangweilt. „Geh auf dein Zimmer, ich weiß was Besseres!“

„Scheiß, lass mich in Ruhe!“, schnauzte Schorschi zurück.

„Lass sie sausen, MS, lass sie sausen! Kommst doch nicht ran. Affengeil! Affengetue!“

„Schneeaffe!“ Margarine-Schorsch brummelte verärgert vor sich hin.

Ja freilich, dieser rüde Ton war halt ihre Umgangssprache. Reinhard schaute belustigt hinüber. Aber Margarine-Schorsch fühlte sich tatsächlich getroffen. Junge, Junge, so fantastisch konnte das Weib doch nicht sein! Oder? Selbst als Lehrerin … Huh!

„Ist ’ne Sexbombe, Student, sag ich dir, ’ne Sexbombe!“ Reinhard rümpfte die Nase und neigte sich vor. „Unser Schießer hat sie mal baden sehen. Mann, dem sind die Augen übergekocht! So ein Becken, solche Titten!“

Maßlos wie immer, dachte sich Reinhard und drehte schweigend sein Bierglas. Geschwätz! Angebereien! – Es ist wohl besser, ich zahle.

Margarine-Schorschs Blick hing ohnehin am Nachbartisch. „Hättest das Eichel-Daus nich schmieren sollen!“, sagte er.

„Spielst du Karten o-oder ich, du Jungfernkiller, du du!“, stotterte Tschombé.

„Hol du doch dein schmieriges Eichel-Daus raus, MS!“ Lumumba lachte laut auf.

„Die Keusche leg ich noch übers Knie!“, verkündete Margarine-Schorsch lauthals und stierte Reinhard leicht umnebelt an. „Drauf kannst du einen lassen, Student!“

„Keiner ist bis heute an die ran-rangekommen, Student“, sagte Tschombé und sah zu, wie Reinhard seine magere Zeche dem Wirt auf die Hand zählte. „Treibt mit ihren Reizen nur Schindluder. Wozu, verdammt, hat der liebe Gott so was so was geschaffen! Und auch du wirst sie nicht knacken, Student. Verwett ich meinen Arsch!“ Reinhard wollte sich schon erheben, aber noch immer gab Tschombé nicht auf. „Einmal hab ich sie an-angefasst; nach dem Kino. Wollte sie nur mal betatschen, sehen, ob das auch echt ist. Da hat sie mir eine gegescheuert. Ha-ha. Noch mal, noch mal passiert mir das nicht! Gebildete, eingebildete Zicke! Hat auch nichts anderes als wie andere Weiber.“

Margarine-Schorsch rückte seinen Stuhl an den Nachbartisch. Reinhard ging.

Draußen umfing ihn frische Luft. Der Abend war nicht mehr so drückend. Tief sog er zweimal die Luft ein, dann schien der Mief der Kneipe aus seinen Lungenflügeln vertrieben. Dennoch, er ärgerte sich über das dumme Geschwätz. Immerhin aber hatte es seine Neugier angefacht. Sollte er tatsächlich etwas verpasst haben, bisher, hier, in den letzten beiden Wochen? Gab es wirklich ein solch mysteriöses, fantastisches Mädchen, eine sanfte, unwiderstehliche Schönheit? Langsam schlenderte er einige Schritte die grillendurchzirpten Gärten entlang und lauschte hinaus in die ferne Stille der Natur.

Wie, andererseits, widerte ihn dieses abstoßende Gebaren an! Wie einsam und allein kam er sich vor! Niedergeschlagen. Enttäuscht von Welt und Leben. Nun ja, nur noch wenige Tage musste er in diesem Nest ausharren!

Die da drinnen, sann er verärgert, die da drinnen dachten nur an das Heute, den Tag, die Stunde. Was davor, was dahinter lag, schien ihnen fatal gleichgültig. Was aber brachte das Morgen, sollte das Morgen bringen? … Gedanken eines Wehleidigen, was? Gedanken eines Zerrissenen? Gedanken eines, der nicht mit dem Leben zurechtkam? Wie eng und bedrückend erschien ihm alles hier. Enttäuschung und Frust, gedrückte Stimmung, gedrückte Laune, wie auch immer; Misanthropie, Melancholie, Selbstmitleid. Was er im Augenblick fühlte, setzte sich unbeholfen nur aus solchen Schlagwörtern zusammen. Aber war er denn anders als jene? Bewegte sich in ihm nicht alles in gleichem Maße, wenn auch auf anderer Ebene?

Ach, es war vorüber, verraucht! Reinhard spürte den immer würzigeren Duft, je mehr er sich von den drei drohenden Linden entfernte, je weniger ihn der Lärm dieser Gesellschaft einholte. Die angenehme Luft durchströmte plötzlich jeden Zipfel seines Körpers, jeden Winkel des Hirns; säuberte es von trüben Gedanken. Er fand zu seinem Lächeln zurück. Ein leiser Seufzer entwich seiner Kehle und hüpfte in die Dunkelheit davon.

Bald hörte er nur noch seine knirschenden Schritte im lockeren Sand. Windstille. Ruhe vor dem Sturm? Von ferne herüber rollte das gedämpfte Quaken unzähliger Frösche aus den kleinen Teichen am Dorfesrand. Noch schwebte ab und an der Duft der Ernte in geballten Schwaden heran – die heißen Reste des Tages wichen dahin.

Willenlos schlenderte er der Freiheit seiner Füße nach. Jetzt fanden Trost, Geruhsamkeit, innere Einkehr zurück. Hinter dem großen Nussbaum des Gemeindehauses schielte der Mond hervor; zunehmend huschten Wolkenfetzen an ihm vorüber. Schwüle. Von Ferne rauschte etwas heran, blitzte es wetterleuchtend. Ein aufkommender Wind begann zu stöhnen. Maunzend querte vor ihm eine Katze den Weg und verschwand in den verstaubten Nesseln.

Kein Zweifel, ein Gewitter.

Er wandte sich um, damit er nicht von diesem Unwetter überrascht werde. Drüben in der Kneipe öffnete sich die Tür – ein kurzes Lachen, dumpfes Poltern und trappelnde Schritte. Dann verschwand der Lärm wieder hinter dem groben Portal aus Eichenholz.

Der Wind nahm zu.

Abermals eine Stimme. Heißeres, männliches Lachen – nicht sehr weit entfernt. Wortfetzen, ein holprig hingeworfener Satz, den Reinhard nicht verstand. Der schrille Tonfall eines Mädchens. Angst oder Lebensfreude? Reinhard blieb stehen und richtete sich auf, doch er vernahm lediglich undeutliches, beruhigendes Gemurmel. Über seinem Kopf begannen die Blätter der Linden zu tanzen und zu rauschen; Böen fegten verräterisch zwischen die Äste. Noch sah man den gehetzten Mond zwischen den Wolken, bald aber verschwand auch er im Rachen der nahenden, pechschwarzen Wolkenwand.

Ein deutlicher Aufschrei nun in der Nähe, wohl hinter ihm irgendwo auf der Dorfstraße – der schmerzliche Aufschrei eines Mädchens. Reinhard hielt inne. Ihn trieb die Neugier und ein wenig die Befürchtung, zu Hilfe eilen zu müssen. Er trat einige Schritte in den Schatten der Gärten zurück. Der Mond riss ein letztes Loch in die Wolken und Reinhard erkannte, unweit in Fetzen von Licht getaucht zwei menschliche Gestalten. Sie schienen sich nicht so recht einig, das Mädchen und der Bursche. Reinhard glaubte deutlich, Handgreiflichkeiten zu erkennen. Wohl nichts Aufregendes, dachte er, die üblichen Zierereien … Schon wollte er sich abwenden, da vernahm er wiederum die weibliche Stimme:

„Lassen Sie mich! Gemeiner Mensch, Sie! Ich schreie um Hilfe!“

Nein, so artikulierte sich kein Mädchen vom Dorfe! Reinhard ließ die Arme sinken, starrte verwundert hinüber und schien im Augenblicke unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Keuchendes Gelächter antwortete aus der Dunkelheit und eine raue Stimme presste hervor:

„Ich werd dich schon kirre machen! Verdammtes Biest!“

„Ich schreie!“

„Schrei doch! Ich halte dir die Klappe zu. Wer weiß, ob dein Geheul überhaupt jemand hört!“

Reinhard stolperte einige Schritte auf das Pärchen zu. Der heftige junge Mann packte das Mädchen bei den Unterarmen, so dass es sich unter seiner Derbheit hin und her wand. Reinhard blieb erschrocken und unentschlossen stehen. Machte er sich möglicherweise nur lächerlich, wenn er vorgab, einen Streit zu schlichten? Wenn aber, andererseits … Reinhard hielt es für geboten, zumindest zufällig an ihnen vorbei zu schlendern. Aber als er ihnen nahe kam, verhielten beide zwar in Stimme und Handgreiflichkeit, doch umklammerte der rohe Bursche das Mädchen mit deutlicher Kraftanstrengung. Feige und mit schnellen Schritten eilte Reinhard davon. Wenn dennoch …? Was tun?

Ein dumpfer, tief schmerzlicher Aufschrei des Mannes und ein fallartiges, raschelndes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Unsicher wandte er den Blick zurück. Was er in der Dunkelheit erkannte, überzeugte ihn nun doch von der Gewalttätigkeit der Szene. Offensichtlich hatte das Mädchen die Überraschung genutzt und seinem Peiniger zwischen die Beine getreten. Fast ebenso schnell jedoch richtete der Bursche sich wieder auf, holte die junge Frau nach wenigen Schritten ein und schleuderte sie mit brutaler Hand zu Boden. Er wälzte sich rachsüchtig auf sie und schlug auf sie ein.

„Hilfe! Hilfe!“, schrie sie röchelnd. Doch er ließ sie nicht los.

„Schnauze, Miststück!“, zischte der aufgebrachte Kerl und drückte ihr roh die flache Hand auf Mund und Hals. „Dich krieg ich schon noch weich!“

Reinhard konnte sich später kaum erinnern, wie schnell er am Ort gewesen war. Er warf sich auf beide Gestalten und mühte sich, sie mit all seiner Kraft zu trennen. Der Bursche jedoch, kräftiger als er selbst, schien sich nicht beirren zu lassen und versuchte unbeeindruckt, ihr und ihm mit Schlägen beizukommen. Kurz darauf, als Reinhard wie besessen auf seinen Rücken einhämmerte, sprang er plötzlich hoch und baute sich wenige Schritte vor ihm auf.

Die junge Frau rappelte sich weinend empor, sah Reinhard erstaunt mit tiefdunklen Augen an und stolperte davon. Ein kleiner Blutfaden rann aus dem Mundwinkel. Ihr zerzauster Pferdeschwanz verschwand in der schützenden Dunkelheit. Sie war hübsch, gewiss, aber Reinhard hatte davon in der Hastigkeit des Geschehens kaum etwas erkennen können.

„Weißt du überhaupt, was du machst?“, schrie ihn der Bursche an. „Wer bist du denn! Mischst dich in meine Angelegenheiten! Was ich mit ihr anstelle, ist allein mein Bier! Hau ab, sag ich dir! Sonst brech ich dir noch die Knochen! Hau ab!“

Reinhard zog die Ellenbogen hoch und posierte wie ein Boxer. „Bist du blöd, Mann? Entweder sie will dich, dann braucht sie kein solches Theater. Oder sie will dich nicht, dann hast du eine Vergewaltigung am Hals!“

„Sie hat mir in die Eier getreten!“, jammerte der Kerl.

„Was, bitte, hätte sie sonst tun sollen?“

„Das werd ich dir noch heimzahlen, du Arschloch, das verspreche ich dir!“ Er versuchte, der jungen Frau mit hastigen Schritten nachzustolpern, aber Reinhard stellte sich ihm in den Weg. „Geh dort lang!“, sagte er und schob ihn in die Richtung der Kneipe. „Die ist längst über alle Berge! Und bald wird es gewittern.“

Wie zur Bestätigung fuhr der erste Blitz krachend nieder. Tropfen platzten auf die staubige Erde und hinterließen kleine Krater.

„Lass dich nur nicht alleine erwischen“, rief der verunsicherte Bursche. „Dich schlag ich noch grün und blau!“

Im aufzuckenden Blitz sah Reinhard den Kerl hinter der nächsten Linde verschwinden. Hatte er durch den erholsamen Spaziergang an den Gärten entlang ohnehin seine bessere Laune zurückgewonnen, so befriedigte Reinhard jetzt um so mehr das erhabene Gefühl, einem bedrängten Menschen beigestanden zu haben. Dass dieser Mensch ein hilfloses Mädchen war, erfüllte ihn mit Stolz. Er breitete die Arme aus und stellte sich unter den düster behangenen Regenhimmel. Genüsslich ließ er die großen Tropfen auf seinem Gesicht platzen. Doch dann sprang er in übermütigen Sätzen, die noch zaghaften Pfützen meidend, in den Schutz der Linden am Haus. Oben, in seiner Übernachtungskammer, riss er sich die durchnässten Kleider vom Leibe, öffnete das knarrende Fenster und ließ den prasselnden Regen vor seiner Brust herabrauschen. Er bejubelte alle Blitze, die die umliegenden Häuser in ein stroboskopisches Licht tauchten.

Unten in der Kneipe kehrte gespenstige Stille ein, Türen und Fenster wurden verrammelt. Das gewöhnliche Leben duckte sich unter dem Toben der Natur.

Dieses Mädchen!

Er hatte es ja nur flüchtig gesehen … Reinhard lehnte sich weit über das Fensterbrett hinaus und ließ den Regen auf seinen Kopf trommeln.

Wie glücklich fühlte er sich, wie stolz! Weit hinter sich ließ er die trüben Gedanken dieses miserablen Abends. Hungriges Leben meldete sich! Nichts da von Traurigkeit und Resignation. Er, ein fröhlicher Mosaikstein dieser großen, allumfassenden, zu umarmenden Welt! Jeder Ort erstrahlte in plötzlicher Schönheit. Auch dieser!

‚Leise flehen meine Lieder

durch die Nacht zu dir …‘,

pfiff er vor sich hin. Kitsch, argwöhnte er sogleich, Kitsch, diese Stimmung. Nein, so empfand er es keineswegs. Es trieb ihn reine Freude, der Genuss an dieser berauschenden Melodie. Zärtlichkeit …

‚… lass auch dir die Brust bewegen,

Liebchen, höre mich!

Bebend fahr ich dir entgegen,

komm, beglücke mich!

Komm, beglücke mich!‘

Es schien ihm gar nicht bewusst, wie seltsam die Genugtuung über seine edle Tat in eine unbestimmte Sehnsucht nach diesem geheimnisvollen Mädchen übergesprungen war. Verstummendes Summen auf den Lippen, schloss er das Fenster, trocknete sich das nasse Haar, ließ sich ungehemmt lang auf die knarrende Bettstatt fallen. Augenblicklich schlief er ein.

Der nachfolgende Morgen verhieß einen wunderbaren, gereinigten Tag. Die Sonne stieg über die Wipfel des rückwärtig gelegenen Waldes empor. Vom Weiher her zog ein zierlicher Schleier, letzter, kühlender Rest des nächtlichen Gewitters. Frische Luft zog durch die Gassen, belebtes Grün lag in den Gärten, Wiesen und Wäldern.

Sonntag.

Reinhard lauschte dem Gezwitscher in der Linde vor seinem Fenster. Als er sich hinauslehnte, verstummte es für kurze Zeit. Sein Blick schweifte an den mächtigen drei Kronen vorbei in die unendliche, erblauende Ferne. Flache Moränenhügel schmiegten sich an den Horizont. Davor Felder, immer wieder Felder und kleine Waldhaine, Reste vergewaltigter Auen. Einfache Zweiheit: Himmel und Erde.

Die anderen schliefen noch, schnarchten vor sich hin.

Er beschloss, am frühen Nachmittag hinauszuwandern in die so unvertraute Natur, hinüber in das Wäldchen, in dem er Ruhe und Entspannung zu finden hoffte, Ruhe vor jenem Geschehen, das ihn gestern Abend eingestandenermaßen aufgewühlt hatte. Um die Mittagsstunde ließ er die letzten Häuser hinter sich, die letzten äpfel- und birnenträchtigen Gärten. Er traf kaum jemanden. Alles, die Lautlosigkeit, die Natur, den ländlichen Frieden sog er in sich auf. Sonntäglich still wurde es um ihn her. Nur die Lerche, die Grille, den Frosch – nur diese verträglichen Geräusche nahm er wahr. Die wöchentliche Hast schien verbannt.

Er lenkte seine Schritte auf diesen und jenen Weg, streifte dort am Rande eines Hains hin, mied insektenumschwirrte Tümpel und suchte zuweilen die angenehme Kühle eines dichten Waldstücks, wie es hin und wieder zwischen den Feldern verstreut lag. Er bewunderte die zahlreichen, betagten Eichen und Erlen, Eschen und Ulmen. Durch die Wipfel streute dämmernd das Licht. Auf dem Feld tauchte die Sonne Licht und Schatten in die tiefgefahrenen Rinnen des Bodens.

Ländliche Idylle. Landschaft, die unter jedem Grashalm neue Wunder gebar.

Leise kicherte Reinhard vor sich hin: Vorfreude auf die anstehende Heimreise? Er genoss diesen Tag gewissermaßen schon als Scheidender.

Eine gute halbe Stunde hatte er sich schon vom Dorfe entfernt. Drüben grüßten noch die roten und grauen Dächer, der aus Feldsteinen zusammengefügte Kirchturm. Vor ihm lag ein großer Flecken urtümlichen Laubwaldes, in den ihn der schattige Weg nun führte. Bis hierher hatte er sich noch nie gewagt. Bald umfing ihn das dichte, gereifte Grün des Blattgewölbes; nirgendwo links und rechts spürte er den Griff ordnender Menschenhand. Das Unterholz wucherte, verschlang den Weg und teilte ihn in wundersame Pfade. Unbekümmertes Vogelgezwitscher drang an sein Ohr. Oh ja, hier beschirmte das Leben das Leben! Unzählige Stimmen, einziges Rauschen!

Unvermittelt verhielt er, da seine Augen auf dem Boden suchten, vor einem verquer liegenden, modernden Baumstamm. Ein Knistern – nicht von ihm verursacht – hatte ihn gewarnt. Aufmerksam wandte er den Blick zur Seite. Hatte man ihn bemerkt? Es schien, als streifte ein Paar brauner, unsicherer Augen durch das unwegsame Gestrüpp. War sie es? Die junge Frau kam ihm unvermittelt, nur wenige Meter entfernt, auf einem Seitenpfade entgegen. Dickicht verschleierte ihm den sicheren Blick. Er konnte die Züge nicht deutlich erkennen. Sie ging vorüber und das Bild entschwand zwischen dem dichten Laub, der elastische Rücken zerfloss im Blaugrün der störrischen Zweige. Ein dunkler Schopf verlor sich in den Farbtupfern dieser Wildnis. Kein Blick zurück!

So weitab vom Dorfe!

Wer mochte dies sein? Wer schritt hier so einsam, so stolz und unbekümmert daher? War sie es?

Kopfschüttelnd überstieg er den morschen Stamm und setzte den Weg gedankenverloren fort. Ohne sich recht seines Wollens bewusst zu sein, wendete er die Schritte an erstmöglicher Stelle auf jenen Pfad, den dieses rätselhafte Mädchen gegangen war. Hoffnung durchhämmerte plötzlich sein Herz. Schmetterlinge flatterten im Bauch! Er fühlte sich ertappt, da er dem Weg dieses Mädchens so unverfroren folgte. Spannung vor dem Erkennen! Nichts weiter!

Nichts weiter?

Hatte er nicht gestern erst dieses langweilige Leben hier verdammt? Hatte er sich nicht geschworen, keinem zweifelhaften Mädchen mehr nachzulaufen? Hatte nicht gestern erst ein solches Wesen ihn wieder sitzen lassen? Doch andererseits: Tauchte nicht dieses wundersame Geschöpf auf wie Phönix aus der Asche? Bedurfte er nicht einer Seele, die ihn tröstete?

So schnell, wie er die junge Frau aus dem Blickfeld verloren hatte, so unvermittelt schimmerte ihr blaues Kleid plötzlich wieder zwischen den Bäumen hervor. Sie kam ihm entgegen, direkten Fußes! War sie ihm gefolgt? In seinem Kopf überschlugen sich die Vermutungen und der Wunsch auf erhoffte Entdeckung. Ja, sie war es wirklich und wahrhaftig! Große, dunkle Augen schauten ihn fragend an, Augen, die ihn auch am vergangenen Abend verwundert angesehen hatten, tief und glänzend. Eine weiße Spange schnürte den braunschwarzen Pferdeschwanz. Und ein blaues Kleid fiel ihr diesmal über die wohlgeformte Hüfte, nicht jene enge Hose.

Reinhard fragte sich, wie diese junge Frau den Mut aufbrachte, hier allein umher zu wandeln, meilenweit entfernt vom Dorfe und nach all dem, was gestern geschehen war. Doch ehe er sich in weiteren Vermutungen erging, hatte sie sich unvermittelt auf einen Baumstamm niedergelassen. Die Begegnung schien unvermeidlich, ob sie nun gesucht und gewünscht war oder gar peinlich berührte. Wohl auch erkannte er ihre Verlegenheit. Ihr Nicken, sein Nicken … Sollte dies der ganze Gruß bleiben? Selbst ein schwaches Lächeln half nur wenig über die Verlegenheit hinweg.

„Na …“

„Ich …“

Ein erleichtertes Lächeln spielte auf ihren Lippen und ihre Augenlider zogen sich um ein Blinzeln zusammen.

„Ich wollte mich so gern bei Ihnen bedanken!“, sagte sie leise. „Welcher Zufall! Das waren doch Sie gestern Abend, nicht? Ich …“

Reinhard nickte verlegen, biss sich auf die Lippen.

„Sie haben mir wirklich in einer misslichen Situation beigestanden. Ich, ich bin nicht mehr sicher vor diesen Übergriffen …“

„Sie sollten es nicht auf sich beruhen lassen“, sagte er vorwurfsvoll. Aber, mein Gott, wenn man so aussah wie sie, dachte er weiter. Diese Erhabenheit, diese Schönheit! Nein, nicht oberflächliche Wohlgestalt! Anmutige, weibliche Schönheit! Reinhards Blick hing an ihren schmalen, geschwungenen, fast schwarzen Augenbrauen, bewunderte das unverfälschte, natürliche Rot ihrer Lippen und die gerade Nase mit einem Anflug von Sommersprossen. In sanften Wellen floss das Haar über die linke Schulter. Sie zupfte, da er sein Schweigen nicht brach, verlegen an einem widerspenstigen Zweig.

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0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
390 S. 1 Illustration
ISBN:
9783957442093
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