Buch lesen: «Les Misérables / Die Elenden», Seite 16

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III. Bei Lafitte hinterlegte Gelder

Bei alledem war Vater Madeleine ein schlichter, einfacher Mann geblieben. Graue Haare, ernst blickende Augen, von der Sonne gebräunte, Züge ein nachdenklicher Gesichtsausdruck. Bekleidet war er gewöhnlich mit einem langen, hochgeschlossenen Rock aus grobem Tuch. Abgesehen von dem Verkehr, zu dem seine Pflichten als Bürgermeister ihn nötigten, lebte er einsam. Er sprach mit Wenigen, wich aus, wenn man ihn höflich grüßte, oder brach das angefangene Gespräch rasch ab, lächelte, um nicht reden, und schenkte Geld, um nicht lächeln zu müssen. Einen gutherzigen Bären nannten ihn die Frauen. Immer zog er dem Umgang mit Menschen, Ausflüge auf das Land vor.

Auch seine Mahlzeiten nahm er allein ein, las aber dabei; Seine Bibliothek war gut ausgewählt, und er hielt viel von den Büchern, den stillsten und sichersten Freunden des Menschen. Je mehr Muße ihm allmählich die stetige Vermehrung seines Reichthums verschaffte, desto eifriger befliß er sich, seine Kenntnisse zu erweitern. Dies Bestreben wirkte auf seine Art sich auszudrücken zurück, die von Jahr zu Jahr sich höflicher, gewählter und milder gestaltete.

Bei seinen Ausflügen in die Umgegend trug er gern eine Flinte, bediente sich ihrer aber höchst selten. Geschah dies dennoch, so schoß er mit einer Treffsicherheit, die schrecken erregen konnte. Nie tötete er ein unschädliches Thier, nie einen kleinen Vogel.

Obgleich er nicht mehr jung war, erzählte man sich, er besitze eine mächtige Körperkraft. Jedenfalls griff er gerne zu, wenn es galt, Hilfe zu leisten, ein gestürztes Pferd wieder aufzurichten, einen festgefahrenen Wagen aus dem Koth herauszuziehen, einen wüthenden Stier bei den Hörnern zu packen. Wie gutmüthig er war, sah man auch daraus, daß er stets viel kleines Geld mitnahm, wenn er ausging und jedesmal mit leeren Taschen zurückkam. Die zerlumpten Kinder in den Dörfern liefen ihm mit Freudengeschrei nach und umtanzten ihn, wie ein Schwarm Mücken.

Manche muthmaßten, daß er ursprünglich auf dem Lande aufgewachsen sein mußte, denn er lehrte die Bauern eine Menge nützlicher Geheimnisse. Er zeigte ihnen, wie man der Kornmotte zu Leibe geht, nämlich mit einer Auflösung von gewöhnlichem Salz, womit die Dielen begossen werden müssen. Er kannte »Rezepte« gegen das Rapünzchen, die Rade, die Wicke, den Kuhweizen und andre Schmarotzerpflanzen, die das Getreide ersticken. Um von einem Kaninchengehege die Ratten fern zuhalten, hieß er die Bauern ein Meerschweinchen hineinthun, dessen Geruch die Ratten nicht leiden können.

Eines Tages sah er Leute, die sich alle erdenkliche Mühe gaben, ein Feld von Nesseln zu befreien, er betrachtete die entwurzelten und zum Theil schon vertrockneten Pflanzen und bemerkte: »Nun ist das Alles tot. Aber wieviel Nutzen könnte man davon haben, wenn man damit umzugehen verstände. So lange sie jung sind, liefern die Brennnesselblätter ein vorzügliches Gemüse; später enthalten sie Fasern und Fäden, wie der Hanf und der Flachs. Gehackt geben Brennnesseln ein gutes Fressen für das Geflügel ab; zerrieben, für das Hornvieh. Dem Viehfutter beigemengt, bewirkt Brennnesselsamen, daß die Haut der Tiere einen schönen Glanz bekommt, mit Salz vermischt, erzeugen Brennnesselwurzeln eine schöne gelbe Farbe. Außerdem ist es ein gutes Heu, das man zweimal mähen kann. Und was braucht die Brennnessel? Wenig Platz, gar keine Abwartung und Pflege. Nur daß der Same nach und nach, sobald er reif geworden, zur Erde fällt und schwer einzusammeln geht. Aber weiter auch nichts. Wollte man sich bloß ein klein Bischen Mühe geben, so würde man aus den Brennnesseln großen Nutzen ziehn; man vernachlässigt sie aber, und da wird ein Unkraut daraus. Dann rottet man sie aus. Mit vielen Menschen macht man's freilich nicht besser. Merkt Euch, Freunde! So was wie Unkraut giebt's nicht, ebenso wie's auch keine schlechten Menschen giebt. Man versteht blos nicht mit dem Kraut und den Menschen richtig umzugehen.«

Die Kinder hatten ihn auch noch gern, weil er aus Stroh und Kokosnüssen allerliebste Sächelchen zu machen verstand.

Sah er die Thür einer Kirche schwarz verhangen, so ging er hinein; er hatte für ein Begräbniß dieselbe Vorliebe, die andre für eine Taufe haben. Tod und Unglück zogen ihn an, wegen der milden Stimmung, die sie erzeugen; er mischte sich unter die traurigen Hinterbliebenen und die Geistlichen, die seufzend einem Sarge folgten. Es hatte den Anschein, als lege er gern seinen Gedanken den Text der Klagegesänge zu Grunde, die uns an das Jenseit erinnern. Die Augen zum Himmel aufgeschlagen, erhob er dann seine Seele zu dem geheimnißvollen Unendlichen.

Viele seiner guten Werke that er im Verborgenen, als handle es sich um etwas Böses. Er schlich sich z.B. heimlich in ein Haus ein. Es geschah dann wohl, daß ein armer Mensch seine Thür geöffnet, ja erbrochen fand. Er jammerte: »Bei mir hat Einer gestohlen!« Trat er aber in sein Zimmer hinein, so glänzte ihm ein Goldstück entgegen, das der Spitzbube, Vater Madeleine, zurückgelassen hatte.

Er war leutselig und schwermüthig. Das Volk sagte deshalb: »Er ist nicht stolz, trotzdem er reich ist! Er sieht nicht zufrieden aus, trotzdem er so viel Geld hat!«

Manche behaupteten, es hafte etwas Räthselhaftes an diesem Menschen und versicherten, er ließe Niemand in sein Zimmer, das, nach Art von Klausnerzellen, mit Menschenknochen und Todtenköpfen verziert sei. Dieses Gerücht trat mit einer solchen Bestimmtheit auf, daß eines Tages einige spottlustige, feine Damen zu ihm kamen, mit der Bitte, er möge ihnen doch sein Zimmer zeigen; es gehe die Rede, daß es darin ganz graulig aussehe. Er ließ sie lächelnd sofort hinein und sie fanden sich arg enttäuscht. Es war ein gewöhnliches, mit ordinären, unschönen Mahagonimöbeln und billigen Tapeten versehenes Zimmer. Nur ein paar Leuchter, die auf dem Kaminsims standen, fielen ihnen auf. Sie waren von »echtem Silber«, das stellten die Kleinstädterinnen fest, indem sie sich, gewissenhaft überzeugten, daß beide Leuchter gestempelt waren.

Trotz alledem hieß es noch immer, Niemand werde je in dieses Zimmer hineingelassen, und es sehe grausig aus, wie eine Einsiedlerhöhle, ein Grabmal.

Desgleichen munkelte man, er habe »kolossal« viel Geld bei Lafitte zu liegen und zwar sei merkwürdiger Weise Vorkehr getroffen, daß ihm auf sein Verlangen das ganze Geld sofort und mit einem Mal ausgezahlt werden müsse. Herr Madeleine könne also beispielsweise eines schönen Tages in Lafitte's Komptoir kommen, eine Quittung unterschreiben, seine zwei oder drei Millionen binnen zehn Minuten in die Tasche stecken und davongehen. In Wirklichkeit reduzirten sich aber, wie schon gesagt, die zwei oder drei Millionen auf sechshundert dreißig oder vierzig Tausend Franken.

IV. Madeleine trauert

Zu Anfang des Jahres 1821 meldeten die Zeitungen das Ableben des Bischofs Myriel von Digne im Alter von zweiundachtzig Jahren.

Sie vergaßen zu erwähnen, daß er seit mehreren Jahren blind gewesen, aber mit seinem Schicksal versöhnt war, da er seine Schwester bei sich hatte.

Beiläufig gesagt: Blind sein und geliebt werden, ist auf dieser Erde, wo nichts vollkommen ist, ein seltsam hohes Glück. Beständig neben sich eine geliebte Frau, eine Tochter, eine Schwester, irgend ein zartes, weibliches Wesen zu haben, das wir bedürfen und das uns nicht entbehren kann, stets den Grad ihrer Zuneigung an dem Quantum Zeit messen zu können, das sie uns widmet; in Ermangelung ihrer Gestalt, ihre Gedanken zu sehen; zu wissen, daß Eine uns treu bleibt, wo die ganze Welt uns im Stich läßt; ihr Kleid wie Engelflügel uns umrauschen zu hören; zu denken, daß man der Punkt ist, auf den sich alle ihre Thaten, Worte, Schritte beziehen; jeden Augenblick seine eigene Anziehungskraft zu äußern; sich um so mächtiger zu fühlen, je ohnmächtiger man ist; in dem Dunkel und wegen des Dunkels das Gestirn zu sein, um das der Engel gravitirt. Diesem Glück gleicht nicht leicht ein anderes. Das höchste Wonnegefühl gewährt die Ueberzeugung, daß man geliebt um seiner selbst willen, ja besser gesagt, trotz seines Selbst geliebt wird, und diese Ueberzeugung besitzt der Blinde. Jeder Dienst, den man ihm erweist, ist eine Liebkosung. Mangelt ihm irgend etwas? Nein. Der verliert nicht das Licht, der die Liebe hat. Sieht man nichts, so fühlt man doch, daß man angebetet wird, und lebt man in Finsterniß, so ist es eine Finsterniß, die ein Paradies erfüllt.

Aus diesem finstern Paradiese war der Bischof Bienvenu in das jenseitige hinübergegangen.

Gleich nachdem die Todesanzeige im Lokalblatt von Montreuil-sur-Mer erschienen war, legte Madeleine Trauerkleidung an.

Das gab wieder zu reden. Man munkelte, da er um den Bischof trauere, müsse er ein Verwandter von ihm sein und die vornehme Gesellschaft von Montreuil-sur-Mer betrachtete ihn alsbald mit größerem Wohlwollen und Respekt, die alten Damen grüßten ihn höflicher und die jungen lächelten ihm liebenswürdiger zu. Eines Abends endlich erkühnte sich eine alte Dame, die vornehmste in den vornehmen Kreisen der Stadt und die sich auch wegen ihres Alters etwas Neugierde gestatten durfte, zu der Frage: »Der Herr Bürgermeister sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne?«

»Nein, gnädige Frau!« erwiderte Madeleine.

»Sie trauern aber doch um ihn!« versetzte die Alte.

»In meiner Jugend bin ich Lakai in seiner Familie gewesen.«

Noch eins fiel an ihm als eine unerklärliche Absonderlichkeit auf. Jedes Mal, wenn ein kleiner Savoyarde nach Montreuil-sur-Mer kam, ließ ihn der Herr Bürgermeister zu sich bescheiden, fragte ihn nach seinem Namen und schenkte ihm Geld. Das erzählten sich die kleinen Savoyarden und es kamen eine ganze Menge nach Montreuil-sur-Mer.

V. Schwarze Punkte am Horizont

Im Laufe der Zeit nahmen alle Feindseligkeiten ein Ende. Vermöge einer Art Naturgesetz, dem alle Emporkömmlinge verfallen, waren Anfangs Niedertracht und Verleumdung über Madeleine hergefallen, dann schwächte sich der Haß zu Mißgunst und Spott ab, endlich verschwand er ganz und machte einer vollkommenen, einstimmigen, von Herzen kommenden Achtung Platz. 1821 kam eine Zeit, wo in und um Montreuil-sur-Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« mit nahezu derselben Betonung ausgesprochen wurden, wie um 1815 »Se. Bischöfliche Gnaden« in Digne. Meilenweit kamen die Leute herbei, Madeleine um Rath zu fragen. Er schlichtete Streitigkeiten, verhinderte Prozesse, versöhnte geschworene Feinde. Man hatte die Empfindung, daß er in seinem Innern einen Kodex des natürlichen Rechtes trage.

Ein einziger in der Stadt und der Umgegend entzog sich vollständig dem Einfluß der öffentlichen Meinung und blieb, was auch Madeleine thun mochte, ihm feindlich gesinnt, als wenn eine Art unbestechlicher Instinkt ihn wach und in Unruhe hielt. Scheint doch in der That manchen Menschen ein geradezu thierischer Naturtrieb inne zu wohnen, der Zuneigung und Widerwillen erzeugt, mit Notwendigkeit verschiedne Naturen von einander fern hält, nicht schwankt, sich nicht beirren läßt, nie schweigt und sich nicht widerspricht, der klar sieht in seiner Dunkelheit, unfehlbar, unwiderstehlich, der Vernunft und Logik abhold ist, und, in welchen Verhältnissen sie auch zu einander stehen mögen, ein Mitglied einer Menschengattung deutlich benachrichtigen, wenn es einem Menschen einer andern Gattung gegenüber steht, so wie ein Hund eine Katze, ein Fuchs den Löwen wittert.

Oft, wenn Madeleine ruhig, leutselig, von Allen mit Achtung begrüßt auf der Straße ging, geschah es, daß ein großer Mann mit einem eisengrauen Rocke, einem dicken Spazierstock und einem Hut mit herabhängender Krämpe sich rasch nach ihm umdrehte und ihm mit den Augen folgte, bis er verschwunden war, dann die Arme verschränkte und mit der Unterlippe die obere bis an die Nase emporschob, als wolle er sagen: »Wer in aller Welt mag das sein? Ich habe ihn doch schon früher einmal gesehen. Jedenfalls lasse ich mir von dem nichts vormachen.«

Dieser Mann mit seinem unheimlich ernsten Gesicht gehörte zu denen, die einem Beobachter, auch wenn er ihn nur einmal flüchtig gesehen hat, zu denken geben.

Er hieß Javert und war Polizist.

Er bekleidete in Montreuil-sur-Mer einen mühevollen, aber nützlichen Posten, den eines Polizeiinspektors. Er hatte den Anfängen von Madeleine's industrieller Karriere nicht beigewohnt. Seinen Posten verdankte er der Protektion Chabouillet's, Sekretär des Ministers Graf d'Anglès, der damals Polizeipräfekt in Paris war. Als Javert nach Montreuil-sur-Mer versetzt wurde, hatte sich Vater Madeleine schon zu dem großen Fabrikanten Herrn Madeleine emporgeschwungen.

Manche Polizisten haben einen besondern Gesichtsausdruck, der neben einer gebieterischen Miene auch etwas Gemeines enthält. Diese Art Physiognomie hatte auch Javert, abgesehen von der Gemeinheit.

Unseres Erachtens würde sich, wenn man den Menschen in's Innere schauen könnte, deutlich die sonderbare Wahrnehmung machen lassen, daß jedes Individuum der Gattung Mensch irgend einer Gattung von Thieren entspricht, daß von der Auster bis zum Adler hinauf, vom Schwein bis zum Tiger, alle Thiere im Menschen und jedes Thier in einem Menschen enthalten ist. Manchmal auch mehrere neben einander.

Die Thiere sind nichts, als Verkörperungen unsrer Tugenden und Laster, die vor unsern Augen umherschweifen, sichtbar gewordne Umrisse unsrer Seelen. Gott zeigt sie unsern Sinnen, um uns zum Nachdenken anzuregen. Desgleichen sind die Thiere, da sie nur Schatten sind, nicht erziehbar in der eigentlichsten Bedeutung dieses Wortes. Unsere Seelen aber, die Wirklichkeit und einen Endzweck haben, sind von Gott mit Verstand, d. h. mit Erziehbarkeit, begabt worden. Die Gesellschaft kann also, mittels der Erziehung, aus jeder beliebigen Menschenseele all den Nutzen ziehen, dessen sie von Natur fähig ist.

Wohl bemerkt, dies gilt nur von dem sichtbaren Erdenleben und entscheidet nicht die schwierige Frage, wie sich die Lebewesen, die nicht der Gattung Mensch angehören, vor und nachher verhalten. Das sichtbare Ich gestattet dem Denker keineswegs das verborgne Ich zu leugnen. Mit diesem Vorbehalt wollen wir weiter gehen.

Nimmt man nun mit uns an, daß jeder Mensch Theil hat an irgend einer Thiergattung, so wird es uns leicht sein, klar zu machen, was für ein Mensch Javert war.

Die asturischen Bauern sind der Meinung, unter der Brut einer Wölfin befinde sich immer ein Hund. Den töte die Wölfin, weil er sonst ihre andern Jungen auffressen würde.

Denkt man sich nun einen solchen von einer Wölfin gebornen Hund, mit einem Menschengesicht ausgestattet, so hat man Javert.

Javert war der Sohn einer Kartenlegerin, die ihn im Gefängniß gebar, während ihr Mann im Zuchthaus war. Als er erwachsen war, sagte er sich, er stehe außerhalb der menschlichen Gesellschaft und werde ewig von ihr ausgeschlossen bleiben. Ferner bemerkte er, daß die Gesellschaft konsequent zwei Klassen von Menschen sich fern hält, diejenigen, die sie angreifen, und diejenigen, die sie vertheidigen. Nur zwischen diesen beiden Klassen stand ihm die Wahl frei, und zudem war er sich strenger Grundsätze, entschiedner Ordnungsliebe und Rechtschaffenheit bewußt, und hegte einen grimmigen Haß gegen das Gesindel, dem er entstammte. Er wurde also Polizist, avancirte schnell und war im Alter von vierzig Jahren Inspektor.

In seiner Jugend war er in den Zuchthäusern im Süden angestellt gewesen.

Ehe wir fortfahren, wollen wir erklären, was wir mit dem Wort »Menschengesicht« in Bezug auf Javert meinten.

Javerts Menschengesicht enthielt eine Stumpfnase mit zwei tiefen Nüstern, zu denen ein gewaltiger Backenbart emporstieg. Wenn man zum ersten Mal diesen Bartwald und diese Nasenhöhlen sah, so ward Einem unheimlich zu Muthe. Wenn Javert lachte, was selten genug und schauderhaft anzusehen war, so gingen seine dünnen Lippen auseinander und legten nicht nur seine Zähne, sondern auch das Zahnfleisch blos, und es bildete sich dann um seine Nase eine grimmige Falte. Für gewöhnlich hatte er also den Typus einer Dogge, und wenn er lachte, den eines Tigers. Sein Schädel war klein, die Kinnbacken stark entwickelt, die Haare verdeckten die Stirn und reichten bis zu den Augenbrauen. Dazu zwischen den Brauen stetige, sternförmige Runzeln, undeutlich sichtbare Augen, ein fest zusammengekniffner Mund und eine grimmige Kommandomiene.

Den Charakter dieses Menschen bestimmten zwei sehr einfache und eigentlich sehr lobenswerte Gefühle, die er indessen übertrieb und beinah in ihr Gegenteil verkehrte: Achtung vor der Obrigkeit und Haß gegen jedwede Rebellion, und zwar waren in seinen Augen Diebstahl, Mord, überhaupt alle Verbrechen Rebellion, Auflehnung gegen die Obrigkeit. Alles, was irgend ein Amt im Staate bekleidete, war für ihn ein Gegenstand blinder Verehrung und felsenfesten Zutrauens. Dagegen kannte er nur Verachtung, Haß und Abscheu gegen Alles, was einmal die Schwelle der Legalität überschritten hatte. Ausnahmen von diesen Regeln ließ er nicht zu. Eines Theils sagte er: »Der Beamte kann sich nicht irren; der Richter hat nie Unrecht.« Andrerseits behauptete er: »Diese sind unrettbar dem Bösen verfallen. Nichts Gutes ist mehr von ihnen zu hoffen.« Er huldigte also der extremen Ansicht, das Gesetz besitze die Kraft, zu bewirken oder, wenn man lieber will, nachzuweisen, daß gewisse Menschen der Verdammniß verfallen seien; er war ein herber Stoiker, ein finsterer Träumer, ein zugleich demütiger und hochmütiger Fanatiker. Sein Blick glich einem Bohrer, so kalt und stechend war er. Den Inhalt seines Lebens bildeten zwei Worte: wachen und aufpassen. Was es auf der Welt Verschlungenstes giebt, wollte er gerade machen. Er besaß die innige Ueberzeugung, daß er dem Gemeinwohl nützte, Begeisterung für seinen Beruf und spionierte mit demselben gewissenhaften Eifer, der den Priester bei der Ausübung seines Amtes beseelt. Wehe dem, der ihm in die Hände fiel! Er hätte seinen Vater arretiert, wenn er ihn auf der Flucht aus dem Zuchthaus ertappt, und seine Mutter denunziert, wenn sie sich der polizeilichen Aufsicht hätte entziehen wollen. Und zwar mit jener inneren Befriedigung, die nur das Bewußtsein der erfüllten Pflicht gewährt. Dabei ein Leben voller Entbehrungen, kein geselliger Verkehr, Selbstverleugnung, Enthaltsamkeit, nie eine Zerstreuung. Er war die Fleisch gewordene, unerbittliche Pflicht und spartanische Rechtschaffenheit, ein mit einem Vidocq gepaarter Brutus.

Javerts ganze persönliche Erscheinung ließ einen Menschen ahnen, dessen Amt es ist, aufzulauern. Die Mystiker der Richtung Joseph de Maistre, die dazumal die ultraroyalistischen Zeitungen mit hoher Kosmogonie versorgte, würden Javert ein Symbol genannt haben. Man sah nicht seine Stirn, denn sie versteckte sich unter seinem Hut; nicht seine Augen, weil sie durch die Brauen beschattet waren; nicht sein Kinn, denn es verkroch sich hinter seinem Halstuch; nicht seine Hände, die sich in die Aermel zurückgezogen hatten; nicht seinen Stock, denn er trug ihn unter dem Rock verborgen. Kam aber die richtige Gelegenheit, so tauchte plötzlich aus all dem Schatten, wie aus einem Hinterhalt, eine eckige, schmale Stirn, ein unheimliches Augenpaar, ein grimmig energisches Kinn, ein Paar furchtbare Hände und ein fürchterlicher Knüttel.

In seinen seltenen Mußestunden las er, so wenig er ein Freund von Büchern war, und so kam es, daß er nicht ganz ungebildet war. Dies machte sich auch in seiner Sprechweise bemerklich.

Wie gesagt, er hatte kein Laster. War er einmal zufrieden mit sich, so gestattete er sich eine Prise Tabak. Dies war die einzige Schwäche, die er mit der übrigen Menschheit gemein hatte.

Demnach wird es begreiflich sein, daß Javert der Schrecken aller Vagabunden und sogenannten dunklen Existenzen war. Man konnte sie mit seinem Namen in die Flucht schlagen; tauchte sein Gesicht plötzlich vor ihnen auf, so waren sie wie versteinert.

So war der Mensch beschaffen, der beständig seine argwöhnischen Augen auf Madeleine gerichtet hielt. Dieser merkte es wohl, schien aber der Sache keine besondere Beachtung zu schenken. Er stellte Javert nicht zur Rede, suchte ihn nicht auf und ging ihm nicht aus dem Wege, ertrug den unangenehmen und lästigen Blick ohne Verdruß. Er sprach mit Javert wie mit jedem Andern, ungezwungen und freundlich.

Aus einigen Aeußerungen, die Javert entschlüpft waren, konnte man entnehmen, daß er, mit der halb instinktiven Neugierde der Leute seines Berufs, dem Vorleben Vater Madeleine's nachgeforscht hatte. Er schien zu wissen und sagte unter der Blume, Jemand habe an einem gewissen Ort, über eine gewisse, verschwundene Familie Erhebungen angestellt. Einmal passirte es ihm, daß er im Selbstgespräch laut sagte: »Jetzt, glaub' ich, weiß ich Bescheid.« Darauf blieb er drei Tage lang in tiefes Sinnen verloren und sprach kein Wort. Der Faden, den er schon in der Hand zu halten meinte, war wohl gerissen.

Uebrigens – wir korrigieren hiermit, was manche unserer Ausdrücke zu schroff ausdrücken können – hat ein menschliches Wesen keine Eigenschaft, die es wahrhaft unfehlbar machen könnte, und es liegt eben in der Natur des Instinkts, daß er sich irre machen und vom rechten Wege ablenken lassen kann. Sonst wäre er ja dem Verstände überlegen und das Thier wäre einer höheren Einsicht theilhaftig, als der Mensch.

Javert war offenbar durch Madeleine's vollständig unbefangenes und ruhiges Wesen etwas aus der Fassung gebracht.

Dennoch schien sein sonderbares Benehmen eines Tages auf Madeleine Eindruck zu machen. Nämlich bei folgender Gelegenheit.

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