Lebendige Seelsorge 4/2020

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Lebendige Seelsorge 4/2020
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INHALT Lebendige Seelsorge 4/2020

THEMA

Nacht-Erfahrungen

Theologie und Spiritualität einer Lebenswirklichkeit

Von Stephan Lüttich

Die Abwesenheit des Auferstandenen und der Körper des Verschwundenen

Spuren einer kenotischen Ostertheologie im Neuen Testament

Von Margareta Gruber OSF

„Nicht ohne“

Die Replik von Stephan Lüttich auf Margareta Gruber OSF

Gottsucher und Gottfinder im 21. Jahrhundert

Die Replik von Margareta Gruber OSF auf Stephan Lüttich

Praktische Theologie in einer religionslosen Welt?

Bonhoeffers Entwurf eines religionslosen Christentums als praktisch-theologischer Reflexionsmotor

Von Antonia Lüdtke

PROJEKT

Workout für die Seele

Von Eva Jung

INTERVIEW

„Lebendige Transzendenzerfahrung und geistliche Trockenheit: Diese Phänomene müssen wir neu beachten!“

Ein Gespräch mit Christoph Jacobs über den Zusammenhang von Spiritualität, Lebenszufriedenheit und Gesundheit bei Seelsorgenden

PRAXIS

Und die Moral von der Geschicht: Setz auf die Moralisierung nicht!

Von Ottmar Fuchs

Expliziter Gottesglaube in Deutschland

Empirische Zahlen und Trends

Von Gert Pickel

„Welch furchtbare Armut, ungeliebt zu sein“

Diakonie dank Gottesnacht bei Mutter Teresa von Kalkutta

Von Gotthard Fuchs

Die Nacht Gottes im Licht Gottes - und umgekehrt.

Spiritualität bei Chiara Lubich

Von Stefan Tobler

„Ein Weg zwischen zwei Abgründen“

Atheismus und Spiritualität bei Madeleine Delbrêl

Von Annette Schleinzer

FORUM

„Wir wollen’s wirklich wissen“

Qualitätsverbesserung durch Feedback Von Werner Otto und Claudius Wagemann

SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK

Licht am Horizont der Gottesnacht

Von Christiane Koch und Annett Giercke-Ungermann

Ohne Religion, aber nicht gottlos

Begegnungen in Leipzig Von Andreas Knapp

POPKULTURBEUTEL

Moral-O-Mat

Von Bernhard Spielberg

NACHLESE

Re: Lecture

Von Thomas Franz

Impressum


EDITORIAL Lebendige Seelsorge 4/2020


Matthias Sellmann Mitglied der Schriftleitung

Liebe Leserinnen und Leser,

Seelsorge lebt aus der Beziehung zu Gott. Sie eröffnet diese Beziehung, begleitet und inspiriert sie. Und sie ist zur Stelle, wenn es in der Beziehung kriselt. In der Gottesbeziehung liegt eine der wertvollsten Aufgaben und Ressourcen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern.

Es gehört darum zur Qualitätssicherung von Pastoral, über diese Gottesbeziehung zu reflektieren – und das nicht nur individuell und persönlich. Wie zeigt sich Gott in der aktuellen Gegenwart? Und sind die kirchlichen Routinen, in die Beziehung mit ihm zu führen, auf der Höhe dieses ‚Zeigens‘?

Das Themenheft ‚Gottesnacht‘ unterstützt Sie in dieser Vergewisserung. Es bietet Ihnen eine anspruchsvolle These an: Ja, es ändert sich etwas. Gott ist immer stärker abwesend. Er will neu gesucht und neu gefunden werden. Geistliche Trockenheit ist keine Ausnahme mehr (vgl. Interview).

Im Heft finden Sie empirische Belege und theologische Argumente. Eindrücklich ist die Präsentation von vier spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Sie sind Seismografen für einen Paradigmenwechsel geistlichen Lebens. Denn alle vier bauen ihre Mystik zentral auf der Erfahrung auf, dass Gott sich zurückzieht: Dietrich Bonhoeffer, Madeleine Delbrêl, Chiara Lubich und Mutter Teresa.

Ich wünsche Ihnen, dass die Lektüre für Sie zur Chance wird, sich in Ihrer Gottesbeziehung neu zu verorten. Wir wissen es aus vielen anderen Lebensbereichen: Wachstum braucht Nächte.

Was also zeigt sich, wenn Er sich verbirgt? Was soll wachsen, was wird vergehen?

Ihr


Prof. Dr. Matthias Sellmann

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Nacht-Erfahrungen

Theologie und Spiritualität einer Lebenswirklichkeit

Angst, Schwermut und Trostlosigkeit sind Teil jedes menschlichen Lebens. Weil Gott den ganzen Menschen in seiner leibseelischen Wirklichkeit ansprechen und erlösen will, müssen diese Nacht-Erfahrungen auch eine Bedeutung für den christlichen Glauben haben. Stephan Lüttich

Die Dunkelheit der Nacht versinnbildlicht die negativ geprägte, bedrückende und bedrängende Seite menschlicher Lebenswirklichkeit. Bei der spontanen Assoziation wird die Nacht zuerst als Finsternis, als Ort des Schreckens und der Bedrohung, als Wirkungsort von unheimlichen, vielleicht kriminellen Gestalten begriffen. Das ist aber nur ein Aspekt. Die Nacht ist auch die Zeit des stärkenden Schlafes und des Vergessens, die Zeit der schutzgebenden Dunkelheit, der Bergung vor den Feinden. In ihrer Stille bietet die Nacht den Raum für die Begegnung zwischen Menschen, sei es im intensiven Gespräch oder in der erotischen Vereinigung.

Auch die Religionsgeschichte weiß um die Nacht als ambivalentes Bild. In nahezu allen Religionen ist die Nacht einerseits Wirkungsbereich bedrohlicher Dämonen und Totengeister. So kennt etwa die altägyptische Religion die Vorstellung eines Kampfes, den der Sonnengott Re Nacht für Nacht mit den Chaosmächten der Finsternis zu bestehen hat. Und die bis heute geläufige Idee der mitternächtlichen Geisterstunde oder Johann Wolfgang von Goethes klassische Schilderung der Walpurgisnacht, in der sich Hexen und Zauberer vergnügen, beziehen sich auf uralte Motive der nordischen Mythologie.

Andererseits ist die Nacht aber auch eine privilegierte Zeit für das Gebet und die Offenbarung der Gottheit. So sind die spätantiken Mysterienkulte im hellen Licht des Tages schlicht nicht vorstellbar. Auch die jüdische Bibel erzählt gerade an wichtigen Schlüsselstellen von nächtlichen Begegnungen mit Gott, die sowohl das erschreckendübermächtige als auch das vertrauensvollbergende Moment in der Gotteserfahrung des Volkes Israel zum Ausdruck bringen. Der Islam kennt diese religiöse Dimension der Nacht ebenfalls. So widmet der Koran eine ganze Sure der sogenannten „Nacht der Bestimmung“, in der Muhammad zum ersten Mal die göttliche Offenbarung empfängt.

Diese Doppeldeutigkeit der nächtlichen Dunkelheit hat sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, in Literatur, Malerei und bildender Kunst vielfältige Ausdrucksformen geschaffen. Von den romantischen Nachtbildern Caspar David Friedrichs bis zu Edward Hoppers Ikonen moderner Nächtigkeit, vom Abschied der Liebenden in Shakespeares Romeo und Julia bis zu Arnold Schönbergs Quartett Verklärte Nacht, von den verstörenden Nacht-Gedichten Georg Trakls bis zu den erschütternden Bekenntnissen von Georges Bernanos Landpfarrer zieht sich die Beschäftigung mit der Nacht durch alle Epochen, durch alle Formen und Stilarten menschlichen Kunstschaffens.

 

Stephan Lüttich

geb. 1974, Dr. theol., nach Tätigkeit im Bistum Hildesheim jetzt Abteilungsleiter bei der Klosterkammer Hannover, einer staatlichen Stiftungsverwaltung.

DIE NACHT ALS ORT GOTTES

Der christliche Glaube dechiffriert das Dunkel der Nacht als Ort Gottes. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, dichtet Jochen Klepper 1937 vor dem Hintergrund äußerster existentieller Not in seinem bekannten Weihnachtslied: Angst, Trauer und Verzweiflung sind ein Raum, den Gott mit seiner Gegenwart erfüllen will. Und seine Gegenwart erhellt diese Nacht. Aber nicht wie ein greller Scheinwerfer, der alle dunklen Ecken und alle finsteren Winkel ausleuchtet. Das Dunkel der Welt und des Lebens bleibt dunkel, auch wenn es von Gott erlöst ist. Das Leiden wird nicht abgetan. Es kann und darf für Christenmenschen Erfahrungen geben, in denen alle Vorstellungen von Gott auf furchtbare Weise zerbrechen. Aber das Entscheidende ist: Da, wo die Geschichte der Glaubenden voller Hoffnungslosigkeit ist, wirkt Gott als einer, der durch Nacht in das aufgehende Licht führt.

Die Nacht als Raum des Übergangs und Ineinanders von negativ-angstvoller und positiv-beglückender Erfahrung ist ein locus theologicus. Das inhaltliche Zentrum und damit die Berechtigung, ja die Verpflichtung, auch die Nacht-Seite Gottes anzuschauen, sind von der Offenbarung vorgegeben. Weihnachten und Ostern, die Hauptfeste des Christentums, sind Nachtfeste: „Zusammen sind diese beiden Feste der Anfang unserer Erlösung, zusammen verheißen sie den Tag, auf den wir im Glauben warten. Weil sie beide den Anfang des Sieges eines ewigen Tages, zusammen den Sieg eines neuen Anfangs bedeuten, darum sind beide Feiern einer allerheiligsten Nacht“ (Rahner, 401). Schon im Weihnachtsgeheimnis spiegelt sich eine starke Spannung: Die Nacht der Not und Armut des Stalls ist gleichzeitig die Nacht des „Gloria in excelsis Deo“, das den Hirten auf dem Feld verkündet wird; die improvisierte Geburt des hilflosen Säuglings ist gleichzeitig die glorreiche Ankunft des erwarteten Friedenskönigs. Und diese Spannung findet sich aufs Äußerste gedehnt in der Pascha-Nacht Christi, die sich vom Abend von Getsemani bis zum Morgen der Auferstehung erstreckt. Die Polarität von Angst und Sieg, Verlassenheit und Erfüllung, Leiden und Herrlichkeit, Tod und Auferstehung wird von der Ambivalenz der Nacht-Metapher umfangen. Ein kantiges, sprachlich herausforderndes Zitat des zu Unrecht nur wenig rezipierten jesuitischen Theologen Erich Przywara fasst diese Polarität zusammen und macht gleichzeitig deutlich, dass es sich dabei um eine Grundstruktur des christlichen Glaubens überhaupt handelt: „Es ist […] die Osternacht. Die Nacht vom Karfreitag her: das Versunkensein in den Widersinn eines durch Seine Schöpfung getöteten Gottes. Die Nacht zum Ostermorgen hin: das Entrücktsein in den Über-Sinn einer durch die Tötung Gottes in Gott hinein erlösten Schöpfung. Es ist darum die ‚wache Nacht‘ […]. Wachheit negativ: als schärfstes Bewußtsein der aufgerissenen Abgründe. Wachheit positiv: als Nacht, die schon Tag ist. Es ist Nacht, in der das Abgründige des Geschöpfes […] und das Grundlose Gottes […] unergründlich eins sind. […] Die Nacht der ‚Gottverlassenheit‘ ist das entscheidende ‚Gott alles in allem‘“ (Przywara, 70f.).

NACHT-ERFAHRUNGEN

Negative menschliche Erfahrungen sind immer zweideutig. Sie können den gläubigen Menschen von Gott entfernen oder ihm helfen, jenseits aller vordergründigen Erwartungen an das Leben zu einer größeren menschlichen und religiösen Reife zu gelangen. Unbedingt festzuhalten ist, dass die Erfahrungen von Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Selbstzweifeln nicht per se ein Zeichen für eine Trennung von Gott sind. Es gilt sie zu deuten und zu gestalten. Dann können sie als wichtige Etappe eines geistlichen Weges verstanden werden.

Dabei ist wichtig, diese spirituellen Nacht-Erfahrungen vom Krankheitsbild der Depression abzugrenzen. Eine klinische Depression ist natürlich keine Frage mangelnder positiver Deutungsversuche des Betroffenen oder der fehlenden Gewissheit des christlichen Glaubens. Eine Depression muss von kompetenten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Ärztinnen und Ärzten behandelt werden.

Nacht-Erfahrungen im Sinne eines spirituellen Wachstumsprozesses sind etwas Anderes. Romano Guardini hat Ende der 1920er Jahre einen großen Essay über den „Sinn der Schwermut“ veröffentlicht. Für Guardini zeichnen sich Menschen, die unter Schwermut leiden, durch eine besondere Empfindsamkeit, ja Verwundbarkeit aus: „Diese Verwundbarkeit stammt […] aus einer durch innere Vielfältigkeit der Anlagen bedingten Sensibilität des Wesens. […] Diese Sensibilität macht den Menschen verwundbar durch die Erbarmungslosigkeit des Daseins […]; das Leiden überall; das Leiden der Wehrlosen und Schwachen, das Leiden der Tiere, der stummen Kreatur … Im letzten kann man es nicht ändern. Es ist unaufhebbar. […] Verwundend sind die Armseligkeiten des Daseins; daß es oft so häßlich ist, so platt“ (Guardini, 71f.). Auch Guardini weiß, dass menschliche Nacht-Erfahrungen zweideutig sind. Die Verwundbarkeit, die er beschreibt, schmerzt. Sie lässt die Schwermütigen leiden. Gleichzeitig erschließt sie ihnen aber eine besondere Tiefe des Lebens und des Daseins überhaupt. Diese Tiefe bleibt für all jene verborgen, die sich nur an der Oberfläche bewegen und Verzweiflung und Angst wegerklären wollen oder mit vordergründigen Ablenkungen zu verdrängen suchen.

So offenbart sich eine unerwartet positive Seite der Schwermut. Guardini ist davon überzeugt, dass der Mensch mit einer Neigung zur Schwermut „das Leid der Vergänglichkeit [erfährt]: Daß das Geliebte weggenommen wird. Daß der Nachbar des Schönen der Tod ist. […] Aber wie in äußerster Gegenwehr dazu ist da die Sehnsucht nach dem Ewigen, Unendlichen; nach dem Absoluten. […] Schwermut ist Ausdruck dafür, daß wir begrenzte Wesen sind, […] Wand an Wand mit Gott“ (Guardini, 85ff.).

MYSTIK DER DUNKLEN GEGENWART GOTTES

Für Guardini enthüllt sich in der Nacht-Erfahrung die menschliche Sehnsucht nach Vollkommenheit und Unendlichkeit. Und hier eröffnet sich eine überraschende Anschlussfähigkeit im Hinblick auf eine religiös indifferente oder sogar anti-religiös eingestellte Gesellschaft. In Situationen existentieller Not und Betroffenheit hilft es nicht, auf das Dasein eines „lieben Gottes“ hinzuweisen, der schließlich doch alles zum Guten wenden werde. Ein solches von keiner Erfahrung gedecktes Behaupten wird vielmehr eher dazu führen, dass Menschen, die es ohnehin schwer haben, einen Zugang zum Glauben an die Existenz Gottes zu finden, sich ganz vom Christentum abwenden.

Die Antwort der Mystik auf die Gottvergessenheit der Gegenwart ist nicht philosophisch-theologische Argumentation, sondern gelebtes Leben.

Angemessener wäre ein vorsichtiger Ansatz, der den Gedanken vom Dasein eines guten Gottes eher vorschlägt als behauptet und auch den Zweifeln Raum lässt. Dies ist der klassische Weg der christlichen Nacht-Mystik. Denn das Fehlen greifbarer Gotteserfahrung behindert die mystisch begabten Frauen und Männer nicht. Der Zweifel scheint geradezu zur Voraussetzung für die wirkliche Begegnung mit Gott zu werden.

Die Antwort der Mystik auf die Gottvergessenheit der Gegenwart ist nicht philosophischtheologische Argumentation, sondern gelebtes Leben. Nicht die Frage nach dem Ursprung des Leidens, sondern der Umgang mit konkreter körperlicher und seelischer Leiderfahrung steht im Fokus der Mystikerinnen und Mystiker. Es gelingt ihnen, ihr eigenes Leiden anzunehmen, indem sie das Negative und die Gottferne in ihre Beziehung zu Gott integrieren. Nicht das bloße Zustimmen zu einer dogmatischen Wahrheit, nicht die unhinterfragte Glaubensgewissheit, sondern das Ernst- und Annehmen der eigenen Begrenztheit, der eigenen Unsicherheit im Glauben und das Ringen um eine lebendige Beziehung zu Gott sind entscheidende Faktoren eines überzeugend und erfüllt gelebten Christentums.

Das ist ein Weg, der nicht intellektuell erklärt, sondern nur existentiell gegangen und solidarisch mitgegangen werden kann. Angesichts aktueller innergesellschaftlicher und globaler Krisen und Konflikte sind Christinnen und Christen herausgefordert, sich nicht in das Schneckenhaus innerkirchlicher Diskurse zurückzuziehen oder über die Entchristlichung der Gesellschaft zu lamentieren. Der Versuch, Gott vor dem Leid in der Welt zu rechtfertigen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aufgabe der Glaubenden ist vielmehr, solidarisch zu sein mit den Leidenden und die Begrenztheiten des eigenen Lebens anzunehmen und zu gestalten.

NÄCHTLICHE SPRACHFORM

Bei dieser geistlichen Gestaltung von Nacht-Erfahrungen kommt der Sensibilität für die sprachliche Form eine besondere Bedeutung zu. Die Uneindeutigkeit metaphorischer Sprache erweist sich hier als Stärke. Indem Sinnzusammenhänge eines Textes aufgebrochen werden, erschließt sich eine tiefere Wirklichkeitsebene. Die Ambivalenz der Nacht-Metapher ermöglicht es, die bedrohliche Seite der belastenden Erfahrung ernst zu nehmen und gleichzeitig die Möglichkeit einer positiven Deutung schon in der Beschreibung dieser Erfahrung anklingen und durchscheinen zu lassen.

Eine im Sinne der Nacht-Mystik geschulte theologische und pastorale Sprache zeichnet sich durch den Verzicht auf terminologische und methodische Engführungen und durch die Rückbesinnung auf elementare Inhalte und Strukturen der Offenbarung aus. Schöpferischer Umgang mit der biblischen und kirchlichen Überlieferung sowie der lebendige Austausch mit poetischen und anderen künstlerischen Ausdrucksformen bieten den Raum, sich zaghaft der dunklen Gegenwart Gottes zu vergewissern. Dabei zeigt die Frömmigkeitsgeschichte des Christentums, dass sprachliche Kraft keine Infragestellung der existentiellen Betroffenheit durch die individuellen Nacht-Erfahrungen bedeuten muss. Gerade die Verunsicherung und Verwirrung von Leben und Denken durch Angst und Schwermut, Enttäuschung und Leid, Trauer und Verlassenheit, Trost- und Hoffnungslosigkeit kann zum Fundament außergewöhnlicher sprachlich-gestalterischer Tiefe werden.

Die Erfahrung von Nacht-Erfahrungen sind kein Zeichen für die Abwesenheit Gottes. Im Gegenteil. „Gott will im Dunkel wohnen“ – es lohnt sich, die Nacht auszuhalten, um Gott in den Abgründen des eigenen Lebens zu entdecken und so die Fülle der Wirklichkeit auszuschöpfen, die sich nicht an der lichten Oberfläche finden lässt. Der Leipziger Dichtertheologe Christian Lehnert fasst die Dynamik dieses geistlichen Weges, der unserer Zeit in besonderer Weise aufgegeben zu sein scheint, so zusammen: „Die gläubige Existenz tritt heute in einem unvorhersehbaren, erst in der Bewegung erfahrenen Sinn ‚hinaus‘ in eine ‚dunkle Nacht‘. […] Der Gläubige muß hinaus, für sich und gefährdet, auf eine Begegnung zu, die völlig offen ist und unkalkulierbar in ihren Folgen. Auf den ‚Gott‘ zu und nicht einmal dieses Wort hilft mehr zu verstehen, was da ,draußen‘ wartet. […] Doch der Gläubige sagt: Draußen, in der ‚dunklen Nacht‘ liege das unverstandene Geheimnis der Liebe verborgen. Wie kommt er dazu? Weil er es glaubt“ (Lehnert, 91).

LITERATUR

Bäumer, Regina/Plattig, Michael (Hg.), „Dunkle Nacht“ und Depression. Geistliche und psychologische Krisen verstehen und unterscheiden, Ostfildern 2010.

Guardini, Romano, Vom Sinn der Schwermut, in: Ders., Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien 1923-1963 [Bd. 3: Gestalten], Mainz-Paderborn 31995, 59-93.

Lehnert, Christian, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 22017.

Lüttich, Stephan, Nacht-Erfahrung. Theologische Dimensionen einer Metapher, Würzburg 2004.

Przywara, Erich, Analogia entis. Metaphysik. (Schriften III: Ur-Struktur und All-Rhythmus), Einsiedeln 1962.

Rahner, Karl, Heilige Nacht, in: Geist und Leben 24 (1951), 401-403.

Schlögl, manuel, Mystik – Atheismus – Dunkle Nacht. Johannes vom Kreuz und Therese von Lisieux im Gespräch mit dem neuzeitlichen Atheismus, Regensburg 2013.

Die Abwesenheit des Auferstandenen und der Körper des Verschwundenen

Spuren einer kenotischen Ostertheologie im Neuen Testament

Kennt das Neue Testament die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, gar der Gottesnacht? Mit dem Schrei der Gottverlassenheit beendet Jesus nach dem ältesten Evangelisten sein Leben. Damit ist das Thema im Zentrum der christlichen Heilsbotschaft verankert. Bedeutet die Auferstehung des Gekreuzigten die Umkehr der sich entäußernden Bewegung Gottes, wie man es aus Phil 2,9-11 lesen könnte? Die Abwesenheit des Auferstandenen in den Osterzeugnissen weisen eine andere Spur: Das Neue Testament kennt eine kenotische Ostertheologie, eine Theologie des Sich-Entäußerns des Auferstandenen in die Welt. Margareta Gruber OSF

 

Die Auferstehung Jesu von den Toten ist wie ein Meteorit, der in die Geschichte gestürzt und einen Krater hinterlassen hat. Der Sog, den der Sturz ausgelöst hat, war so stark, dass viele am Anfang glaubten, alles werde im Nu hineingezogen und das Ende der Welt stünde unmittelbar bevor. Doch das geschah nicht. Was stattdessen geschah, war eine Erfahrung, die im Neuen Testament mit dem aramäischen Urwort „maranatha“ verbunden ist (1 Kor 16,2; Offb 22,20b sowie die urchristliche Schrift Didache 10,6). Dieser Ausdruck kann entweder als Gebetsruf um das Kommen des Herrn („unser Herr, komm!“) oder als Akklamation seines Gekommenseins („unser Herr ist gekommen!“) verstanden werden. Vielleicht lässt sich die Doppeldeutigkeit des aramäischen Gebetswortes deuten als Hinweis für die beiden Seiten der umstürzenden Erfahrung der „Auferstehung“ des Herrn: seine neue, unfassbare Präsenz in Abwesenheit, seine Gegenwart in der Weise des Sich-Entziehens.

AUFERSTEHUNG GESCHIEHT IM ENTSCHWINDEN

Es ist die Begegnung mit dem avantgardistischen Komponisten Mark Andre, dem ich eine neue Imagination der Osterereignisse verdanke (vgl. Gruber 2018). Der Auferstandene verschwindet vor den Augen der Maria Magdalena. So hat es Andre gesehen – bereits als Kind, wie er sagt – und so ist es für ihn. Erschreckt hat er mich angeschaut als ich ihm sagte, dass das im Johannesevangelium so nicht dasteht. „Habe ich mich geirrt?“ „Nein, du hast etwas gehört und entdeckt!“ Der Auferstandene kommt, aber es wird nicht erzählt, dass er wieder geht.

Margareta Gruber OSF

Dr. theol., Prof.in für Neues Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar; Franziskanerin von Sießen; Schwerpunkte: Johannesevangelium, Johannesoffenbarung, Hermeneutik, Biblische Spiritualität, Bibel im interreligiösen Dialog, Theologie des Ordenslebens.

Auferstehen geschieht im Entschwinden

Dennoch ist er „nicht mehr da“, also muss er „verschwunden“ sein. Dieses Verschwinden ist für Mark Andre das zentrale Thema seiner Musik: Entschwinden als eine besondere Art der Anwesenheit. „Wie wäre das Verschwinden Christi erklungen?“, fragt er. Ich frage mich, daran anknüpfend, was ist das für eine Präsenz, die sich gibt, indem sie sich entzieht – noli me tangere: halte mich nicht fest. Ich denke über diesen Zugang zur Auferstehung nach: nicht als Erscheinen, sondern als Entschwinden. Der Auferstandene ist nicht der, der erscheint, sondern der, der sich entzieht. Auferstehen geschieht im Entschwinden. Wie mag man sich das vorstellen? Der Lyriker Christian Lehnert beschreibt die Ostererfahrung des Paulus so: Paulus, der dem auferstandenen Christus begegnet, „schaut auf und starrt ins Dunkel – eben war da ein Licht, und es bleibt ein geglaubtes Licht. Verloschen. Für immer erstrahlt“ (Lehnert, 114). Bei Andre hieße das: „Eben war da eine Stimme: Warum weinst Du? Wen suchst Du? Und es bleibt eine geglaubte Stimme. Verhallt. Für immer erklungen.“ Mark Andre glaubt an die Hörbarkeit der Abwesenheit. Ganz konkret. Er will die „Erscheinungsweisen des Heiligen Geistes“, wie er sich ausdrückt, das Zarteste und Geistigste also, sogar empirisch aufnehmen, fast materialisieren, und dadurch hörbar machen. Das zu Hörende, die Gegenwart, entzieht sich dem Zugriff, aber sie gibt sich im Entschwindenlassen.

OSTERN: DER SCHOCK DES ZWEITEN VERLUSTES

Anknüpfend an diesen zeitgenössischen Künstler möchte ich meine eigene Imagination der biblischen Vorgänge skizzieren (vgl. Gruber 2019). Es ist ein imaginatives Gedankenexperiment, das in seiner zugespitzten Einseitigkeit jedoch etwas deutlich machen kann: Am Beginn der neutestamentlichen Überlieferung steht der krisenhafte Schock eines doppelten Verlustes. Denn Jesus wird zweimal verloren: auf Golgota und in dem Ereignis, das die Christen später Ostern nennen werden. Die verstörenden Elemente in den Begegnungen mit dem Auferstandenen, das Erschrecken, die Flucht, das Nicht-Erkennen und die Sprachlosigkeit spiegeln den Schock dieses zweiten Verlustes, der von allen, die Jesus von Nazaret gekannt hatten, erlitten werden musste. Was auf dem Schädelberg geschehen war, war schrecklich, aber vorstellbar: Der Verlust eines teuren Menschen, der grausame Tod eines Unschuldigen, der Zusammenbruch der Lebenspläne und Hoffnungen, die eigene Schuld im Versagen angesichts roher Gewalt. Was jedoch die Begegnung mit dem Auferstandenen einforderte, überstieg das Vorstellbare: Es bedeutete, den, den man zu kennen geglaubt hatte, erneut und noch radikaler verlieren zu müssen. Wer ist der, den man Rabbi und Freund nannte und jetzt als Kyrios und Gott (vgl. Joh 20,28) anrief? Die Auferstehung des Gekreuzigten ist eine tiefgreifende Erschütterung, die an die Wurzel des Glaubens und der Existenz der Jünger und Jüngerinnen rührte.

AUFERSTEHUNG ALS EINSTURZ DES WELTGEBÄUDES

Auferstehung ist mit Erschrecken verbunden, denn sie bedeutet die plötzliche Konfrontation mit der Macht Gottes, die in das Leben eingreift. Man versucht zu fliehen, weil der „Himmel einstürzt“, die Grundfesten des Weltbildes ins Wanken geraten. Nach Matthäus öffnen sich beim Tod Jesu die Gräber und „die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren, wurden auferweckt. Nach der Auferstehung Jesu verließen sie ihre Gräber, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen“ (Mt 27,52f.). Das liest sich wie ein Horrorszenario. Sind wir in einer Welt der Wiedergänger angekommen? Man darf sich von der Faszination der apokalyptischen Bilder nicht zu einer konkretistischen Imagination verleiten lassen und den so genannten Weltuntergang darin abgebildet sehen. Die apokalyptischen Passagen in den synoptischen Evangelien (vgl. Mk 13; Mt 24; Lk 21,5-36) müssen anders gelesen werden: Als Bearbeitung einer krisenhaften Erschütterung, die mit apokalyptischen Motiven versprachlicht und gedeutet wird. Apokalypse bedeutet: Gott bringt die alte Welt zum Einsturz und schafft eine neue. Der Sturz der Himmel steht jedoch nicht erst bevor, sondern ist bereits eingetreten mit der Auferstehung des Gekreuzigten von den Toten. Nicht auf ein zukünftiges Weltende schaut der verstörte Blick der Erzählgemeinschaft, sondern auf das Beben von Ostern, das ihre Welt zum Einsturz gebracht hat und das immer noch nachbebt. Die Erschütterung der Auferstehung spiegelt sich in den Aussagen über das Kommen des Menschensohnes, die die Unvorstellbarkeit und Bildlosigkeit des Geschehens mit apokalyptischen Sprachbildern füllen: „Aber in jenen Tagen, nach der großen Not, wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen“ (Mk 13,24-23). Die Auferstehung wird im Markustext nicht narrativ repräsentiert, sondern im Sprachmodus der vollmächtigen Ankündigung Jesus selbst in den Mund gelegt, als Ansage eines apokalyptischen Widerfahrnisses. Meine Frage ist, ob es nicht der Schock dieses Widerfahrnisses war, die Auferstehung des Gekreuzigten von den Toten, die die neutestamentliche Theologie des abwesend anwesenden Herrn hervorgebracht hat.

LEBEN IM TRANSIT

Die Briefe des Paulus zeigen, wie ein Mensch durch die Begegnung mit dem Auferstandenen in einen krisenhaften Dauerzustand gerät, in ein Leben an der Schwelle, im Dazwischen: Existenz im Transitbereich. Er kann nicht zurück ins Alte, doch das Neue ist ihm nicht verfügbar. Der Glaube erscheint als Drahtseilakt, als Gang über dem Abgrund zwischen Alptraum und höchster Virtuosität (vgl. Mk 6,45-52; Mt 14,22-33). Das Symbol für den Transit, das die Christen festhalten, ist das Untergetaucht-Werden, das Ertrinken oder Ersäufen des alten Menschen im Wasser der Taufe. Paulus beschreibt diese Transformation als tägliches Sterben und Auferstehen, als beständiges Leben im „Osterdurchgang“ (Roger Schutz): Er hält den Schatz seiner Christuserkenntnis „in irdenen Gefäßen“, indem „wir allezeit das Getötet-Werden Jesu an unserem Leib herumtragen, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Leib offenbar werde“ (2 Kor 4,10).

DIE KRISE DER ABWESENHEIT DES HERRN

„Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr“ (Lk 24,31). Der Auferstandene lässt sich nicht festhalten, er entzieht sich. Die Jünger „haben“ ihn nicht; die Auferstehung wird als real, aber als nicht verfügbar dargestellt. Zweifel und Unglaube, Furcht und Überforderung sind auch nach der Auferstehung nicht verschwunden (vgl. Lk 24,38f.). Selbst die Not des Glaubensverlustes, in apokalyptischer Sprache (vgl. Mk 8,38) als Glaubensabfall angesichts des „Gräuels“ (Mk 13,14) bedrängend vor Augen gestellt, war nach der Auferstehung keineswegs gebannt.

Die Auferstehung geschieht „im Entschwinden“. Ist sie deshalb ein flüchtiges Ereignis, das wie eine Seifenblase zerplatzt, wenn man es berühren will? Das Markusevangelium stellt sich dieser Frage mit besonderer Eindringlichkeit. Es endet wie ein modernes Theaterstück: offen, mitten in einer Krise. Das spiegelt, so die Markusforschung, die Krise, aus der heraus der Text des ältesten Evangeliums entstanden ist und auf die er eine Antwort geben will. Die Ursachen der Krise werden in unterschiedlichen Faktoren gesucht: im Trauma der Tempelzerstörung während des blutig niedergeschlagenen jüdischen Aufstands, im Traditionsabbruch durch das Sterben der Augenzeugen der Gründungsereignisse, in der Enttäuschung über die ausbleibenden Wiederkunft des Herrn oder in den Schwierigkeiten, die das Leben als Minderheit in den Städten des römischen Reiches mit sich brachte.

Die größte Krise bedeutete jedoch die Abwesenheit des Herrn. Wurde in der älteren Exegese die Anwesenheit des Auferstandenen als Grunddynamik im Neuen Testament betont, so spricht die gegenwärtige Exegese immer klarer von der Bewältigung der fundamentalen Abwesenheit des Herrn, die die urchristliche Theologie zu leisten hatte (vgl. Toit; Hübenthal). Der älteste Evangelist wird als besonders radikaler Theologe der Abwesenheit gesehen. Er ist es, der den Todesschrei Jesu als Schrei der Gottverlassenheit überliefert (vgl. Mk 15,34). Gottesnacht als grausame Realität. Seine Ostertheologie setzt diesem Schrei jedoch kein Happy End entgegen. Der Schock der Frauen am Grab wird nicht in einer Begegnung mit dem Auferstandenen aufgelöst – kein „er ist wieder da“ –, sondern durch das gesamte Evangelium hindurch gedeutet. Das folgt der Notwendigkeit, den Jesus, den man doppelt verloren hatte, sinnstiftend zu erinnern und erzählend zu vergegenwärtigen. Indem die Evangelien das Leben Jesu erzählen, umtasten sie das Geheimnis von Ostern. Die Evangelien geben dem Abwesenden einen literarischen Körper.

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