Buch lesen: «Lebendige Seelsorge 2/2021»
INHALT
THEMA
Den Text in der Vergangenheit belassen, seinen Sinn ins Heute holen
Über das Bibellesen heute Von Irmtraud Fischer
Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Warum zwei Schwestern einen Podcast namens
Unter Pfarrerstöchtern erfunden haben
Von Johanna Haberer
Die Texte vom Sockel holen für die, die nicht am Sockel stehen
Die Replik von Irmtraud Fischer auf
Johanna Haberer
Man kann die Bibel falsch verstehen – und manchmal will man es wohl auch
Die Replik von Johanna Haberer auf
Irmtraud Fischer
Die Bibel in jüdischer Tradition studieren
Ein einführender Überblick
Von Haim Weiss
PROJEKT
Sketch-Bibel
Wie Sketchnotes Zugänge zur Bibel ermöglichen
Von Helmut Jansen
INTERVIEW
„Es gibt diese Bandbreite in der Bibel. Ist das nicht unglaublich spannend?!“
Ein Gespräch mit Ansgar Wiedenhaus SJ
PRAXIS
„Das Studium des Heiligen Buches ist gleichsam die Seele der Theologie.“ (Dei Verbum 24)
Eine bibelhermeneutische Skizze
Von Tobias Nicklas
„Hoffentlich lesen sie nicht weiter.“
Biblische Texte und Gewalt – drei Verstehenshorizonte
Von Sigrid Eder
Die Bibel in heutiger Kunst
Von Johannes Rauchenberger
Biblische Erzählfiguren
Persönliche Identifikation und
Auseinandersetzung mit der Bibel
Von Gertrud Moser
Grundlage des Glaubens oder ein Buch mit sieben Siegeln?
Die Heilige Schrift im Spannungsfeld
zwischen Universität und Pastoral
Von Carmen Diller
Religiöse Autonomie, so viel wie möglich
Die St. Galler Corona-Bibel
Von Ann-Katrin Gässlein
SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK
Was für ein Gewimmel unter deinem Himmel
Die Bibel und die Tiere
Von Matthias Micheel und Simon Rüffin
FORUM
Notfallseelsorge als Ausdruck von gelebter Nächstenliebe
Von Niklas Peuckmann
POPKULTURBEUTEL
Gravel-Bikes
Von Stefan Weigand
NACHLESE
Re:Lecture
Von Norbert Mette
Buchbesprechungen
Impressum
Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.
EDITORIAL
Ute Leimgruber Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserinnen und Leser,
die Bibel ist ein besonderes Buch. Dies soll in diesem Heft anschaulich und greifbar werden. Ihre Texte stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander, sie erzählen, sie diskutieren. Eine ganze Erfahrungsgeschichte der Menschen mit Gott und untereinander hat sich in ihr niedergeschlagen. Menschen, die die Bibel lesen, werden auch heute Teil ihrer Erzählungen und machen sie zu einem gelebten Ort in ihren konkreten Zusammenhängen: in der Wissenschaft wie in der Kunst, als Podcast oder auf YouTube, in der katholischen und evangelischen wie auch in der jüdischen Rezeption.
Irmtraud Fischer und Johanna Haberer eröffnen das Heft mit einem ökumenischen Aufschlag zum Umgang mit biblischen Texten zwischen kirchlicher Inanspruchnahme und bibelwissenschaftlicher bzw. medialer Ermächtigung. Im dritten Themenartikel erläutert Haim Weiss, warum die Bibel nicht im Mittelpunkt der jüdischen Gelehrsamkeit steht. Im Anschluss werden außergewöhnliche Projekte des Bibellesens vorgestellt: die Sketch-Bibel, in die Helmut Jansen einen Einblick gibt; Filmclips, die Ansgar Wiedenhaus SJ seit der Zeit des Lockdowns entwickelt hat und im Interview erklärt; und die St. Galler Corona-Bibel, die Ann-Katrin Gässlein, eine der Mitinitiatorinnen, präsentiert. Was es bedeuten kann, machtsensibel und im Konzilssinn das „Studium des Heiligen Buches“ als „Seele der Theologie“ (DV 24) zu verstehen, bedenkt Tobias Nicklas. Wie aktuell dieser Anspruch ist, zeigt Sigrid Eder ausgehend von Gewalttexten des Alten Testaments auf. Gertrud Moser sieht in biblischen Erzählfiguren Möglichkeiten persönlicher Identifikation mit dem Wort der Heiligen Schrift und Carmen Diller reflektiert über die Bibel im Spannungsfeld zwischen Universität und Pastoral. Eine Horizonterweiterung weit über den religiösen Raum hinaus bietet Johannes Rauchenberger mit der Vorstellung zeitgenössischer Künstler*innen und ihrer kreativen Auseinandersetzung mit biblischen Motiven. Der Beitrag des Bonifatiuswerkes nimmt Sie im Rahmen des bibelpastoralen Projekts Tiere der Bibel sogar mit in den Zoo.
Liebe Leserin, lieber Leser, Bibel lesen ist vieldeutig, bisweilen anstrengend und unverzichtbar für all jene, die sich auf die Bibel berufen. Zwischen den Beiträgen wird klar, dass es ‚die richtige‘ Bibelrezeption nicht gibt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass die Lektüre des Themenheftes auch dazu führen möge, dass Sie anders, neu und häufiger die Bibel lesen.
Ihre
Prof.in Dr. Ute Leimgruber
THEMA
Den Text in der Vergangenheit belassen, seinen Sinn ins Heute holen
Über das Bibellesen heute
Ist die Bibel ein Buch von gestern, das gerade noch historischen Wert hat, falls man auf Geschichte überhaupt noch Wert legt und nicht gleich für Neues und Heutiges plädiert? Oder ist sie wortwörtlich als unveränderliches Gotteswort mit ewig gültiger Wahrheit zu verstehen? Zwischen diesen Extremen, die sich beide in den Kirchen finden lassen, tut sich sowohl die historisch-kritische als auch die literaturwissenschaftliche Exegese schwer, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse in die Theologie einzubringen und dem Gottesvolk zu vermitteln. Irmtraud Fischer
Da das Christentum – wie das Judentum und der Islam – eine Buch- und Offenbarungsreligion ist, bewirkt die Vernachlässigung der Bibel in der katholischen Kirche ein Verdorren der Wurzeln.
Dabei hatte es, nach der verweigerten Aufklärung und der Verwerfung der historisch-kritischen Forschung an der Bibel seit Ende des 17. Jahrhunderts, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eigentlich gut angefangen: Die Bibel wurde als Gotteswort in Menschenwort in ihrem Kontext verankert. Dadurch wurde klar, dass viel Zeitbedingtes in den Texten zu lesen ist (vgl. Dei Verbum 11f.). Zudem sollte der „Tisch des Wortes“ in der Liturgie reichlicher gedeckt werden (vgl. Sacrosanctum Concilium 51), was zu einer Besinnung auf den christlichen Grundtext und dessen intensiverem Studium führen sollte. Die Jahrzehnte nach dem Konzil waren auch von einem großen Aufbruch in der katholischen Bibelwissenschaft, die in Relation zu jener in den Kirchen der Reformation viel Aufholbedarf hatte, geprägt. Aber dieser Elan scheint heute in der Kirche weitgehend versiegt zu sein. Kirchliche Dokumente, seien es Bischofsworte oder päpstliche Verlautbarungen, sind häufig immer noch von einer Steinbruchexegese geprägt, die die Bibel nur zur Untermauerung eigener Meinungen heranzieht, sie aber nicht wirklich zu Wort kommen lässt. Ist dieses innerkirchlich festzustellende Desinteresse an der Schrift ein allgemeines Phänomen?
VIEL ZEITBEDINGTES: DIE BIBEL ALS HISTORISCHES BUCH
Wer heute die Bibel liest, muss bereit sein, in eine ferne Welt einzutauchen: Es ist das Ambiente des Vorderen Orients und des Zeitraums von etwa einem Jahrtausend, von ca. 850 v. Chr. bis ca. 150 n. Chr., in dem die Texte entstanden sind. Sie spiegeln eine Kultur wider, die ein anderes Rechtsverständnis hatte, in der Theologie vorrangig durch das Erzählen von Geschichten betrieben wurde, deren Metaphern von der Ikonographie des Alten Orients inspiriert waren. Die biblischen Texte sind in einem hierarchischen Gesellschaftssystem entstanden, in dem es versklavte Menschen ohne Personenrechte gab, ältere Männer das Sagen hatten und in manchen Epochen ausländische oder religiös Fremde bloß geduldet oder auch direkt diskriminiert wurden.
Irmtraud Fischer
Dr. theol. habil., Dr. phil. h. c., seit 2004 Prof.in für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Graz; 1997–2004 Prof.in für Altes Testament und Theologische Frauenforschung an der Universität Bonn; Gastprofessuren in Marburg, Bamberg, Wien, Jerusalem und Rom.
Die Bibel ist also in ihrer kulturellen Fremdheit als historisches Buch zu lesen. Sie ist zudem keine Autor*innenliteratur, sondern in einem langen Zeitraum mit mehreren Epochenbrüchen (Königszeit, neuassyrische Epoche, Exil, Perserzeit, Hellenismus, Römerzeit) sukzessive durch die Arbeit von hunderten Generationen entstanden und dokumentiert daher teils zu ein und demselben Sachverhalt durchaus divergente Ansichten (vgl. Schmid). Um diese verstehen zu können, braucht es historische Forschung, die rechts- und literaturvergleichend die Bibel in der Kultur des Vorderen Orients und der Antike verankert.
AKTUELL WIE EH UND JE: DIE BIBEL ALS KANONISCHES BUCH
Die Bibel ist aber nicht nur ein historisches Buch, sondern auch ein kanonisches. Das bedeutet einerseits, dass man von ihrem Text nichts weglassen und auch nichts hinzufügen darf (vgl. Dtn 4,2; 13,1), sie also als Ganze, Altes wie Neues Testament, „heilig und kanonisch“ (DV 11) ist, andererseits aber ihre Bedeutung von jeder Generation neu aktualisiert werden muss. Deswegen kommt der Abschluss des Kanons der Geburt des Kommentars und damit der Schriftgelehrsamkeit gleich. Dabei ist zu beachten, dass die christliche Bibel einen Kanon darstellt, der bereits einen Kanon rezipiert. Das Christentum hat also große Teile aus der Heiligen Schrift seiner Mutterreligion, dem Judentum, übernommen. Insofern ist die Bibel – wie auch manche späten Texte des Alten Testaments – Offenbarungs- und Kommentarliteratur zugleich und legitimiert damit in sich selbst den aktualisierenden Auslegungsprozess in neuen Zeiten und geänderten sozialen Verhältnissen. Wer solche Texte fundamentalistisch auslegt und ihnen einen einzigen, für alle Zeiten ewiggültigen Sinn zuschreiben möchte, stellt damit ihre Kanonizität in Frage und nimmt der Bibel ihre Würde als Heilige Schrift.
STEINBRUCHEXEGESE: EINE TECHNIK VORNEHMLICH BEI GENDER-RELEVANTEN FRAGEN
Obwohl die offizielle Lehre der Kirche einen ‚Kanon im Kanon‘ immer abgelehnt hat und sogar Texte in der christlichen Bibel belassen wurden, die von neutestamentlichen Texten als nicht bindend deklariert wurden (z. B. Beschneidung, Kaschrut), ist das Phänomen in der Praxis alltägliche Realität. Es gibt Texte, die wichtiger erachtet werden als andere. Welche dies sind, ist allerdings teils zeitbedingt, teils abhängig von den Gruppen, die die Bibel lesen und für ihren Kontext auslegen. So wurden etwa zu Beginn des Ersten Weltkriegs die kriegerischen Texte wertgeschätzt und für die eigenen Truppen aktualisiert, gegen Ende jedoch wurden von allen Konfessionen und beteiligten Religionen die großen Friedensvisionen hervorgehoben.
Bis heute findet man eine solche Steinbruchexegese, die vorrangig jene Stücke herausnimmt, die ins Konzept passen, vor allem bei Genderthematiken. So wird behauptet, die Bibel liefere ein eindeutiges Zeugnis bei der Ablehnung von Homosexualität. Da das Altertum kein Konzept der sexuellen Orientierung kannte, muss man bedenken, dass von unterschiedlichen Dingen gesprochen wird, wenn man sich auf die Untersagung beruft, sich nicht zu einem Mann zu legen, wie man sich zu einer Frau legt (vgl. Lev 18,22; 20,13). Davon abgesehen findet sich die Vorschrift ausschließlich im Kontext des Heiligkeitsgesetzes. Alle anderen Rechtssammlungen, wie etwa das Bundesbuch oder das deuteronomische Gemeindegesetz, schweigen zu diesem Sachverhalt, wenngleich sie viele ähnliche Sexualrichtlinien wie Lev 18–20 thematisieren. Zudem werden bei der Behauptung eines einheitlichen negativen Zeugnisses der Bibel zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen die erzählenden Texte, die von lebenslanger gleichgeschlechtlicher Liebe zeugen (vgl. 1 Sam 18,3; 19,1; 20,3.17; 2 Sam 1,26; Rut 1,16f.; 4,15), völlig ignoriert.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei der Diskussion um Ämter von Frauen aufzeigen: Während man unkritisch, die Entwicklung der Ämter negierend, die Bischöfe auf die Apostel zurückführt, übersieht man geflissentlich, dass Junia als unter den Apostel*innen sogar herausragend beschrieben wird (vgl. Röm 16,7). Wenn in der unmittelbaren Nachfolge des Mose, des Propheten par excellence, die Prophetin Debora steht, so tritt diese Frau nach dem Ämtergesetz (vgl. Dtn 18,9–22) ins höchste der Ämter ein (vgl. Fischer 2002). Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet solche Texte beim Rosinenpicken nie aufgenommen werden, denn sie widersprechen den Meinungen oberster kirchlicher Hierarchen.
KANN MAN DIE BIBEL AUCH FALSCH VERSTEHEN?
Die Frage, wann die Bibel richtig oder falsch verstanden wird, lässt sich nicht generell, sondern nur innerhalb derselben Auslegungstradition beantworten. Innerhalb der historischkritischen Forschungstradition ist es klar, dass alles, was nicht aus dem Text in der Original-sprache zu belegen oder zu argumentieren ist, als Fehlrezeption bezeichnet werden muss. Von diesem Standpunkt her muss etwa die paulinische Exegese der Schöpfungsgeschichte von Gen 1–3 als Fehlrezeption bewertet werden, denn 1 Kor 11 vermischt die sehr unterschiedlichen Aussagen der Schöpfungstexte von Gen 1 und Gen 2 frischfröhlich. Aber wer – wie die längste Zeit in der Exegesegeschichte üblich – die Bibel typologisch oder allegorisch auslegt, für den zählt die Texttreue nicht, vielmehr ist Kreativität dabei angesagt.
Die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass die Breite der biblischen Auslegung mit der Devise ‚anything goes‘ zu beschreiben ist, da sich von haarsträubenden Deutungen bis hin zu schöpferischen Auslegungen in strikter Texttreue alles finden lässt. Freilich gibt es in unterschiedlichen Kontexten Auslegungstraditionen, die sich durchgesetzt haben, aber das müssen noch lange nicht die im historisch-kritischen Paradigma besten oder gar ‚richtigen‘ sein. Wer bestimmt, was richtig ist, ist immer auch eine Machtfrage. Nicht nur bei den biblischen Texten ist zu fragen, wessen Sichtweise sie widerspiegeln, sondern ebenso für alle Bibellektüren. Die Deutungen von Versklavten oder Armen, Frauen und Fremden sind in den meisten Kulturen gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Wenn sie im Volk Anklang fanden, hat man sie häufig verketzert, aber auch gezielt vergessen gemacht und folglich nicht überliefert. Das Großforschungsprojekt Die Bibel und die Frauen (www.bibleandwomen.org) weist solche Mechanismen für alle Epochen nach. Es ist also beileibe nicht so, dass Frauen erst heute begonnen hätten, die Bibel mit der Option für Frauen zu lesen, sondern vielmehr zeigt sich, dass die Tradition, die so häufig als geschlossen behauptet wird, eine Männerquote von annähernd 100 Prozent aufweist und damit nur die biblischen Auslegungen einer relativ kleinen Gruppe des Gottesvolkes enthält. Es sind fast ausschließlich die Deutungen von gebildeten, meist weißen, männlichen kirchlichen Amtsträgern. Obwohl es seit einem halben Jahrhundert gediegene wissenschaftliche Exegese von Frauen und feministische Auslegungen gibt, werden diese auch heute nur auf schmaler Basis rezipiert. Wenn etwa Papst Franziskus eine „neue Theologie der Frau“ fordert, heißt dies entweder, dass in dem inzwischen Bibliotheken füllenden Œuvre von Theologinnen für ihn nicht das Richtige zu finden ist oder, dass er sie bislang gar nicht zur Kenntnis genommen hat.
DIE KÜNSTE ALS BIBELINTERPRETINNEN
Als ich eines Tages ein Programm von Burg Rothenfels in die Hand bekam und dort eine Reise nach Spanien mit theologischem, kultur- und kunsthistorischem Vorbereitungsangebot sah, habe ich den Veranstaltenden umgehend schriftlich gratuliert: Ein Feld der Bibelauslegung, das noch weitgehend brachliegt und die Kirchen trotz ihrer immensen Schätze noch immer kaum nutzen, ist der (in Corona-Zeiten zwar weniger) florierende Kulturtourismus. Oft kommt man in kunsthistorisch interessante Kirchen und sieht dort Kirchenführer aufliegen, die nur über die Maße, die Baugeschichte und die Künstler*innen informieren, die den liturgischen Raum ausgestaltet haben. Kein Wort der theologischen Erklärung, kein Verweis auf die Bibel – ein weitgehend ungenützter Raum der Verkündigung, in den wesentlich mehr Leute interessiert eintreten als zum Gottesdienst kommen. Aber auch Museen bieten ein überaus breites Spektrum der Bibelrezeption in unterschiedlichen Künsten, sei dies in der Malerei, der Plastik, der Textilkunst der Gobelins oder den angewandten Künsten. Theater bringen bis heute Stücke auf die Bühne, die intertextuell biblische Texte und Motive einspielen, Oratorien und seltener Opern aktualisieren biblische Figuren auf ihre Weise. In kaum einem Programmheft findet sich jedoch eine theologische Würdigung der Werke.
Nun sind freilich Sujets und deren Ausgestaltung nicht nur von Kunstschaffenden, sondern auch von jenen bestimmt, die ihnen die Aufträge erteilen. Dennoch ist mit Erstaunen immer wieder festzustellen, wie geschlechterfair etwa die Malerei biblische Erzählungen in Szene setzt. Nicht nur, dass die Frauenseite und die Männerseite in den Kirchen mit der dem Geschlecht entsprechenden Ikonographie gestaltet wurde, sondern auch die Einfügung weiblicher Figuren, wo etwa die Bibel ausschließlich männliche Protagonisten auftreten lässt, überrascht in vielen Werken. Kunst bildet eben nicht ab, sondern setzt sich mit den Texten und Themen auseinander und bringt sie in die jeweilige Zeit und Gesellschaft – und die bestand und besteht niemals nur aus Männern oder gar Klerikern …
BIBELLESEN MUSS MIT DEM EIGENEN LEBEN ZU TUN HABEN
Die beste wissenschaftliche Exegese und die Deutung des berühmtesten Kunstwerks wird Menschen ungerührt lassen, wenn sie sie nicht mit dem eigenen Leben in Verbindung bringen können. Die praktischen Theologien haben in den letzten Jahrzehnten daher auch Methoden entwickelt, die speziell darauf abzielen, biblische Texte ganz individuell zu lesen. So ist etwa dem Bibliodrama die Aneignung durch die Konfrontation mit der eigenen Erfahrung und dramatische Umsetzung unter Einsatz des Körpers ein zentrales Anliegen. Ziel ist die möglichst individuelle Applikation biblischer Aussagen auf das je eigene Leben. Die sich daraus entwickelnden überaus diversen Bibelrezeptionen entziehen sich freilich jeglicher Beurteilung in Bezug auf richtig oder falsch. So sehr zu begrüßen dies für die individuelle Aneignung ist, so problematisch kann es werden, wenn ein solches Konzept in der Predigt über die Bibel angewendet wird. In religiös wenig gebildeten Gruppen kann dies unverantwortlich sein, in wachen Gemeinden wird man berechtigt Stirnrunzeln und Unverständnis finden, denn höchst persönliche Erfahrung ist nicht einfach generalisierbar. Von theologisch Gebildeten kann man erwarten, dass sie historisch und literaturwissenschaftlich geschult an die biblischen Schriften herangehen, sich um mehrere aus dem Text begründete Deutungsmöglichkeiten mühen und das Kirchenvolk dazu anregen, sich mit unterschiedlichen Auslegungen auseinanderzusetzen. Auch wenn Bibellektüre ein überaus spontanes und individuelles Geschehen sein kann, muss die Anleitung zum Lesen der Heiligen Schrift von Verantwortung für den Text getragen sein und zudem die Situation der Lesenden ernst nehmen. Das bedeutet für uns hier und heute, dass die Texte in Geschlechterdemokratien europäischen Zuschnitts inkulturiert werden müssen. Wer davon abrät oder sogar Angst davor hat, dem steht nur eine Alternative zur Verfügung: der Bibel ihre Dignität als kanonischer Text abzusprechen.
LITERATUR
Die Bibel und die Frauen. Internationales Forschungsprojekt: https://www.bibleandwomen.org/DE.
Exum, J. Cheryl, Art as Biblical Commentary, London 2019.
Fischer, Irmtraud, Texttreue – Traditionstreue – Treue zu heutigen Menschen. Zu einem reflektierten Umgang mit kanonischen Texten in westlichen Geschlechterdemokratien, in: Eckholt, Margit u. a. (Hg.), Religiöse Differenzen gestalten, Freiburg i. Br. 2020, 61–76.
Fischer, Irmtraud, Gotteskünderinnen. Zu einer geschlechterfairen Deutung des Phänomens der Prophetie und der Prophetinnen in der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2002.
Schmid, Konrad, Die Schrift als Text und Kommentar verstehen, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 31 (2016), 47–63.
[Link zuletzt eingesehen am 24.02.2021]