Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #19
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Die Essayistik in Lateinamerika der ersten Hälfte des 20. Jh. steht unter dem Zeichen der großen Panoramen der Geschichtsdeutung. Wie Claudio Maíz hervorhebt, bestärkten nicht zuletzt die beiden Weltkriege trotz des Bewusstseins der Randständigkeit ein wachsendes Selbstbewusstsein: „Lateinamerika kehrt auf die Weltbühne zurück als Kontinent des Friedens, des gelobten Landes und als Zuflucht vor so vielen Übeln der Menschheit.“160 Viele der historischen Romane dieser Zeit, so Maíz, gründeten auf einer affirmativen Neubewertung der Geschichte durch bedeutende Autoren wie Pedro Enríquez Ureña, Arturo Uslar Pietri, Mariano Picón-Salas und Alfonso Reyes. Anliegen dieser Generation sei nicht nur das Zeichnen lateinamerikanischer Identität, sondern auch die Förderung des Bewusstseins einer kulturellen Kontinuität mit der Iberischen Halbinsel sowie der Einbindung in die abendländische Zivilisation.161 Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. sehen sich die homogenisierenden Tendenzen in der Interpretation lateinamerikanischer und nationaler Identität zunehmender Kritik ausgesetzt. Begriffe von ,Stabilität‘, ,Ordnung‘ und ,Tradition‘ werden fraglich. Maíz spricht von einer Periode der „Revision, Delegitimierung und sogar Anfechtung der existierenden Versionen von Geschichte“.162 Octavio Paz steht nach Ansicht von Maíz nun paradigmatisch für diesen Wechsel. Mit El laberinto de la soledad (1950) erhält der Mythos seinen Platz in der historischen Deutung. Er wirkt doppelgesichtig, ist einerseits identitätsformende Kraft, verhindert und zergliedert gleichzeitig aber auch manifeste positive Identität durch seine Mehrdeutigkeit.163 Die Entdeckung der Präsenz des Mythos als das Okkulte in der Geschichte führt vor Augen, dass es kein einfach zugängliches und in sich geschlossenes Symbol von Identität geben kann. War bei Rodó noch ein Ariel als polemische Kampfmetapher der Serenität des lateinamerikanischen Geistes gegen den utilitaristischen amerikanischen Norden emporgestiegen, so erscheinen nun in sich hochproblematische und ambivalente Symbole wie die Figur der Malinche bei Octavio Paz.

Borges hatte bereits das Feld einer Sensibilität für das Ambige und das Chimärische metaphysischer Konstruktionen eröffnet, indem er sie in etwas Apokryphes und oft genug Schauerliches kippen oder umschlagen lässt. Noch mehr als in einer ,Literarisierung‘ liegt die Bedeutung der Borges’schen ,écriture‘ für die Veränderungen in der lateinamerikanischen Essayistik wohl in diesem Impuls begründet: Er unterwirft das Subjekt Kräften, die sich als unkontrollierbar erweisen und seine Sinnkonstruktionen gleichsam von innen her aushöhlen. Aus diesem Grund ergeben sich von Borges aus immer wieder Verbindungslinien zu Poststrukturalismus und Dekonstruktion – aber ebenso zum Unbewussten der Psychoanalyse und zum Phantastischen. Der essayistische Diskurs, so lässt sich vielleicht allgemein feststellen, gewinnt gegen Mitte des 20. Jh. etwas Abgründigeres, das in der mexikanischen Essayistik zudem mit einem gesteigerten Interesse an innerpsychischen Erklärungsmodellen der nationalen Identität zusammenfällt.164

Der nationale bis pan-amerikanische Identitätsdiskurs ist eines der wichtigsten Beschäftigungsfelder expositorischer Texte in Lateinamerika. Auch in Mexiko ist der ‚Identitätsessay‛ enorm wichtig und stellt einen ganz eigenen Zweig der Ideenliteratur dar. Eine wertvolle Studie über das Thema hat Wolfgang Matzat mit seinem Buch Lateinamerikanische Identitätsentwürfe geliefert.165 Matzat macht dabei auf die Schwierigkeit aufmerksam, die eigene Identität mit Hilfe fremder, meist aus Europa importierter Diskurse zu formulieren, die darüber hinaus die Überlegenheit des Zentrums über die Peripherie beanspruchen. Auf diese Weise finde die Argumentation durch ein Umschreiben fremder Diskurse, „rhetorische Manipulationen“, „dekonstruktive Verkehrung und Umhierarchisierung von Oppositionsrelationen“ statt.166 Für Mexiko stelle sich insbesondere die Problematik der doppelten Abgrenzung, von Europa, wie von den USA. In verschiedenen Etappen oder Phasen arbeiten sich die Autoren dabei an einem jeweils gültigen Paradigma ab: zunächst mit dem sozialdarwinistisch positivistischen des 19. Jh. Herausragender Vertreter einer Umdeutung und Kritik dieses Diskurses wäre José Vasconcelos mit La raza cósmica von 1925. Gegen Ende des Regimes von Porfírio Díaz kommt es mit dem Vitalismus zum Paradigmenwechsel, dem sich besonders die wissenschaftliche Gesellschaft des ‚Ateneo de la Juventud Mexicana‛ um Alfonso Reyes, Pedro Enríquez Ureña und Antonio Caso widmet. In einer weiteren Phase setzt nach Matzat eine Auseinandersetzung mit dem historischen Perspektivismus Ortega y Gassets und der Tiefenpsychologie Alfred Adlers ein. Zu nennen sei in diesem Kontext besonders Samuel Ramos und El perfil del hombre y la cultura en México von 1934, von dem sich Octavio Paz beeinflusst zeigt: Ramos schließt von manifesten kulturellen Symptomen auf verborgene Ursachen, führt den Topos des Schein- oder Maskenhaften in die mexikanische Identitätsdebatte ein, sowie den der Selbstentfremdung und des mexikanischen Minderwertigkeitskomplexes. Bei der Konstruktion eines Volkscharakters greift er auf die Unterschichten-Figur des ‚pelado‛ als ein „autre intérieur“167 zurück; Octavio Paz wird es ihm später mit der Figur des ‚pachuco‛ gleichtun.168

Ab Mitte des 20. Jh. etwa beschäftigen sich die Autoren mit dem Existenzialismus und mit Heidegger, dessen Rezeption in Mexiko vor allem über den Exilspanier José Gaos, seine Schüler Leopoldo Zea und Emilio Uranga, und die philosophische Vereinigung ‚Hiperión‛ einsickert. Diese Phase, so Matzat, ist von einer Internalisierung geprägt, in welcher die Andersartigkeit des mexikanischen Wesens zunehmend eine Deutung hinsichtlich eines „innerpsychisch Anderen“169 erfährt.

Freilich lässt sich Octavio Paz nicht vollkommen außerhalb der Tradition der mexikanischen Identitätstraktate denken. Dennoch hebt er sich deutlich von ihr ab. Hatten sich seine Vorgänger vornehmlich am Paradigma ihrer jeweiligen Epoche orientiert, oder dieses kritisiert, so kommt es bei Paz zu einer Hybridisierung der Diskurses; zu einem Eklektizismus sich teils sogar widersprechender Argumentationsformen.170 Für den laberinto de la soledad greift er zwar einige Ansätze von Samuel Ramos auf, rückt aber zunehmend davon ab. Etwa 25 Jahre nach Erscheinen des laberinto kritisiert er Ramos‛ totale Abhängigkeit der Argumentation von den Modellen Alfred Adlers ausdrücklich.171 Neben der Abgrenzung gegen eindimensionale Argumentation und der Verwendung essayistisch-pluraler Verfahren, unterscheidet sich Paz berühmtester Beitrag zur mexikanischen Identitätsdebatte durch seinen universalistischen Zugang. In einem Brief an Alfonso Reyes vom 23. November 1949 macht Paz klar, dass es ihm beim laberinto nicht um eine Darstellung exklusiv mexikanischer Identität geht. Er folgt einem weitaus kosmopolitischerem Ansatz:

Eine in seine Partikularismen verliebte Intelligenz […] beginnt, keine mehr zu sein. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: ich fürchte, für einige besteht das Mexikaner-Sein in etwas so Exklusivem, dass es uns die Möglichkeit verweigert, einfach nur Menschen zu sein. Und ich erinnere daran, dass Franzose, Spanier oder Chinese zu sein nur eine geschichtliche Art und Weise ist, über das Französische, Spanische oder Chinesische hinauszugehen.172

Wenn Paz also in Los hijos de La Malinche, das mexikanische Wesen unter dem Vorzeichen einer ‚extrañeza‘ betrachtet – einem tief empfundenen Befremden, das ein Gefühl des Hermetismus und einer fehlenden Lesbarkeit erweckt – so lässt sich dies in einem universell existenzialistischen Kontext interpretieren. So wirken gewiss nicht nur die Mexikaner „herméticos e indescifrables“.173 Auch Sprache selbst steht bei Paz zunehmend unter Vorbehalt: In unserer Sprache, schreibt Paz in Los hijos de La Malinche, gebe es geheime Wörter ohne klar umrissenen Inhalt, dessen ,magischer Vieldeutigkeit‘ wir sowohl den brutalsten als auch den subtilsten Ausdruck unserer Gefühle anvertrauten. Jeder Buchstabe, jede Silbe, so Paz, scheinen von einem Doppelleben beseelt, das uns gleichzeitig enthüllt und verbirgt.174 Auch wenn sich Paz hier noch konkret auf das sehr mexikanische Wort ,chingada‘ bezieht, scheint sich doch schon eine Entwicklung abzuzeichnen, die jenes ,Abgründige‘ vom reinen nationalen Identitätsnarrativ fortschreitend entkoppelt und in einer Sprachkritik universalisiert.

El mono gramático steht auf der Blüte dieser Entwicklung, die Identität auf einer sehr persönlichen Ebene an das Verhandeln einer Sprachproblematik knüpft. Die gesteigerte Sensibilität gegenüber Inhalten, die in der Alltagssprache verborgen oder latent sind, treibt Paz’ ,écriture‘ nicht nur zu einer poetischen Erkundung von Poesie, sondern rückt ihn auch in die Nähe des französischen Surrealismus. Obwohl Paz ein ,automatisches Schreiben‘ für sein eigenes Werk nie übernommen hatte und ihm immer weniger zustimmte, pflegte er doch eine intensive Freundschaft mit André Breton, mit dessen Werk er vertraut war. Der ,écriture automatique‘ geht es um eine Subversion der Alltagssprache durch den Entzug ihrer kommunikativen Funktion.175 Diese Subversion sieht Breton ganz allgemein in der Poesie verwirklicht, die sich jedoch nicht im Rahmen einer institutionalisierten ,Literatur‘ beschränkt halten solle, sondern, unter Aufhebung des Unterschieds von ,Kunst‘ und ,Leben‘, aus dem Randbereich in den Mittelpunkt einer Lebenspraxis gerückt werde.176 Durch die „zufällige Ausstreuung des Signifikanten“177 will Breton dessen ursprünglichen Gehalt wiederherstellen. „Die ,écriture automatique‘ soll Inhalte restituieren, die toten Formen wiederbeleben, die Präsenz des Ausgedrückten in die Sprache einholen.“178 Dabei geht es Breton nicht um das pauschale Verwerfen des Rationalismus, sondern um dessen Befreiung von seinem Nützlichkeitszwang und die Ermutigung des Menschen, sich all seiner Fähigkeiten zu bedienen.179 Es geht nicht darum, Kunstwerke zu produzieren, schreibt Breton etwa in seinem Zweiten Manifest des Surrealismus, sondern darum „aufzuklären über den nicht-erkannten und doch erkennbaren Teil unseres Seins, wo alle Schönheit, alle Liebe, alle Kraft, die wir kaum kennen, in intensivem Licht leuchten“.180 Der ,Automatismus‘ ist also Poesie, verstanden als Möglichkeitsdiskurs und Drang zu einer Entdeckung eines in der Sprache Verborgenen. Breton hat nicht einfach eine ästhetische Gestaltung des Lebens im Sinn, sondern eine Durchdringung und vor allem eine „Befreiung der durch die Zivilisation unterdrückten Wünsche“.181 Damit antwortet das automatische Schreiben auf ein ,Unbehagen in der Kultur‘. Ein unterdrücktes Unbewusstes soll hier mit Mitteln zum Vorschein gebracht werden, die Freud bereits sehr ähnlich in der Traumdeutung angelegt hatte. So ordnet Breton für das Schreiben automatischer Texte eine „passiv rezeptive Haltung“ an. Diesen Zustand „kritikloser Selbstbeobachtung“ empfiehlt auch Freud für die Bildung freier Assoziationen, um den latenten Trauminhalt durch die Zensur zu lotsen.182

 

Was nun diese Ansätze gerade für die Entwicklung einer ,poetischen Essayistik‘ so interessant macht, ist nicht zuletzt der Aspekt der Selbstbeobachtung, den Breton im Zweiten Manifest hervorhebt. Nicht nur ein Schreiben dürfe der ,Automatismus‘ sein, sondern auch die Erkundung der Ursprünge dieses Schreibens in sich selbst. Andernfalls blieben jene ,logischen Sondergebiete‘, die es zu erschließen gelte, eine Unbekannte: „Was sage ich: sie bleiben nicht nur unerforscht, diese logischen Gebiete, sondern man verharrt so sehr wie je in Unkenntnis über den Ursprung jener Stimme, die jeder von uns in sich vernehmen kann, die uns in seltsamster Weise von anderem spricht, als wir zu denken meinen […].“183 Die Erforschung jenes Anderen, in der Sprache stets Verfehlten, das als Unbewusstes in der Sprache diese immer wieder aufbricht und die denotativen Werte torpediert, ist eine Kraft, die Octavio Paz in der Poesie ausmacht. Er wird versuchen, sie nicht nur poetologisch, sondern auch poetisch zu ergründen. Der Rückgriff auf die dichterischen Vermögen des Menschen steht im Zeichen einer Enthüllungs- oder Demaskierungspsychologie: Sie konzentriert sich auf die ,sprachliche‘ Natur des Unbewussten. Insofern etabliert eine ,poetische Essayistik‘ Verbindungen sowohl zur Psychoanalyse als auch zu poststrukturalen Ansätzen. Damit betritt Paz einen Raum, den Jacques Lacan und die École Freudienne de Paris paradigmatisch bearbeitet haben und deren Erkenntnisse Julia Kristeva in ihren Studien kritisiert und erweitert hat. Octavio Paz steht in El mono gramático einer ,écriture automatique‘ nahe durch eine rezeptive Haltung, die in beobachtender Passivität einen Fluss der Zeichen empfängt. Was sein Schreiben jedoch deutlich vom ,Automatismus‘ unterscheidet, ist die Intervention der Kritik. Auch wenn Paz die Rolle des Zufalls im poetischen Ausdruck anerkennt, objektiviert er diesen Ausdruk stets mit Präzision und Bedacht: Seine Poesie ist „hija del azar; fruto del cálculo“.184 Tatsächlich erhält der Leser einen Eindruck sich verselbstständigender Sprache, indem Paz eine Vielzahl miteinander verknüpfter Bedeutungsgehalte, Mallarmés berühmtem coup de dés nachempfunden, inspirativ ,ausschüttet‘. Gleichzeitig setzt jedoch ein kritisches ,Abarbeiten an der Sprache‘ ein; der poetische Fluss der Zeichen wird objektiviert und kritisiert. Poetische Essayistik bei Paz, so wie sie sich in El mono gramático darstellt, entspringt einer Sensibilität gegenüber dem Abgründigen, dessen poetische Gehalte durch eine Praxis des poetischen Schreibens zu Bewusstsein gebracht werden. Gleichzeitig ist sie jedoch auch das Anhalten dieses poetischen Flusses, um ihn mit dem Echolot der rational zentrierten Kritik zu erkunden.

Es scheint mir, dass María Zambrano und Octavio Paz das gleiche Projekt, doch vielleicht in ,umgekehrter Richtung‘ verfolgen: inspiratives Ausschütten der Signifikanten bei Paz, in die sich die Kritik senkt, bzw. Wahl des philosophischen Ausdrucks bei Zambrano, um ihn anschließend vom Widerhall seines poetischen Gehalts auseinandertreiben zu lassen. Poesie zu Kritik bzw. Kritik zu Poesie. Am Grund dieser Bewegungen lässt sich eine Sprachkritik ausmachen, die sich letztlich auch auf die Kritik selbst zurückwendet. Damit drückt sich ein Aspekt des ,Essayistischen‘ aus, der sehr nah an die Sensibilitäten des Poststrukturalismus heranreicht. Wie Müller-Funk schreibt, hat Essayistik vor allem insofern mit Dekonstruktion zu tun, als sie sich am abendländischen Logozentrismus reibt und darin eine selbstreflexive Metaebene erreicht: „Beide, der Essayismus wie die Dekonstruktion, sind ,parasitär‘: Das wissenschaftliche Denken, das sie durchkreuzen und subvertieren, ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen sprachlich-theoretischen Existenz.“185

,Poetische Essayistik‘ ist also mehr als eine Akzentuierung des lyrischen Anteils in expositorischen Texten. Sie betont den dekonstruktiven Impuls, der sich an den Grundfesten der Sprache reibt, und setzt ihm gleichzeitig seine radikalste Kritik in der ,Poiesis‘ entgegen – den dichterischen Möglichkeiten der Konstruktion. Damit wird sie auch zum Ausdruck des Ringens um die Möglichkeit einer ,eigenen‘ Sprache, die es immer wieder in Zweifel zieht und immer wieder auf die Probe stellt – deren Ideal sie jedoch nie aufgibt. Denn die Sprachskepsis des ,Essayistischen‘ steht im Zeichen eines ,intensiveren Sinns für Wahrheit‘: eines Versuchs, im Nachhall der Sprache eine Wahrheitsschau zu betreiben, die Walter Benjamin als das „Urvernehmen“ bezeichnet. Dabei soll ein intentionsloses und „aller Phänomenalität entrückte[s] Sein“186 hörbar gemacht werden. Dieses ,Sein‘ beschreibt eine Wahrheit, die sich intellektueller Anschauung und Erkenntnis entzieht, ein Eingehen in sie erfordert und nach einem Verschwinden in ihr verlangt.187

3 Über Montaignes Essais – eine Apologie der Sinnesvermögen

Wer sich mit dem Schrift- und Kulturphänomen ,Essay‘ beschäftigt, sollte seinen Blick zunächst auf den großen Sieur de Montaigne richten. Denn die Kunst des intellektuellen Aufsatzes in der spekulativen Dimension, die hier im Vordergrund stehen soll, hat in dem Gascongner seinen Ausgangspunkt.188 Quell des breit gefassten ,Essay‘-Begriffs ist ein Missverständnis, das auf der Übertragung aus dem französischen in den englischsprachigen Raum fußt. So ist Michel de Montaigne zwar der Erste, der seine Prosastücke unter dem Titel Essais 1580 veröffentlicht; in England jedoch beginnt schon bald darauf ebenfalls eine Tradition des Aufsatzes, die nach dem französischen Vorbild als ,essay‘ bezeichnet wird. Wegweisend dafür ist Francis Bacon mit seinen 1597 erschienenen Essayes or Counsels, civill and morall. Bacon jedoch hatte zwar den Begriff von Montaigne übernommen, aber nicht die Textform. Bei seinen Essayes handelt es sich, wie Klaus Weissenberger bemerkt, eigentlich um eine „grundsätzlich entgegengesetzte Spielart des Essays“,189 die von der empiristischen Distanz des Autors geleitet ist. Damit sind Bacons Stücke eher Traktate, die ihr Augenmerk weniger auf die Ästhetik als auf die Ethik legen. Der Essay französischer Prägung hingegen bietet etwas anderes als moralische Unterweisung. Seine empirischen Ansätze bleiben innerhalb des Ideals einer ,docta ignorantia‘ und gehen gleichzeitig über den Anspruch des Empirismus hinaus. Adorno sieht dieses Hinausgehen in Montaignes radikaler Kritik am Systematischen schlechthin begründet und argumentiert: „Selbst die empirischsten Lehren, welche der unabschließbaren, nicht antizipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begrifflichen Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als sie mehr oder minder konstant vorgestellte Bedingungen von Erkenntnis erörtern.“190 Die Erkenntnisbedingungen selbst aber sind für Montaigne stets im Wandel; er betrachtet sie als ,zu Suchende‘ und reflektiert den Prozess dieser Suche im Individuum. Während also Bacon von einem deduktiven Wahrheitsbegriff ausgeht und seine Erkenntnis aus der Position eines abgeschlossenen Bewusstseinsprozesses heraus formuliert, bleibt Montaigne beim „Eingeständnis der eigenen Unwissenheit“ und dem „Weg der Erkenntnissuche“191 selbst.

Dem heutigen Leser erscheint Montaigne oft als Freund, der immer wieder tröstende Einblicke in die Größe und die Allzumenschlichkeiten eines klaren und gebildeten Verstands gewährt. Stets scheint es, als erwarte uns Montaigne an seinem angestammten Platz in unserem Regal, um bereitwillig eine heitere und wache Plauderei über die Welt, das Leben und die Menschen anzubieten, von der wir uns gut unterhalten fühlen dürfen. Wer sich darauf einlässt, bemerkt jedoch schnell, dass dieser Mensch uns etwas sehr Persönliches und Tiefgehendes zu sagen hat, und wird immer wieder das Gespäch mit ihm suchen. Das Leseerlebnis der Essais ist dabei auch immer eines der Verblüffung über die Modernität, die uns einen Menschen in seinen privaten Ansichten und Problemen über 400 Jahre hinweg so unglaublich nah erscheinen lässt. Die zeitgenössischen Leser jedoch hat Montaigne stark polarisiert: Als Montaigne seine Essais im Zeitraum von 1572 bis zu seinem Tod 1592 schreibt, ist Europa noch von der mittelalterlichen Scholastik geprägt, mit ihrer deduktiven Beweisführung und strengen Dialektik. Dagegen musste allein schon das assoziativ gestaltete Spiel mit Zitaten, Weisheiten, Anekdoten und Sprichwörtern, die Montaigne in Bezug zu politischen und persönlichen Fragestellungen setzt, geradezu verstörend wirken. Nicht seine Ideen und Urteile selbst waren es, gegen die sich die Empörung richtete – die fest katholische Einstellung Montaignes bezweifelte wohl niemand, noch vertrat er in Moral und Politik unerhörte Meinungen;192 vielmehr war es die Form seines Schreibens, die gerade in gelehrten Kreisen den Unwillen weckte. Seine Gegner warfen ihm, wie Pierre Villey schreibt, eine gewagte Unwissenheit vor sowie die Arroganz, ohne wissenschaftliche Methode und vernünftigen Aufbau über alles zu urteilen.193 Montaigne, so also der Vorwurf, maßt sich eine Kompetenz an, welche der Ton und die Form seines Schreibens nicht rechtfertigen. Vor allem aber hat Montaigne Schwierigkeiten, Autoritäten anzuerkennen. Sein Widerwille gegen alles hierarchisch und systematisch Gegliederte lässt ihn vorgefertigte Meinungen hinterfragen und gegen ein didaktisch geordnetes ,Erstens, zweitens, drittens‘ anschreiben.194 Damit will Montaigne Werturteile von jeglicher Autorität und Vorurteilen befreien.195 Wir hätten unsere Meinungen nur von alten Philosophen übernommen, urteilt er im Essay über die Physiognomie (III, 12). Es gelte schlicht als schick, ihnen aufgrund ihrer Autorität Beifall zu zollen, um selbst für gelehrt und kundig gehalten zu werden; selbst wenn ihre Ideen weder dem eigenen Geschmack noch der eigenen Lebensführung entsprächen. Dabei würden die Lehrmeinungen in immer prunkvollere Sätze gegossen. Es gelte jedoch, das eigene Urteil und den eigenen Blick zu schulen, ohne auf den Putz und Pomp rhetorischer Raffinessen und altehrwürdiger Namen hereinzufallen:

Wir nehmen Reize nur noch wahr, wenn sie künstlich sind: gestelzt, gebläht und aufgedonnert. Geht der Liebreiz im Gewand natürlicher Schlichtheit einher, wird er von einem so groben Blick wie dem unseren leicht übersehn, denn seine Schönheit ist zart und verborgen. Um dieses geheime Leuchten zu entdecken, bedarf es eines zur Klarheit geläuterten Auges.196

Montaigne wendet sich nicht nur hier polemisch gegen die Figur des späthumanistischen Gelehrten, der er diesen klaren Blick nicht zutraut und unter denen er dementsprechend wenig Freunde findet. Er kritisiert eine wissenschaftliche Praxis, die sich in den humanistischen Kompendien seiner Zeit oder, im Bereich der ,Naturwissenschaft‘, in den Wissenskompilationen austobe. Der Humanismus läuft sich in den humanistisch gebildeten Augen Montaignes tot, weil er zunehmend darin bestehe, Maximen antiker Autoren unkritisch aneinanderzustückeln; „es reichte schon das Vorwort irgendeines deutschen Schriftstellers, um mich mit Zitaten vollzustopfen.“197 Einer schreibt vom Nächsten ab und reproduziert ein Wissen, dem wirkliches Verständnis und Substanz fehlen, und scheint daher nicht mehr fähig, Neues hervorzubringen.

Dergleichen Sammelsurien abgedroschener Gemeinplätze, mit denen so viele Leute ihr Studium betreiben, ohne sich in geistige Unkosten zu stürzen, sind kaum für andere, als für abgedroschene Themen brauchbar. […] Ich habe gesehn, wie Bücher über Dinge gemacht wurden, die der Autor weder studiert noch verstanden hat.198

 

Anders als der Vorwurf der Beliebigkeit und Unwissenschaftlichkeit, der Montaigne von zeitgenössischen Gelehrten gemacht wurde (und dem sich Essayisten bis heute stellen müssen), sind die Essais Ausdruck des Versuchs einer Ordnung: Was ist relevant, in welchem Zusammenhang? Dabei richtet sich Montaigne gerade gegen die Vielwisserei199 und gegen die Überschwemmung durch gelehrte Zitate und unreflektierte Versatzstücke. Die Literatur, aus der sich die Essais herausbilden und die sie gleichzeitig kritisieren, war, wie Pierre Villey schreibt, eine der Popularisierung antiker Weisheiten.200 Darunter fallen vor allem Adaptionen antiker Schriften: moralische Sentenzen und, nach dem Vorbild Plutarchs, ,exempla‘ von Lastern und Tugenden großer Männer der Geschichte, Anthologien und Nachdrucke, vermischt mit Bonmots und erstaunlichen Anekdoten. Villey spricht von einer „quantité des maximes et de réflection mal digérées“201 – von schlecht verdauten Reflexionen. Der Hunger nach Literatur über moralische Fragestellungen war brandaktuell, gleichzeitig waren die zeitgenössischen Schriften scheinbar zum Vergessenwerden verdammt, da sie kaum imstande waren, etwas wirklich Neues zu schaffen. Villey weist darauf hin, dass auch Montaigne wahrscheinlich nicht geplant hatte, eine neue literarische Form zu kreieren. Vor allem die frühen, um 1572 entstandenen Essais folgen noch sehr dem Stil der damals in Mode geratenen ,leçons‘. Sie sind eher unpersönlich, präsentieren wenig eigene Gedanken und ähneln dem literarischen Substrat, aus dem sie hervorgegangen sind. Doch schon bald verselbstständigt sich Montaignes Schreiben, und er beginnt, die antike ,Rezeptphilosophie‘ in moralischen Fragestellungen den realen Bedingungen des Individuums gegenüberzustellen und sie dem Praxistest des eigenen Lebens zu unterziehen. Folgte Montaigne dabei anfangs vage stoizistischen Idealen (Que Philosopher, c’est apprendre à mourir, I, 20), entwickelt sich sein Schreiben schon bald fort. Er folgt keiner bestimmten Denkrichtung, sondern macht sie sich alle zu eigen und unterzieht sie einer Kritik, die als modern gelten kann.202 Seine Moral ist dabei nicht mehr an einem göttlichen Wesen ausgerichtet, sondern allein an der menschlichen Vernunft.203

Eine andere Art zeitgenössischer Literatur waren die naturwissenschaftlichen Kompilationen als Ausdruck, wie Claire de Obaldia schreibt, einer kollektivistischen Tradition.204 In diesen Nachschlagewerken wurde kritiklos alles zusammengeführt, was über einen Gegenstand der Natur, etwa ein Tier, bekannt war. Ein besonders anschauliches Beispiel solcher Kompilationen ist durch Michel Foucault einem breiteren Publikum bekannt geworden: die Historia serpentum et draconum des italienischen Naturforschers Ulisse Aldrovandi. Aldrovandi kategorisiert sein Kapitel über Schlangen in Rubriken, die für uns heute kurios erscheinen, wie etwa: Anatomie, Bewegung, Vorkommen, aber ebenso Doppeldeutigkeit, Synonyme, Heilmittel, Lehrfabeln, Symbole, rätselhafte Wunder, Träume etc. Die Essais lassen sich auch als Reaktion auf solche Kompilationen lesen. Wie Claire de Obaldia schreibt, kritisiert Montaigne die Willkür einer solchen Wissensorganisation und konfrontiert sie mit Kritik und Reflexion.205 Für Montaigne sind die Kompilationen Ausdruck des utopischen Gedankens, einen göttlichen Bauplan des Universums in einer allumfassenden und zugleich menschenverständlichen Weise begreifen zu können. In diesem Sinne hat die rigorose innere Organisation eines abstrakten Wissenssystems Montaigne wohl nicht etwa gelangweilt, wie der argentinische Literaturwissenschaftler Walter Mignolo schreibt,206 sie musste ihm vielmehr als Phantasmagorie (oder ,fantaisie‘) erscheinen.

der Arten Zahl ist unbekannt, und keiner hat sie je benannt. Die Wissenschaftler sind es, die ihre Ideen [fantaisies] zergliedern und bis ins kleinste mit spezifischen Begriffen umgrenzen. Ich hingegen, der ich nicht mehr Einblick habe, als die Alltagserfahrung mir völlig reglos zukommen läßt, lege die meinen, mich vorantastend, nur in groben Zügen dar – so auch hier, wo ich meine Meinungen in unverbundenen Sätzen ausspreche, wie man es bei Dingen zu tun pflegt, die sich nicht auf einmal und im ganzen [à la fois et en bloc] sagen lassen.207

Der Illusion des wissenschaftlichen Systems, innerhalb dessen alle Aussagen bereits angelegt sind und somit zumindest theoretisch ,à la fois et en bloc‘ genannt werden können, erteilt er eine Absage. Es gibt keine Vollständigkeit, keine letztgültige Kategorisierung – daher bleibt das Wissen immer Fragment und Provisorium, das sich auf die individuelle Erfahrung gründet. Radikale Skepsis übernimmt die Regie über Montaignes Denken. Die Unsicherheit gegenüber allen Urteilen – auch den eigenen – lässt ihn nur tastend voranschreiten (à tâtons).

Symbol dieser Skepsis ist die Medaille, die Montaigne 1576 prägen lässt: darauf eine Waage mit gleichgerichteten Schalen mit dem Wahlspruch darüber „Que scay-je“ – was weiß ich. Bildlich gesprochen, besitzt jede Medaille – ebenso wie die Waage – zwei Seiten. Gerhard Haas interpretiert Montaignes Wahlspruch sehr treffend als eine solche Ambivalenz. So sei jenes „Qué scay-je“ einerseits „Rechenschaftsablegung eines wachen Geistes“,208 der sein Wissen inventarisiert, es organisiert, Zusammenhänge ergründet und nach Relevanz anordnet. Andererseits aber beinhalte diese Frage auch den Zweifel an der Bewältigungskraft des eigenen menschlichen Verstands: Montaignes Medaille beinhaltet also eine doppelte Fragestellung: Einerseits: Sind alle Möglichkeiten erwogen? Andererseits: Sind alle Möglichkeiten überhaupt erwägbar?209

So wenig wie Montaigne in die Wissenssysteme und -schulen seiner Zeit eintaucht, so wenig arbeitet er sich auch an dem ab, was wie kaum etwas anderes die Totalität dieser Systeme suggeriert: das Buch. Seine Lesepraxis bleibt die eines Müßiggängers in den Schriften, eher aufmerksam blätternd als sich in die Lektüre versenkend. Wie Hugo Friedrich schreibt, liest Montaigne interessiert, aber nüchtern. „Das Ringen mit großen Autoren mag er nicht.“210 Stattdessen kokettiert er mit der eigenen Durchschnittlichkeit und einem angeblich schlechten Gedächtnis. Die Bücher dienen ihm nicht wie den Humanisten als belehrende Autorität, sondern als Anregung. Hans Blumenberg, der sich in Die Lesbarkeit der Welt mit dem ,Buch‘ als Metapher für die Erfahrbarkeit der Welt beschäftigt, spricht von der Metapher des „Buchs der Natur“, mit der Nikolaus von Cues das Bibliotheks- und Bücherwissen konfrontiert hatte: Von dem Übermaß der Schriften befreie das eine Buch der Natur, dessen Erkenntnisse auch dem illiteraten Laien zur Verfügung stünden. Die Gestalt des ,Idiota‘, des unkundigen, aber mit Weltklugheit und Selbstbewusstsein ausgestatteten Stadtbewohners, „antwortet dem gelehrten Redner auf die Frage, woher er denn seine Wissenschaft der Unwissenheit (scientia ignorantiæ) habe: Nicht aus deinen Büchern, sondern aus Gottes Büchern, die er mit eigener Hand geschrieben hat.“211 Nach Blumenberg muss der Cusaner die Metapher von den ,beiden Büchern‘ (Die Natur und die Schriften) wohl von dem katalanischen Humanisten Raymund von Sabunde gekannt haben. Dessen Theologia Naturalis (1436) war in Montaignes Übersetzung ins Französische (1568) einem größeren Publikum bekannt geworden. Sabunde vertrat die Auffassung, Gottes Buch der Natur sei im Grunde fälschungssicherer als die Heilige Schrift, da es nicht falsch ausgelegt werden könne. Somit habe der Laie, der in diesem Buch lese, einen unmittelbareren Zugang zur Weisheit. Montaigne hatte sich über seine Übersetzungsarbeit intensiv mit Sabunde auseinandergesetzt, wovon auch der mit Abstand umfangreichste Text seiner Essais, die Apologie de Raimond Sebond (II, 12), zeugt. Blumenberg ist der Auffassung, dass die Metapher des Buchs der Natur, in welchem der ,Idiota‘ mehr Erkenntnis findet als der Gelehrte und in dem Weisheit gegen Wissenschaft steht, Jahrhunderte später „Selbstdenken“ genannt werden wird:212 Das Bücherwissen kann die Erfahrung nicht ersetzen. Die Essais sind dem Ideal des ,Idiota‘ und seiner ,scientia ignorantiæ‘ verpflichtet. Doch Montaigne deutet Sabundes Metapher gleichzeitig um: „Montaignes Begriff der Welt steht den Erscheinungen des Menschen näher als denen der Natur und die Menschenwelt ist Repertoire der Reflexion, der Selbstentdeckung des Subjekts.“213 Das heißt: Montaigne hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir uns mit der Vokabel ,Welt‘ nicht nur auf die ,Natur‘, sondern besonders auf den Menschen und seine Kulturleistungen beziehen. In dieser Tradition steht essayistisches Schreiben bis heute. Es ist überhaupt nur aus einer Kulturfülle heraus vorstellbar und existiert nur dort, wo sich sprachliche Zeichen der Zivilisation herausgebildet haben. So ist auch, wie Gerhard Haas schreibt, die Nichtoffenlegung der Zitate nicht als Plagiat zu werten. Vielmehr drückt sich genau darin ein „souveränes Verfügen über einen reichen Kulturbestand“214 aus. ,Das Essayistische‘ konstituiert das Individuum nicht aus sich heraus, sondern betrachtet es als ein Kulturprodukt, das mit den Kulturleistungen, mit den Äußerungen anderer verschmelze, ja die es überhaupt erst hervorbringe. Das ,Essayistische‘ betrachtet ,Kultur‘ und ,Geschichte‘ nicht als etwas Sekundäres, von der ,Natur‘ Abgeleitetes, sondern als die Natur des Menschen selbst. Adorno betont diesen Aspekt, wenn er schreibt, ein Essayist versenke sich in Kulturphänomene wie in eine zweite Natur, doch: „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste.“215