Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #19
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2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika

Claros del bosque und El mono gramático sind essayistische Texte, die in besonderem Maß ihren ,poetischen Charakter‘ akzentuieren. Daher lässt sich im weitesten Sinn von einer ,poetischen Essayistik‘ sprechen – insofern dieser Begriff zur Vermeidung erneuter Kategorisierungsversuche nur als Arbeitsbegriff in gedachten Klammern geführt werden soll. Sie sind jedoch als Gruppe von Texten mit ähnlichen ästhetisch-thematischen Sensibilitäten als Extrempunkt des ,Essayistischen‘ zu beobachten, von dem oben die Rede war. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, dieses Textphänomen näher zu betrachten und es innerhalb einer grob umrissenen Geschichte essayistischen Schreibens in Spanien und Lateinamerika einzuordnen.

Nach Claire de Obaldia vereint das ,Essayistische‘ alle aristotelischen Kategorien in sich: das Lyrische, das Dramatische und das Epische. Während Obaldia den epischen Anteil des ,Essayistischen‘ mit einer Funktion des in der ,Exempla‘-Literatur begründeten ,Storytelling‘ assoziiert, sieht sie das Dramatische in einer Imitation von Dialog durch das Einnehmen verschiedener Blickwinkel umgesetzt. Das dichterische Element des ,Essayistischen‘ zeigt sich ihrer Ansicht nach an einer bilderreichen, ,poetischen‘ Sprachführung sowie in der assoziativen Struktur, die den spontanen Prozess der Gedankenfindung spiegelt. Der Fokus liegt für sie aber nicht allein auf der poetischen Sprache, sondern auch auf einem gewissen Grundton des Diskurses: So sei ein Essay in dem Sinn poetisch, in dem ein Autor den Eindruck erwecke, mehr zu sich selbst als zu anderen zu sprechen. Diese Haltung begründe die Form einer Meditation.112 Die beiden in dieser Arbeit vorgestellten Texte von Zambrano und Paz akzentuieren die lyrische Seite zunächst in einer Weise, die Obaldia hervorhebt: Es handelt sich um ,meditative‘ Textstücke, die eine große Nähe zur Dichtung pflegen und durchdrungen und strukturiert sind von einer reichen Metaphorik. Beide Texte suggerieren aber auch ein ,Bei-sich-selbst-Sprechen‘. Diese Innerlichkeit ist entscheidend für die Sprechsituation eines ,poetischen Essaystils‘, denn sie ist vor allem Ausdruck einer besonderen sprachlichen Intimität und Nähe, auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen möchte.

Auf die generell große Bedeutung der Lyrik für essayistische Texte haben Autoren wie Gerhard Haas bereits aufmerksam gemacht.113 Gleichzeitig aber ist diese Art der Essaykunst Reflexion ihres historischen Moments ab etwa der Mitte des 20. Jh., in dem sich ästhetische, philosophische und poetologische Themensetzungen mit entsprechenden Textverfahren verbinden, die sie ganz in sich aufnehmen, widerspiegeln und kommentieren.

Zu Beginn des 20. Jh. hatten die ,Generación del 98‘ in Spanien und die Generation der zwischen 1890 und 1934 geborenen Autoren in Lateinamerika essayistisches Schreiben im Sinne einer narrativen Ausgestaltung, des ,Storytelling‘ nach Obaldia, literarisiert und es in einer Rückbesinnung auf seine spekulativ tastende Haltung wieder an die von Montaigne begründete Form angelehnt. Auch die Entstehung einer lyrischen oder poetischen Essayistik mit María Zambrano, Octavio Paz ebenso wie Gabriela Mistral und José Lezama Lima bewegt sich im Rahmen dieser Neuentdeckung oder ,Literarisierung‘, insofern das Poetische Anteil am Literarischen hat. Die Rückbesinnung auf Montaigne liegt hier in einer besonders deutlichen Auflösung der Grenze von logischem Denken und Kunst als reiner Intuition, die Peter Earle und Robert Mead für zeitgenössisches essayistisches Schreiben geltend machen. Gerade die Synthese von ,Kunst‘ und ,Leben‘ eröffne den Weg zurück zu einer Konzeption ,des Essays‘, in dem die Erfahrung des schreibenden Subjekts wieder im Mittelpunkt steht und das gerade aus dem Zusammenspiel dieser beiden Elemente seine gestalterische Kraft beziehe. Earle und Mead bringen dies auf die schöne Formel, ,der Essay‘ sei eine logische Struktur, in der aber die Logik zu singen beginne – „El ensayo […] es una estructura lógica, pero donde la lógica se pone a cantar.“114 Während sich eine Verknüpfung mit der Erzählung und der Fiktion noch innerhalb eines Felds des Diskursiven bewegt, rührt eine ,poetische Essayistik‘ an einen besonders tiefen Punkt des ,Essayistischen‘. Denn sie verknüpft durch die Akzentuierung des Lyrisch-Poetischen zwei radikal unterschiedliche Formen sprachlicher Aussage. Damit erst zeigt sich das ,Essayistische‘ als wahrer Transgressionsmodus. Die Radikalität, welche die poetischen Essays in der zweiten Hälfte des 20. Jh. entfalten, liegt dabei zusätzlich noch auf einer Invertierung der Elemente, welche die diskursumwälzende Kraft des ,Essayistischen‘ zusätzlich betonen: Denn während die Dichtung bei Montaigne eher noch als erneuernder Impuls für die logischen Strukturen des Denkens hervortritt, wird sie nun extensiv und greift auf das Ganze des Textkörpers über. Aus der ,estructura lógica que se pone a cantar’ wird eher eine ,estructura lírica que se pone a filosofar‘.

Für die Erneuerung lateinamerikanischer Essayistik beobachtet Jaime Alazraki drei Stoßrichtungen im 20. Jh. und macht die jeweiligen Entwicklungen anhand dreier Autoren fest: Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und Octavio Paz: Borges, der sein Material nach Maßgaben der kurzen Erzählung, des ,cuento‘, strukturiert und ihm dadurch eine relativ feste Form verleiht; Cortázar, der sein essayistisches Werk, paradigmatisch in Rayuela, als ,novela‘ organisiert. Damit komme Cortázar Musils Vorstellung des Essayismus, als Form, die das Innenleben einer Person in ihrem Denken ausdrücke, am nächsten.115 Er habe die essayistische Prosa dabei zusätzlich im Sinne eines mündlichen Stils verändert. Octavio Paz wiederum habe, und dies ganz besonders in El mono gramático, ein Projekt der Versöhnung zwischen Essay und Poesie verfolgt und einen Essay mit poetischen Funktionen oder ein Gedicht mit essayistischen Funktionen geschaffen.116

Diese Einordnung literarhistorischer Entwicklungen ist übersichtlich und durchaus plausibel; allerdings spricht auch Alazraki von Essay als fester Gattung. Borges, Paz und Cortázar zwängen ,den Essay‘, über seine eigenen Beschränkungen hinauszutreten.117 Wenn wir das ,Essayistische‘ aber als ohnehin transgressiv wirksame Praxis begreifen, ist Alazrakis Argumentation wenig zielführend, da nicht eindeutig ermittelt werden kann, worin jene generischen Beschränkungen (límites) bestünden. Es ist wenig überraschend, dass Alazraki in der Exposition seines Artikels Francis Bacon anführt, während er Michel de Montaigne nicht mit einem Wort erwähnt. Die Anerkennung einer entscheidenden Rolle der drei genannten Autoren als große Erneuerer des essayistischen Schreibens innerhalb einer grob gefassten ,Literarisierung‘ ist durchaus richtig. Doch eine ‚poetische Essayistik‛ als bloße Stilfrage klären zu wollen, als poetische Ausgestaltung eines essayistischen Texts, trifft nicht, was diese spezielle Essaykunst ausmacht. Ein Essay ist nicht einfach als formales Gattungsexperiment zu definieren; insofern kann eine ,poetische Essayistik‘ kein Sonderfall des ,Essayistischen‘ sein; vielmehr hat sie Anteil an ihm. Sie ist Ausdruck bestimmter Sensibilitäten, die das ,Essayistische‘ in einer besonderen Radikalität und Deutlichkeit hervortreten lassen. Man müsste die Frage nach den verschiedenen Ausprägungen des ,Essayistischen‘ anders stellen und sie als unterschiedliche Akzentuierung von Fragestellungen begreifen, die sich gleichzeitig als epochenspezifisch und geschichtsinvariant, als individuell und universell erweisen. Bei einer Betrachtung ,poetischer Essayistik‘ müssen wir also nicht nur stilistisch formale Besonderheiten in Augenschein nehmen, sondern vor allem versuchen, ihre tieferen Sensibilitäten zu ergründen. Aus welchen historischen Entwicklungen geht sie hervor? Auf welche Fragen versucht sie zu antworten?

Die moderne Essayistik geht von Michel de Montaignes 1580 erstmals veröffentlichten Essais aus. Doch wie in ganz Europa, so gab es auch in Spanien bereits vor Montaigne eine Kunst des Aufsatzschreibens, geprägt vor allem durch den moralisch-religiösen Antimachiavellismus des Fray Antonio de Guevara oder durch die Abhandlungen über Gerechtigkeit von Luis Vives. Auch die starke Tradition der Mystiker um Fray Luis de León, San Juan de la Cruz, Santa Teresa und Fray Luis de Granada können als Vorläufer der modernen spanischen Essaykunst betrachtet werden.118 Juan Marichal spricht sogar von einem Ruf Spaniens als Mutterland der Essayistik, der in den Ursprüngen spanischer Kultur verankert sei. So erinnert Marichal etwa an das berühmte Wort Graciáns vom ,discurrir a lo libre‘ als genuin spanischer Eigenschaft und bezeichnet es als eine der Hauptachsen der Literatur- und Ideengeschichte spanischsprachiger Länder.119

Der Begriff ,essay‘, oder ,essai‘, den Montaigne als Bezeichnung für seine besondere Form des Aufsatzes einführte, stammt von der lateinischen Vokabel ,exagium‘ (Versuch, Probe). Das daraus abgeleitete französische Verb ,essayer‘ bedeutet so viel wie ,untersuchen, abwägen‘ und impliziert die Haltung einer perspektivisch differenzierten Betrachtung eines Gegenstands. Die älteste bekannte Erwähnung des Wortes ,exagium‘ im literarischen Zusammenhang findet sich dabei nicht etwa im frühneuzeitlichen Périgord, sondern viel früher, im spanischen Mittelalter bei Gonzalo de Berceo, und zwar in der Bedeutung, die noch heute auf den Essay zutrifft, als Versuch und Abwägen, gerichtet an einen Leser oder eine Lesergruppe.120 So gab es in Spanien vor, aber auch nach Montaigne eine eigenständige und äußerst einflussreiche Tradition von ,Ideenliteratur‘, die im allerweitesten Sinn auch ein ,essayistisches Schreiben‘ umfasst. Erwähnt seien zum Beispiel politische Denker des 17. Jh. wie Diego de Saavedra y Fajardo, jesuitische ,tratadistas‘ wie Baltasar Gracián, der Kreis von Aufklärern um Benito Jerónimo Feijoo, José Cadalso und Gaspar Melchor de Jovellanos sowie später im 19. Jh. die Generation der liberalen ,costumbristas‘, allen voran José de Larra und deren konservative Antagonisten Jaime Balmes und Juan Donoso Cortés;121 nicht zu vergessen auch die ,krausistas‘ um Julián Sanz del Río und Francisco Giner de los Ríos.122

 

Obwohl Spanien also auf ein sehr reiches Erbe expositorischer Texte blicken kann, setzt sich der Begriff ,Ensayo‘ als Äquivalent zu Montaignes ,Essay‘ erst spät, im 19. Jh. durch. Zwar hatte Diego de Cisneros das erste Buch der Essais bereits während der Jahre 1634–1936 übersetzt, und der Erste, der Montaigne voll Bewunderung zitierte, war kein Geringerer als Francisco de Quevedo. Diese erste Übersetzung ins Spanische war allerdings nicht unter dem Titel Ensayos, sondern als Experiencias y varios discursos de Miguel Señor de Montaña erschienen.123

Im ausgehenden 18. und Anfang des 19. Jh. wird der Ausdruck ,ensayo‘ zunehmend in historiografischem Kontext verwendet, wie z. B. im Fall des etwas sperrigen Titels Ensayo histórico-crítico sobre la antigua legislación y principales cuerpos legales de los reinos de Aragón y Castilla (1808) von Francisco Martinez Marina.124 Die erstmalige Verwendung des Begriffs ,ensayo‘, der sich nicht als historisch-wissenschaftliche Studie versteht, sondern im Kontext der Literatur verwendet wird, datiert auf das Jahr 1818 und findet sich in einer Anthologie von Ángel Anaya: An essay on Spanish literature. Gegen Mitte des 19. Jh. noch steht der ,ensayo‘ nicht als literarische Textgattung für sich, sondern immer mit einem erklärenden Zusatz, wie die Ensayos literarios y críticos von Alberto Lista (1844) oder die Ensayos religiosos, políticos y literarios von Josep María Quadrado aus dem Jahr 1853. Erst mit den 1892 erschienenen Ensayos y revistas von Leopoldo Alas (Clarín) wurde der Zusatz ,literarisch‘ nicht mehr eigens für den Essay genannt.125

Diese begriffliche Verzögerung ist kein spanischer Sonderfall, sondern eine Erscheinung, die ganz Kontinentaleuropa betrifft, denn die Breitenwirkung des Essays geht von Francis Bacon aus, was nicht zuletzt daran liegt, dass Montaignes Essais nach dessen Tod auf den vatikanischen Index der verbotenen Bücher gesetzt wurden und außerdem die strengere Form Bacons in der französischen Klassik mehr Anklang fand. La Rochefoucauld und Pascal fanden ein größeres Publikum als Montaigne.126 So erschienen moralisch-didaktische Schriften aus Spanien in England unter dem Titel ,Essays‘, und in Spanien selbst triumphierte die Form des ,ensayo general‘, vor allem im 18. Jh. Diese Essayform ohne lyrisch-poetische Ambitionen zeichnet sich besonders durch eine an der Didaktik ausgerichteten Gelehrsamkeit127 aus und läuft damit Montaignes Intention prinzipiell zuwider. Nicht belehren, sondern erzählen will Montaigne.128 Diesem Zweck ordnet er seine Gelehrsamkeit unter.

Trotz weit zurückreichender Tradition einer ,Ideenliteratur‘ existiert der ,ensayo‘, so wie er von Montaigne angelegt war, bis ins 19. Jh. nicht. Von einer Kontinuität seit Quevedo könne nicht die Rede sein, so Jordi Gracia und Domingo Ródenas im Vorwort zu ihrer breit angelegten Anthologie El ensayo español. Auf ihr zu bestehen und sie zu verteidigen hieße, eine Tradition zu erfinden.129 Gerade im Kreis der Aufklärer, unter denen man mit Autoren wie Feijoo bereits essayistisches Schreiben vermuten möchte, war die Skepsis gegenüber Montaigne groß. Das Urteil, das Antonio de Campany über die Essias spricht, spiegelt wohl eine damals gängige Einschätzung wider: Sie besäßen weder Reinheit noch Richtigkeit, noch Genauigkeit, noch große Würde, wenn auch Lebhaftigkeit, Mut, Energie und Schlichtheit.130 Erst mit der ,Generación del 98‘ und besonders Azorín, Pío Baroja und Miguel de Unamuno findet ,der Essay‘ zu einer von Montaigne inspirierten Ausprägung zurück. Nach Meinung Pilar Sanjuans entsteht der Essay in dieser Zeit als konkrete und klare, endgültige Form.131 Diese Formulierung halte ich für wenig glücklich. Denn das ,Essayistische‘ stellt die Attribute des ,Spezifischen‘, der ,Klarheit‘ und der ,Endgültigkeit‘ radikal infrage. Dennoch entspricht die Zuwendung zum Essay während des 19. Jh. sicherlich einer Wieder- oder Neuentdeckung der Subjektivität. Die seit der Romantik zunehmend veränderte Position des Individuums gegenüber der Gesellschaft ist auch in der Person des Essayisten erkennbar. Juan Marichal spricht in diesem Zusammenhang von einer Aufgabe der reinen Beobachterposition, welche die Intellektuellen oftmals zu Fremden im eigenen Land, zu „extranjeros en su patria“132 gemacht habe. Dies habe sich im 19. Jh. geändert. Seit Larra erkenne sich der Intellektuelle als integraler Bestandteil der Gesellschaft, und die Debatten kreisten um die Frage, ob und in welcher Weise es möglich sei, sich von den kollektiven Fehlern des Umfelds zu befreien und eine eigene Individualität zu entfalten. Beantwortet Larra die Frage negativ und ergibt sich in stiller Resignation der Verwicklung in kulturelle Unzulänglichkeiten, so betonen die ,krausistas‘ um Sanz del Río die nützlichen Seiten des Kollektivs: Das von Larra aufgeworfene Dilemma zwischen dem ,Ich‘ und den Sitten, Person und Gesellschaft, müsse nicht in die Zerstörung des Individuums münden.133 Mit Unamuno beginnt nun für den Essay die Wiederentdeckung des Individuums und seiner Subjektivität innerhalb des Kollektivs. Wie Juan Marichal schreibt, ist Unamuno ,krausista‘ hinsichtlich der Position, dass sich Individualität nur durch ein bedingungsloses Bekenntnis zur Gesellschaft entfaltet. Anders als für Sanz del Río hingegen impliziere für ihn die Zugehörigkeit zum Kollektiv nicht deren weitgehende Akzeptanz. Um zu sich selbst zu finden, kämpfe Unamuno gegen bestimmte Formen der eigenen Kultur an, was für ihn gerade als spanischer Intellektueller ein Umstand von besonders dramatischer Tragweite sei.134 Unamuno ist die prägende Figur, die den Essay in seiner „spekulativen Dimension“135 mit seiner für diese Form so charakteristischen Subjektivität wiederbelebt. Damit eröffnet er seiner Generation neue Wege des Ausdrucks.136 Für Unamuno und die 98er wird ,der Essay‘ zu einem wesentlichen Ausdrucksmittel und zum Paradigma einer „escritura en libertad“137, die sich ihrer Herkunft mit Montaigne sehr bewusst ist. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Jahr 1898 neben dem politischen Ereignis auch noch ein wichtiges literarisches zeitigt: die erste vollständige Montaigne-Übersetzung ins Spanische in Paris durch Garnier.

Unter der nachfolgenden Generation von Intellektuellen ist José Ortega y Gasset die einflussreichste Figur. Die 1923 durch ihn gegründete Revista de Occidente wird nicht nur zum Medium der Verbreitung neuer Ideen, sondern auch für die essayistische Art ihrer Darstellung, nicht nur in Kunst und Literatur, sondern auch in Wirtschaft, Wissenschaft, Soziologie und Architektur. Die Revista ist Zugpferd für einen ,Essayismus‘, verstanden als Lebensform, die alle Bereiche des sozialen Lebens durchdringt. Allerdings besitzen viele dieser Texte einen deutlichen Bildungsauftrag und sind didaktisch ausgerichtet. Damit erhalten sie eine feste und durchdachte Form, in der ihr gedanklicher Inhalt schon vorstrukturiert erscheint. Viele dieser Essays besitzen Traktatcharakter. Auch Ortega selbst besitzt eine ausgeprägte didaktische Sensibilität, der sein großer stilistischer Gestaltungswille untergeordnet ist. Seine zwischen Gelehrsamkeit und populärem Ausdruck, lateinischen Zitaten, Neologismen und Metaphern mäandernde Eloquenz soll sein Denken vor allem ,verführerisch‘ gestalten und dadurch die Verbreitung seiner Ideen fördern. Diese stilistischen Besonderheiten sind prägend für seine Generation, und so bleibt auch für seine Schülerin María Zambrano die enge Verbindung von Denken und Ausdruck eminent wichtig.138 Die Bindung des ideellen Gehalts an den Ausdruck ist vielleicht eine der grundlegendsten Beobachtungen bei der Charakterisierung essayistischer Schreibweisen im kontinentalen ,Montaigne-Stil‘. Unter diese Universalia zählt aber auch eine Verknüpfung unterschiedlicher Diskursarten sowie, ganz allgemein, die Herstellung neuer, zunächst ,unwahrscheinlicher‘ Verbindungslinien innerhalb des Denkens. In diesem Sinn ist auch Ortegas Philosophie selbst von einem ,essayistischen Geist‘ durchdrungen. Sein Projekt besteht in einer Versöhnung von Rationalismus und Vitalismus in einer radikal historisch gedachten Realität durch die Theoretisierung einer ,razón vital‘. Für Zambrano könnte sie ein Anstoß oder Stichwortgeber gewesen sein, ihrerseits nun Gedanken zu einer ,razón poética‘ zu entwickeln. Zambrano emanzipiert sich aber dabei nicht nur von Ortegas Philosophie, sondern auch von dessen Stil. Während Ortegas Denken und Schreiben stets einem ,traditionellen‘ philosophischen Diskurs verpflichtet bleibt, geht seine Schülerin einen neuen Weg: Statt Gedanken rein diskursiv zu verhandeln und ihnen lediglich durch ,Zugabe‘ poetischer Elemente einen in weitestem Sinn ,literarischen Charakter‘ zu verleihen, setzt die Sprache den Gedanken in ihrem Ausdruck selbst um. Dieser hohe Grad dessen, was ich später als ,Performativität des Essayistischen‘ bezeichne, ist in Montaignes Essaystil angelegt, kommt aber durch die Lyrisierung noch eine andere Dimension. Die Bindung der Idee an den Ausdruck wird vielschichtiger – sie ,verdichtet‘ sich. Die essayistische ,Melange‘ von Gedanken und Diskursarten, thematisiert sich nun selbst im Ausdruck – als Heterogenität und Differenzhaftigkeit der Sprache. Anders ausgedrückt: Es geht nicht um Essays über ein Thema, sondern um die Sprache selbst als Essay.

Zambranos verdichteter Essaystil entspricht gewissen Sensibilitäten der Epoche für derartige Projekte; die Lyrisierung von ,Ideenliteratur‘ erscheint auch auf der iberischen Halbinsel gewiss nicht ohne Vorläufer. Herausheben möchte ich in diesem Zusammenhang lediglich den katalanischen Philosophen und Essayisten Eugenio d’Ors. Zambrano hatte Ors in den Jahren 1922/23 auf dem vorläufigen Höhepunkt von dessen Popularität persönlich auf Vorträgen in Segovia gehört.139 Möglicherweise hatte sie sich bei dieser Gelegenheit auch eindringlicher mit Ors’ philosophischem Projekt auseinandergesetzt. Wie Ors einige Jahre später, 1927, seinem Vertrauten Valery Larbaud mitteilte, hatte er nichts Geringeres im Sinn als eine Kepler’sche Reform des Denkens, indem er den Bereich der Ratio mit einem Mystizismus à la Bergson vereinen wollte. Diese intellektuelle Wende verlangte dabei seiner Ansicht nach auch einen veränderten Stil, den er selbst als Sprache zwischen Prosa und Dichtung beschreibt, als „una especie de lenguaje intermedio entre prosa y verso“.140 Ors wollte sein Vorhaben nicht dem Projekt einer damals in Mode geratenen ,prosa lírica‘ anschließen, sondern ausdrücklich das Feld der Prosa nicht verlassen. Jedoch sollte die Prosa dem Gesetz der Dichtung folgen („la ley nativa del verso“).141 Ob nun María Zambranos Projekt einer ,dichterischen Vernunft‘ auf Ors zurückgeht oder vollkommen unabhängig davon entsteht, ist unklar; jedenfalls findet die philosophische Zusammenführung von Ratio und intuitiveren Strukturen des Geistes, die auch mit stilistischer Entsprechung materialisiert werden, einen Pionier in Ors. Dieser entwickelt allerdings in späteren Jahren politisch einen tiefen Konservatismus und schließt sich dem ,Falangismo‘ an: unvereinbar mit Zambranos kämpferischem Engagement für die spanische Republik. Was aber immerhin für eine Rezeption Ors’ durch Zambrano spricht, ist der Ansatz reiner Kontemplation, des Denkens als Nichtdenken, der beiden zu eigen ist. Ors hatte es in Oceanografía del tedio bereits 1916 erzählerisch in Szene gesetzt: „¡ni un pensamiento, ni un movimiento!“142 Die reine Betrachtung des Bildhaften, Meditation und Stille sind bei Ors einem Ideal des ,Noucentisme‘ geschuldet: Die klassizistische, zuweilen extrem reduzierte Ästhetik sollte die Präzision des intellektuellen Ausdrucks und die Besinnung auf ein Wesentliches fördern. Zambrano hingegen entlehnt ihre meditative Haltung eher der spanischen Mystik. Die Erforschung der Stille ist jedoch für beide ein intellektuelles Projekt im Sinne einer Weltschau, die sich einer Unbekannten zuwendet; eine Selbstbetrachtung als Ozeanografie der Seele. Dieses Projekt ist bei Zambrano untrennbar mit der Poesie verbunden, weil die Poesie Ort dieser Stille ist. Sie verweist auf das, was dem philosophischen Intellekt entgeht: die Leere zwischen den Zeilen und die Pausen zwischen den Worten; auf einen Zustand, der dem Wort vorgängig ist und dasjenige bewahrt, was sich noch nicht in die Endgültigkeit der Form gefügt hat. Wie Octavio Paz sich erinnern wird, ist dies in seinen zahllosen Gesprächen mit der Philosophin die Stimme Zambranos selbst gewesen: „Es ist eine flüssige Stimme, die nicht geradlinig voranschreitet, sondern sich zwischen Pausen und Schwankungen hindurchschlängelt.“143 Poetische Essayistik ist die Betrachtung der eigenen Stimme; nicht in ihrem Fluss, sondern in ihrer ozeanischen Dimension: „Doch das Meer, das dem frivolen Beobachter als höchste Gleichheit und Monotonie erscheint, bietet dem Taucher, der sich in es vertieft, das Erstaunen über tausend Schauspiele im fantastischen Tempel der Sirene.“144 Der Ort des Selbst liegt in den Zwischenräumen der Sprache; in ihren Vertiefungen, in ihren Pausen. Er ist immer dort, wo die Sprache etwas umgeht und von etwas schweigt. Die poetisch essayistische Selbstbetrachtung erkennt das Selbst als Stille, als Ausgangspunkt der Dichtung, der selbst die Struktur des ,Ozeanischen‘ besitzt: „Die Poesie muss immer die Form des Ungeformten sein“,145 schreibt Zambrano an den kubanischen Dichter Virgilio Piñera. Poetische Essayistik ist der Versuch, das Ungeformte des Selbst in dieser Stille zu erkunden. Sie ist ein Anhalten der Sprache und der Versuch, ihre Tiefe auszuloten, das heißt dem poetischen Vermögen des Wortes, den Möglichkeiten seiner Erfassung und Gestaltung der Welt nachzuspüren. Sprechen. Verklingen lassen. Hören. Neu ansetzen. In diesem Sinne ist poetische Essayistik Ozeanografie: die Erkundung dessen, was Octavio Paz die „Flüssigkeit“ der Stimme Zambranos nennt; eine tastende, kritische Versenkung in die nachklingende Stille des Wortes.

 

In Lateinamerika verläuft die Entwicklung des Begriffs ,ensayo‘ ähnlich wie in Spanien. Pilar Sanjuan spricht von einem klaren Parallelismus in der Entfaltung des modernen spanischen und lateinamerikanischen Denkens, der sich in der Essayistik spiegele.146 Der Beginn der Kolonialzeit bedeutet gleichzeitig einen ersten Export spanischer Ideenliteratur. War Amerika zunächst lediglich Thema in den Chroniken spanischer Conquistadores, bildete sich rasch eine Generation von Autoren wie Fray Bartolomé de las Casas oder Sor Juana de la Cruz, die in den Kolonien lebten bzw. bereits dort geboren waren und in ihren Texten einen genuin kolonial-amerikanischen Blick auf die Realitäten des neuen Kontinents entwickelten. Ob es allerdings im 16. und 17. Jh. bereits einen ,lateinamerikanischen Essay‘ gab, darüber herrscht Uneinigkeit: Zwar will Alberto Blasi in den Berichten der Conquistadores, die sich mittels einer „voluntad de visión“147 die Neue Welt erschlossen, bereits Vorläufer des Essays erblicken. Dem widerspricht aber vehement David Lagmanovich: Die Geschichte des ,lateinamerikanischen Essays‘ beginnt seiner Meinung nach erst mit der Entstehung der Republiken in den 1840er-Jahren.148 Letztlich ist es erneut eine Frage des Verständnisses des Begriffs ,ensayo‘, welchem Standpunkt größere Gültigkeit zuerkannt wird. Ähnlich wie in Spanien entsteht im 16. und 17. Jh. ,Ideenliteratur‘ in Form des ,tratado‘ oder der ,meditación filososófica‘, und mit der Aufklärung kommt es zu einer Entstehung zahlreicher Zeitschriften, ,revistas misceláneas‘ und Gazetten, die einen Diskurs etablieren, der essayistische Züge, „rasgos ensayísticos“,149 trägt. Der Begriff des ,ensayo‘ setzt sich jedoch auch in Amerika erst im 19. Jh. durch.150

In den beiden Generationen von Romantikern um Esteban Echevarría, Juan Montalvo und Eugenio María Hostos als herausragenden Figuren gehen Literatur und Politik eine besonders enge Verbindung ein:151 Den lateinamerikanischen Intellektuellen dieser Zeit geht es vor allem um politische Emanzipation, die sie mittels einer geistigen anstreben. Natürlich fällt unter diesen Typus auch Sarmientos berühmter Facundo. Didaktik und Erziehung stehen im Vordergrund,152 was Montaignes Konzeption des Essays bereits prinzipiell zuwiderläuft. Dennoch lodert in Sarmientos romantischem Eklektizismus eine transgressive Ästhetik, die man bereits als essayistische Haltung bezeichnen könnte. In einer wilden Durchmischung landeskundlicher und soziologischer Betrachtungen, lebendiger Beschreibungen, persönlicher Erzählungen und Anekdoten, biografischer Notizen und Gedichtzitate verschafft sie sich einen wortgewaltigen Ausdruck.

Der ,ensayo naturalista-modernista‘ umfasst die zwischen 1845 und 1889 geborenen Schriftsteller. Die ,großen Namen‘ unter ihnen sind José Martí, Paul Groussac, Rubén Darío, José Enrique Rodó und José Vasconcelos, um nur einige zu nennen.153 Diese Generationen sind geprägt von einer Wiederentdeckung humanistischen Denkens und einem aufkommenden Kosmopolitismus.154 Die Tradition der lateinamerikanischen ,Ideenliteratur‘ ist zu heterogen und weitläufig, um sie hier in Kürze darzustellen. Dazu kommt, dass der Versuch einer Gliederung in ,ensayo romántico‘, ,modernista‘, ,vanguardista‘, wie David Lagmanovich sie hier vorstellt, nur bedingt sinnvoll erscheint. Gewiss lassen sich stilistische und thematische Zusammensetzung dieser Texte sehr grob ihrer Epoche zuordnen; der Erkenntnisgewinn einer solchen Zuordnung ist allerdings fraglich. Zudem gibt es nicht nur große Unterschiede zwischen Autoren derselben Epoche; auch das Werk jedes Einzelnen ist in sich oft äußerst heterogen. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass sich expositorisches Schreiben in Lateinamerika vor allem kämpferisch und politisch gibt. Ausgehend von der romantischen Entdeckung des ,Ich‘ in seiner Subjektivität, schreibt es gegen koloniale Kräfte an, protestiert gegen Militarismus, Autokratie, Vertreibung und schwindende Identität. ,Der Essay‘ ist in Lateinamerika in besonderer Weise Mittel der Anklage und „llamada a la acción“.155 Dies entspricht der Wandlung, die nach Juan Loveluck jede Kunstform auf dem Weg von Europa nach Amerika vollzogen hat; im Falle des ,Essay‘ spricht er von einer Wendung ins Programmatische und Eruptuive – von einem „tránsito de la fórmula europea (contemplativa y serena, con vuelos metafísicos y abstrusas elaboraciones) hasta una voluntad programática, luchadora y eruptiva“.156

Die Wiederentdeckung einer Essayistik, die sich auf ihre Wurzeln in der frühen Moderne und besonders auf eine spekulative, persönliche und beobachtende Dimension zurückbesinnt, erfolgt in Lateinamerika mit der ,Generación del 27‘, die an dieser Stelle nicht mit der gleichnamigen spanischen Generation verwechselt werden darf. David Lagmanovich assoziiert sie in seiner an Cedomil Goic orientierten Klassifikation157 mit dem Erscheinen eines neuen Typs des Essays, dem ,ensayo vanguardista-existencialista‘. Seine wichtigsten Vertreter sind neben José Carlos Mariátegui vor allem Autoren aus dem La-Plata-Raum wie Ezequiel Martinez Estrada, später Ernesto Sábato und natürlich die herausragende Figur J.L. Borges. Daniel Balderston nach vereint gerade Borges zahlreiche Charakteristika des Montaigne-Typus. So biete seine relativierende Haltung keine definitiven Lösungen und bleibe stattdessen im Spekulativen. Sein ironischer Ton, mit dem er Sicherheiten untergrabe, könne als wichtigster Beitrag zu einer Gattung des Essays zählen.158 Für Claire de Obaldia verkörpert Borges gar den essayistischen Geist in besonderer Weise: Die Essayistik sei seit Montaigne ein steter Übergang vom Philosophischen zum Literarischen, und diese Tendenz sei im Fall Borges besonders gut zu beobachten. Wie bereits Jaime Alazraki beobachtet auch sie die Verschmelzung von ,cuento‘ und ,ensayo‘ in seinem Werk.159