Begehren hat´s eilig - Liebe wächst langsam

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Begehren hat´s eilig - Liebe wächst langsam
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Begehren hatLiebe werz

Teil 1 Ein schöner Beginn

Ein schöner Beginn / Drei sonnige Tage

Teil 2 Schreckliches Wiedersehen

Neubesinnung / Trostlose Entdeckung / Hoffnungen keimen / Offenbarungen und Veränderungen

Teil 3 Abschiede + Klärung

Mutters Beerdigung / Kurz und bündig! / Wieder in Berlin / Claudia erscheint plötzlich und unerwartet / Zurück nach Schönwerder / Ein Sack voller Pläne / Großes Aufräumen in Berlin / Schon wieder in Schönwerder, Klärungen / Baum der Entscheidung / Abrechnung

Teil 4 Freud und Leid

Tu es oder lass es! / Träume / Berlin verführt Claudia

Teil 5 Intermezzo: „Geschäfte“

Nägel mit Köpfen

Teil 6 Feiertage

Claudia wird Berlinerin / „O, du fröhliche..."

Teil 7 Geschichten

Geschichtenerzähler / Wandergeschichte / Planungsspiele / Claudias neue Weltsicht / Pflichten / Malheur und Besinnung

Teil 8 Erfüllungen

Heirat / Geburt / Das Ende dieser Geschichte

Teil 9 Anhang

Dorfplan / Fotos / Die Personen / Noch ein kleiner Anhang im Anhang / Gedichte / Letzte Geschichte

Impressum Band 20

Begehren hat´s eilig

Liebe wächst langsam

von Veit Friedland

Copyright © 2014 Friedland / friedlandbuecher

D-40764 Langenfeld

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-8577-2


Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.

Das gilt besonders für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Vorbemerkung

Es ist schon erstaunlich, was in einem Dreivierteljahr alles geschehen kann. In dieser Zeit hat Micha Schneider ein Tagebuch geführt. Hier ist es! Natürlich etwas aufbereitet, damit ein Leser auch folgen kann.

Ein kluger Mensch hat die Literatur in zwei Schubladen verteilt: fünfzig Prozent der Geschichten handeln von Beziehungen, die er mit ihr hat und fünfzig Prozent von solchen, die sie mit ihm hat. Das ist natürlich nur geschätzt.


Diese Geschichte hier wird zwar von ihm - Dr. Michael Schneider - erzählt, aber sie handelt überwiegend vom weiblichen Teil unserer Bevölkerung, der ihm oft sagt, was gut für ihn ist. Er leidet nicht, ist auch nicht unglücklich, glaubt manchmal sogar, dass er trotzdem selbst entschieden hat, aber er hat schon längst gemerkt, dass im Prinzip es nie so kommt, wie er es geplant und sich vorgenommen hatte.

Dr. Michael Schneider hat eine kleine Behinderung: Er hat Mühe, sich zu entscheiden. Und er hat das wunderbare, spezielle Talent, in alle Fettnäpfchen zu treten, die sich ihm in den Weg stellen. Dieser Dr. (Onkel) Micha, beliebter Arzt auf einer Kinderstation der Charité, lernt zu seinem Vergnügen und ganz zufällig eine junge Landfrau kennen.

Diese Frau betört den etwas älteren Mann, der eigentlich vom Leben nichts Großartiges mehr erwartet und bringt ihn dazu, sein Leben völlig umzukrempeln.

Die Geschichte ist nichts Besonderes! So wie unser aller Leben sehr selten den Anflug von etwas Außergewöhnlichem hat. Wir haben in dieser Geschichte Anteil am Leben von ein paar Menschen, erleben Glück und Unglück mit und erkennen uns vielleicht im einen oder anderen wieder. Mehr nicht. Von allem etwas: Unterhaltung, Anteilnahme, Vergnügen und Mitgefühl; und einige „schlaue“ Zwischenbemerkungen.

Treten Sie ruhig ein, Sie werden´s erleben!!

Begehren hat´s eilig, Liebe wächst langsam!

Teil 1 Ein schöner Beginn

erzählt von Veit Friedland


Kapitel 1 Ein schöner Beginn

Ein schöner Beginn / Drei sonnige Tage

Ein schöner Beginn

Ich kenne den Satz: Wollte ich Gott zum Lachen bringen, dann soll ich ihm von meinen Plänen erzählen.

Manchmal begegnet uns ein riesiger, stinkender Jauchewagen, der dann ein ganzes Leben völlig verändert. Aber ich erzähle besser der Reihe nach: Selbst wenn man eine gewisse Altersreife erlangt hat, kann man nicht sicher sein, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen und alle Dummheiten zu vermeiden.

Ich hatte mir zum Beispiel gerade spontan ein nagelneues Cabrio gekauft, keines von der Sorte, mit der man der Damenwelt Potenz vermitteln kann. Ich konnte und wollte mir nur ein kleines, preiswertes aus Japan leisten, bei dem man das Verdeck noch von Hand bewegt. Es durfte kein Vermögen kosten, weil ich nicht vorhersagen konnte, wie lange ich daran Vergnügen finden würde. Viele Konjunktive!

Aber es war schon eine verrückte Idee, mir so ein Autochen anzuschaffen. Fast täglich komme ich an dem Autoladen vorbei, noch nie haben mich die hochglanzpolierten Autos interessiert, die hinter den Scheiben im Scheinwerferglanz funkeln. Diesmal hatten die cleveren Verkäufer die ersten warmen Frühlingstage genutzt und das kleine rote Cabrio vor die Tür gestellt. Und ich habe mich verführen lassen. Ich habe mich hineingezwängt und mich prompt verliebt. Wir waren uns in dem Laden schnell handelseinig. Ich wusste, bei langem Nachdenken und Abwägen hätte bei mir wieder die Vernunft gesiegt. Ich wollte es mir aber einmal gönnen, völlig unvernünftig zu sein, aus Spaß und Dollerei und ganz aus dem Bauch heraus! Ich wollte vergessen, dass ich mich ganz langsam der Sechzig näherte und entdeckte voller Vergnügen bei mir die Lebenslust eines Zwanzigjährigen, war das normal?

Meine beiden Kinder hatten sich gerade abgeseilt und praktizierten Abnabelung von den Altvorderen. Das ist schließlich das normalste von der Welt, wenn man über zwanzig ist. Meine Frau hatte sich ihnen angeschlossen und wollte auch probieren, wie sie alleine zurechtkam: „Ich muss mich endlich selbst verwirklichen. Bisher war ich doch nur für euch da, eure Magd, die euren Dreck nachräumen durfte. Damit ist jetzt endlich Schluss!” Die Rede hat noch etwa eine Stunde gedauert, dann hoffte sie, dass ich endlich begriffen hatte, wie sie sich unsere und ihre Zukunft vorstellt.

Sie war in ihren alten Beruf zurückgegangen, als Lehrerin für Naturwissenschaften, vor allem in Mathe war sie ziemlich gut. Und da diese Sorte Lehrer am „Markt“ knapp ist, war es für sie kein Problem, auch nach langer Abwesenheit, wieder eine Anstellung zu bekommen. Und sie hatte sich zur Demonstration ihrer Unabhängigkeit eine eigene kleine Wohnung gemietet. Mich beschlich die Vermutung, dass sie das alles von langer Hand vorbereitet hat.

Mein ganzes Leben lang hatte ich mir viel Mühe gegeben, ein ordentlicher, verlässlicher, verantwortungsvoller, treusorgender und was noch alles Mensch zu sein und plötzlich ist das alles wertlos. Der Putz rieselt von der Fassade, und ich frage mich, ob sich all die lebenslange Mühe gelohnt hat. Ich wollte doch wenigstens diese Fassade ansehnlich halten.

Ich habe es gerade mal zum Oberarzt in der Charité gebracht, einer unter vielen. Ich sehe mir täglich all das Elend in den Krankenzimmern an und versuche mehr und mehr, es nicht zu dicht an mich heran zu lassen. Aber das gelingt immer seltener, die Haut wird dünner. Die Familie braucht mich nicht mehr so richtig. Höchstens noch als Dukatenscheißer; ihre Seelen wärmen sie nun anderswo.

Und dann passiert es: als ob dir jemand eine eingefärbte Brille von der Nase nimmt, und du siehst die Dinge wie sie sind. Und mir grauste!

Die Nachrichten, die täglich ins Haus schwappen, über einstürzende Häuser, heftige Winde, Überschwemmungen, Tote am Hindukusch und anderswo, über Menschen, die aus Frust, Überzeugung oder Spaß andere umbringen und was alles sonst so täglich berichtenswert ist; all das betrifft mich nicht und verdirbt mir trotzdem die Laune. Und um das Klagelied zu vollenden, betrachtest du auch noch dein eigenes Leben. Und du stellst fest, so berauschend ist das im Ergebnis auch nicht! Alles ist relativ und hängt am seidenen Faden. Einen Jugendfreund haben wir neulich zu Grabe getragen und der hatte noch soviel vor; frisch geschieden hatte er so ´ne richtig Nette kennengelernt. Beneidenswert, und dann kam dieses „Plötzlich und unerwartet“.

Auch ich hatte mein Leben geplant, aber, um ehrlich zu sein, viel ist davon nicht übrig geblieben. Gut, ich bin Arzt geworden, habe nach langem Anlauf auch noch promoviert, habe irgendwann geheiratet und zwei Kinder gezeugt.

Gelegentlich war ich auch schon mal im siebenten Himmel und bin doch immer wieder hart gelandet. Nun hocke ich in meinen vier Wänden und sehe zu, wie mir die Felle davon schwimmen.

Aber das kann´s doch nicht gewesen sein.

Zuerst hatte mich dieses, für mich unvorbereitete, Verlassenwerden deprimiert. Aber allmählich fange ich an, die neugewonnene Freiheit zu genießen und der Trennung auch positive Aspekte abzugewinnen. Mir ist endlich wieder die Frage eingefallen, die wichtiger als die Warumfrage ist:

 

Wozu soll das gut sein?

Der bisherige, fröhliche Höhepunkt meiner eigenen emanzipatorischen Bemühungen ist die Anschaffung dieses offenen Wagens. Der stellt mir Vergnügen und so etwas wie Freiheit in Aussicht, von der ich, ehrlich gesagt, noch keine endgültige Vorstellung habe.

Die Vorhersage verspricht, dass das Wetter sommerlich warm werden soll und so habe ich mich mit dem Wägelchen zu einem ersten Ausflug an die Ostsee aufgemacht. Ich klemme mit meinen langen einsfünfundachtzig in der kleinen Schachtel und freue mich des Lebens. Im noch kleineren Kofferraum habe ich einen winzigen Koffer untergebracht, mit dem Nötigsten für ein Wochenende.

Die Sonne ist gerade aufgegangen, und ich bin schon fast aus der Stadt heraus. Es macht mir Spaß, mit dem wehenden Rest meiner schütteren Haupthaare durchs Land zu fahren. Die Sonne bescheint mich von rechts und wärmt diese Seite sogar schon etwas, auf der linken friere ich.

Auf den Feldern hängen in den Mulden Nebelschwaden. Über den Äckern kreisen Raubvögel und halten Ausschau nach unvorsichtigen Mäusen. Ich genieße erstaunt den Duft des Morgens. Diesen feuchten, erdigen Geruch hatte ich in meiner Limousine mit Klimaanlage noch nie so intensiv wahrgenommen. Ich bin allerdings auch noch nie so früh am Morgen durch die Landschaft gefahren.

Ich muss jetzt das Tempo reduzieren, denn die Alleebäume zerhacken das Sonnenlicht so rhythmisch, dass mir schwindlig wird. Die kleinen Orte, durch die ich fahre, haben zum Teil noch immer schlechte Straßen und rütteln mich kräftig durch, so dass mein Tempo schon aus Gründen der Selbsterhaltung immer langsamer wird.


Gelegentlich fahren Traktoren mit riesigen Landmaschinen vor mir her und bringen mich dann fast vollends zum Stehen. So sieht also die Wirklichkeit aus! In der Werbung brausen die hübschen Kerle immer in ihren Luxuscabrios auf sanft geschwungenen Straßen am Meer entlang. Sie haben keine Mühe, eine Hand auf dem Knie einer entzückenden Frau zu haben, die auf dem Nachbarsitz mit einem Glas Sekt in der Hand... oder so ähnlich!

Ich schleiche jetzt hinter einem Jauchesprenger her.

Er nimmt die ganze Straßenbreite ein und aus seinem dicken Schlauchanschluss tropft heftig eine Spur ungewohnter, flüssiger Landluft. Es wäre völlig zwecklos, am Auto die Lüftung zu schließen, im Cabrio bekommt man Gutes und Schlechtes unvermittelt mit. Ich beschließe deshalb, am Ortsausgang anzuhalten und dem anderen einen Vorsprung zu geben.

Ich rechne fest damit, dass er bald auf irgendeines der Felder abbiegen wird, um dort den verbliebenen Rest seiner stinkenden Ladung auszubreiten. Und während ich mir zwischenzeitlich im Radio einen neuen Sender suche, spricht mich von der Seite eine bettelnde Frauenstimme an: „Macht es Ihnen etwas aus, mich ein kleines Stück mitzunehmen?” Als ich mich ihr zuwende, sehe ich neben mir ein knabenähnliches Wesen, nicht mehr ganz jung, mit kurzen Haaren, ungeschminkt, braungebrannt, in derben Hosen und vermutlich ebensolchen Schuhen aber mit einem Hemdchen, das Weibliches erahnen lässt.

Drei sonnige Tage

Ich lade sie mit einer knappen Geste ein; sie lässt sich in den Nachbarsitz fallen und schnallt sich an. Ich kontrolliere das mit einem schnellen Blick und sehe, dass sie den Gurt zwischen ihre wohlgeformten, nicht all zu großen Brüste gelegt hat und dass sie keinen Büstenhalter trägt. Wir Männer brauchen für solche Beobachtungen nur Millisekunden.

Nur kann ich mir in ihren Händen kein Sektglas vorstellen, ein Bierkrug würde eher passen. Ich erkläre ihr die Sache mit dem Jauchesprenger und warum ich angehalten habe, und sie lacht schallend: „Ach, ihr Städter, ihr seid auch nichts Gutes mehr gewöhnt!“ Sie will nur zwei Dörfer weiter, dort muss sie zur Sparkasse. „Sonst gibt es weit und breit keine Banken mehr.“

Jetzt hält sie mir einen Vortrag, wie mühsam es heutzutage auf dem Lande ist, und wenn man irgendetwas braucht, sind die Wege weit. Auf einem Dorf gibt es nur noch Arbeit, wenn es überhaupt welche gibt.

„Ich fürchte mich davor, dass es mir geht wie meiner Mutter. Das Leben rauscht an mir vorbei und plötzlich bin ich alt und schrumplig. Und auf meinem Grabstein steht dann, dass ich ein tüchtiges, pflichterfülltes Mädchen war.”

Sie klingt immer mutloser aber auch ein wenig rebellisch. Noch bevor wir die Sparkasse erreichen, packt mich vollends der Übermut, angestiftet durch eine Prise Mitleid, und ich lade sie ein, mit mir einen Tag an die Ostsee zu fahren: „Nur zum Faulenzen, zum guten Essen, Sonnenbaden, vielleicht auch Tanzen und womit man sich den Tag so vertreibt, wäre das nicht mal ´ne schöne Abwechslung, um aus dem alltäglichen Trott herauszukommen?”. Sie lehnt sofort ab: „Das kann ich meinen Leuten nicht antun und wie sehe ich aus, wie ein Bauerntrampel und außerdem habe ich überhaupt nichts mit.”

Die Argumente stimmen objektiv, aber die Absage ist halbherzig, denn all diese Probleme ließen sich leicht aus der Welt schaffen. Ich schlage ihr vor: „Gehen Sie jetzt erstmal zur Bank, dann rufen Sie Ihre Leute an und hören sich an, was die zu sagen haben. In der nächsten Stadt können wir ein paar schicke Sachen einkaufen und die üblichen Übernachtungs-Utensilien und eine geräumige Tasche; ich kann Ihnen finanziell behilflich sein.”

Man kann fast zuhören, wie es in ihr arbeitet.

Ich hake nach: „Am Sonntag Nachmittag sind wir ja wieder zurück, es besteht also kein Grund zur Panik.” Sie wird schweigsam und beißt sich auf die Lippe.

Als sie dann wieder aus der Bank herauskommt, stellt sie sich vor mir auf, sieht mich trotzig und mutig an und sagt wild entschlossen: „Ich fahre mit, wir machen es so, wie du es vorgeschlagen hast!“ Als ich sie so vor mir stehen sehe, in ihrer bäuerlichen Aufmachung, mit ihrer burschikosen Deftigkeit, kommen in mir von ganz weit drinnen Zweifel, ob mein spontaner Vorschlag wirklich so gut war. Ich hatte einmal einen Kursus über „Die Folgen einer Handlung” mitgemacht. Seit dem bin ich eigentlich zögerlicher geworden. An der nächsten Telefonzelle ruft sie zu Hause an und löst offensichtlich bei ihren Leuten blankes Entsetzen aus. Als sie zurück zum Wagen kommt, kann ich ihr ansehen, wie sie ihren Entschluss schon fast bereut.

Dann gewinnt bei ihr der Trotz die Oberhand und sie sagt ein wenig zu laut: „Es bleibt dabei!“ Genaugenommen sind wir beide gerade in einer sehr ähnlichen Lage: Wir sind für einen Moment aus unserem Tretrad, aus unserer täglichen Einförmigkeit ausgestiegen. Wir könnten uns jetzt für zwei Tage aus allen Bindungen lösen und würden wenigstens für eine kurze Zeit nur für uns da sein. Wir könnten doch wenigstens mal Freiheit schnuppern. Es könnte wie eine Befreiung aus einem Käfig sein, an dessen Errichtung wir nicht ganz unschuldig sind. Sie setzt sich mit Schwung wieder neben mich, verschränkt ihre Arme hinter dem Kopf und gibt das Kommando: „Nun fahr schon!“

Inzwischen ist es warmer Vormittag, und der Fahrtwind ist jetzt sehr angenehm. Nicht allzu schnell rollen wir fast ungehindert zwischen Alleebäumen dahin, wie in einem hellen Tunnel. Wir machen erst in der Stadt kurz vor der Küste wieder halt, um ein paar nötigste Dinge zu besorgen und für sie sommerliche Kleidung auszusuchen. Als wir alles beisammen haben, ist es Nachmittag.

Sie sieht immer noch burschikos aus, aber sie hat einen Hauch von mädchenhafter Anmut. Man kann ihr ansehen, dass sie viel an der frischen Luft ist, denn Gesicht und Arme sind braungebrannt, Beine und Dekolleté dagegen von zarter Blässe. Ihre Arbeitsschuhe hat sie gegen ein Paar leichte Sandalen gewechselt, die ihre kräftigen Füße kaum fassen. Wir können machen was wir wollen: Sie verwandelt sich auch in ihrer neuen Verkleidung nicht vom Aschenputtel in die zierliche Prinzessin. Ihr hätte der bekannte Prüf-Pantoffel nicht gepasst. Aber sie hat etwas in ihrer Art, das mich in ihren Bann zieht: In ihr steckt eine natürliche, ungezierte, herzhafte, leichtsinnige, Vertrautheit schaffende Fröhlichkeit. Ich lasse mich von ihr anstecken.

An unserem Ziel angekommen, stellen wir das Auto oberhalb des Strandes ab, ziehen unsere Schuhe aus und tollen hinunter ans Wasser. Waten durch die heranrollenden Wellen und juchzen aus vollen Hälsen gegen den Wind. Nichts erwachsenes ist mehr an uns, wir rennen und planschen wie unbekümmerte Kinder. Völlig außer Atem, halten wir an, fassen uns an den Händen und sehen hinaus in die Weite, bis hin zum fernen, dunstigen Horizont. Und wir fühlen eine Prise Glück. Eine ganze Weile stehen wir schweigend da und rücken immer näher aneinander.

Aber es hilft alles nichts, die Sonne steht schon tief und wir haben noch keine Unterkunft. Wir laufen also zurück zum Auto und begeben uns auf Quartiersuche.

Erst beim dritten Versuch finden wir in einem kleinen Hotel zwei Einzelzimmer. Hier können wir auch zu Abend essen. Direkt über dem Strand. Auf einer über die Dünen vorgebauten Terrasse, wollen wir bei einem ausgiebigen Mahl den ersten Abend beenden. Wir lassen uns Plätze reservieren, ganz vorne, hinter den gläsernen Windabweisern.

Nachdem das geklärt ist, machen wir noch einen kleinen Erkundungs-Gang durch´s Städtchen. Wir erzählen uns voneinander, um uns ein wenig kennenzulernen. Ich erfahre von ihr, dass sie bisher nur eine einzige weite Reise gemacht hat: sie war mal in den Dolomiten. Natürlich nach der „Wende“. Dann fällt ihr ein: „Als ich noch nicht zur Schule ging, war ich mit meinen Eltern mal in Ungarn im Balaton; aber daran kann ich mich kaum noch erinnern. Es war nie einfach, einen Ferienplatz zu bekommen.”

Nach der Wende hatten sie ihren Hof von der LPG zurückerhalten, auch die dazugehörigen Äcker, und ab da gab es nur noch Arbeit. Das ganze, mühsam gesparte Geld ging für Hausreparaturen und Geräteanschaffungen drauf.

„Was ich jetzt gerade hier mache, ist für meine Eltern unvorstellbar, sie rechnen vermutlich damit, dass sie ihre Tochter nicht mehr lebend wiedersehen.” Sie lacht laut auf.

Was für ein herrliches Weib!

Ich finde es schade, wie sie ihr Leben auf dem Hof ihrer Eltern verbringen muss. Es scheint mir perspektivlos und fürchterlich eintönig, aber wenn ich mein Leben bedenke, sieht´s da auch nicht besonders abwechslungsreich aus. Also sollte ich wohl etwas behutsamer urteilen!

Die Luft wird kühler, der Tag schickt sich wieder an, der Nacht zu weichen.

Wir machen uns auf den Rückweg und halten nur noch einmal, als wir an den Auslagen einer Bildergalerie vorbeikommen. Ein Maler hat den selben Sonnenuntergang in vier verschiedenen Größen gemalt und im Geschäft hängt an einer Wand noch ein fünfter, riesiger, wandfüllender Ölschinken mit diesem Sonnenuntergang: Wellen mit Schaumkronen, zerrissene Wolkenfetzen und eine halbe, glutrote Sonne, die dabei ist, im Meer zu versinken. Rot, Schwarz, etwas Ocker und Violett. Wieviele mögen davon noch im Lager sein? Wir sind auf den heutigen Sonnenuntergang zum Abendessen gespannt. Die Bilder haben uns vorgewarnt.

Ich kaufe noch ein paar Postkarten und Briefmarken, um einige neidisch machende Grüße an die Daheimgebliebenen zu schicken. Am liebsten hätte ich ja eine Postkarte, mit mir, dem Cabriofahrer, vor untergehender, glutroter Sonne am Meer.

Wir kommen gerade zurecht, um uns noch auf dem Zimmer frisch zu machen und treffen dann pünktlich zum roten Himmelsschauspiel auf der Terrasse ein. Wir sitzen windgeschützt, werden von einem Strahler erwärmt und genießen den gemeinsamen Abend. Wir bestellen uns die wirklich fangfrischen Meeresfrüchte, trinken einen trockenen Riesling und erleben den Sonnenuntergang so ähnlich, wie vom Maler dargestellt. Die Natur kann wunderbar kitschig sein!

Der Nachtisch, der Mokka und der Absacker verlängern den Abend und bringen uns beide in eine gelöste Stimmung; wirklich gelöst, frei von allen Fesseln, die sich so im Leben unvermeidlich um uns gelegt hatten. Manchmal mischen sich Gedanken ein, die mich erinnern, dass ich ein wenig der Vater dieser jungen Frau sein könnte. Ich bin gelegentlich mein eigener Spielverderber.

Nachdem wir gezahlt haben, schlage ich ihr vor, noch einmal ans Wasser zu gehen. Wind und Meer haben sich beruhigt, eine leichte Dünung läuft den flachen Sandstrand herauf und verschwindet wieder in der Dunkelheit. Wir haben uns an den Händen gefasst. Ich ermuntere sie: „Kann ich dich überreden? Wollen wir das Wasser ausprobieren und nächtlich baden gehen? Traust du dich?” Jetzt wird es offenbar, wir haben vorhin vergessen, ihr einen Badeanzug zu kaufen und auch meine Badesachen liegen oben im Koffer.

 

Meine Füße stehen schon im Wasser. Es fühlt sich kühl an. Aber ich werde mutig und verwegen und rufe: „Egal!“ und ziehe mich aus. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll; als ich aber nackt vor ihr stehe und bereit bin, ins Wasser zu gehen, murmelt sie etwas verschämt: „Warte!“ und lässt in großer Eile ihre Hüllen fallen. Es ist dunkel und so hofft sie wohl, unerkannt zu bleiben. Sieh mal an, diese Dorfschönen sind etwas keuscher als wir Stadtmenschen, das habe ich nicht erwartet.

Meine Augen haben sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und im schwachen Mondlicht kann ich mehr ahnen als sehen, dass sie einen schönen, ebenmäßigen, kräftigen Körper hat. Wir fassen uns an den Händen und rennen wild entschlossen ins Wasser. Für einen Augenblick verschlägt uns die Kälte den Atem. Ich halte an, ziehe sie zu mir, umarme sie, drücke sie fest an mich und frage scheinheilig: „Ist es so etwas wärmer?“ Leider löst sie sich wieder aus meiner Umklammerung und schwimmt fast geräuschlos hinaus in die Dunkelheit. Ich rufe sie, bettele: „Komm doch zurück! Ehe ein Unglück geschieht, wie soll ich dich denn in der Dunkelheit retten. Und denk daran, jetzt beißen die Fische besonders wild, ganz besonders die großen!“ Ich höre nichts mehr von ihr und bin in großer Sorge. Plötzlich umklammert sie mich von hinten und ich bin einem Herzstillstand sehr nahe. Welche Verführung, welcher Reiz geht von dieser jungen, herben Frau aus. Und wie vertraut wir uns schon sind.

Als wir aus dem Wasser kommen, prickelt das Blut unter der Haut wie Schaumwein und erwärmt uns schnell wieder. Da wir auch keine Handtücher mithaben, müssen wir uns einen Augenblick lufttrocknen lassen.

Fast gleichzeitig umfassen wir uns und schmiegen uns eng aneinander. Ein wunderschönes Gefühl, mit dem zusätzlichen Kribble des Heimlichen, der Gefahr des Entdecktwerdens.

Vorhin noch, an diesem Morgen, hat sich keiner erträumen können, was uns hier am Abend widerfährt. Wir küssen uns zum ersten Mal und sind fast von Sinnen.

Wir nehmen unsere Sachen und rennen zu einem der Strandkörbe. Jemand hat vergessen, sein Gatter zu montieren. Wir lassen uns hineinfallen. Keiner will den anderen wieder loslassen, wir könnten uns in dieser Dunkelheit ja verlieren. Wir verlieren uns dann restlos ineinander, verlieren jede Scham, jede Zurückhaltung, jeden Vorbehalt, jede Kontrolle und am Ende den Verstand.

Warum sind gerade diese Augenblicke die schönsten in einem Menschenleben? Nämlich dann, wenn wir uns völlig vergessen, nur noch fühlen und gefühlt werden, gerade dann erleben wir totale Erfüllung.

Sie sitzt auf mir und ist behutsam wie eine Erfahrene; die Wilde hat sich in eine Sanfte verwandelt. Die Knospen ihrer Brüste streicheln mich und zwei Hände reichen nicht, um all die schmeichelnden Wunder zu umfassen.

Als wir spät zum Hotel zurückkommen, versuchen wir auszusehen wie zwei Unschuldslämmer, blinzeln ins helle Licht und sind wieder fast korrekt gekleidet. Wo wir stehen, wird es etwas sandig unter uns, aber das kennt man hier oben am Meer. Wir verabschieden uns vor ihrer Zimmertür, wünschen uns eine gute Nacht und haben uns fest vorgenommen, auszuschlafen!

Es dauert keine Viertelstunde, und es ist schon weit nach Mitternacht, als es an meiner Tür klopft. Was ist denn passiert? Langsam öffnet sich die Zimmertür und eine piepsige Stimme bettelt: „Lass mich heute Nacht nicht allein.” Und sie kriecht, ohne lange zu fackeln, unter meine Decke. Ich merke erst jetzt, dass sie sich ihr neues Nachthemd ausgezogen hat. Und so verbringen wir unvermeidlich eine relativ schlaflose, aufregende Nacht. Einerseits sind wir beide keine Anfänger in Liebesdingen, andererseits ist es beglückend, was es am anderen nach langer Enthaltsamkeit wieder alles zu entdecken gibt. Claudia liebt geräuschvoll und so ist es für mich ein Leichtes, herauszufinden, wo es ihr besonders gut tut. Ich koste Sonne und Salz auf ihrer Haut und atme ihren Duft. Wir sind wie im Rausch.

Die Bibel sagt: Und sie erkannten sich! Ja, das trifft es! Wir erkennen uns vollständig und mit allen Sinnen. Als wir nach kurzem Schlaf endlich erwachen, ist es schon warmer Morgen. Wir verabreden uns zum Frühstück und sie huscht vorsichtig in ihr Zimmer, um sich ausgehfein zu machen.

Kuscheln ist doch die schönste Unterhaltung der Welt. Es gibt nur weniges, das alle Sinne so zu beschäftigen weiß. Und wir kosten es weidlich aus. Zwar kaufen wir ihr noch einen schönen, dunkelblauen Badeanzug, aber ins Wasser kommen wir damit nicht mehr. Die Postkarten bleiben unbeschrieben, das schöne Cabrio versandet etwas, dafür sind der Tag und die folgende Nacht reinstes Vergnügen.

Darüber vergessen wir allerdings das Essengehen nicht, denn auch die fangfrischen Fische gehören zu einem vollkommenen Vergnügen am Meer, vor allem, wenn sie ein kochender Könner beim Wickel hat. Sie sind ein Hochgenuss.

Dieses Wochenende würde für uns beide unvergesslich bleiben, darin waren wir uns jetzt schon einig. Was wäre geworden, wenn der Jauchewagen in diesem Dorf nicht vor mir hergefahren wäre oder ich hätte ihn überholen können? Was wäre wenn?

So wie es kommt, ist es schon meistens richtig. Aber auch die schönste Zeit findet einmal ihr Ende, leider! Am Sonntag Nachmittag bringe ich sie nach Hause. Sie verwandelt sich wieder in eine Landfrau. Die neuen Sachen stopft sie in eine Tüte und will die ersteinmal auf dem Hof verstecken.

Sie hofft, dass ihr das gelingen wird, bevor der Hund sein Freudengeheul anstimmt und sie verrät. Ihre Eltern sollen sie unverändert wiedererkennen können. Alles würde sein, als wäre nichts geschehen. Der Alltag nimmt uns so schnell wieder in die Pflicht, dass wir uns kaum wehren können. Was bleibt, ist das Paradies der Erinnerungen, unzerstörbar.

Wir versprechen uns, einander zu schreiben.

Der Alltag hat auch mich wieder. Der sommerliche Ausflug ist schon bald Vergangenheit. Ich habe mein rotes Cabrio noch vier Monate gefahren. Als die regnerische Zeit begann, habe ich es mit etwas Verlust verkauft. Bereut habe ich nichts.

Man muss nicht frei sein, es genügt, sich frei zu fühlen. Und ich konnte, wenn ich nur wollte!

Aber etwas bleibt in der Luft hängen, ist unentschieden. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Wochenende nur ein schönes Sommervergnügen war, wie es sie gelegentlich gibt oder ob ich eine Fortsetzung riskieren sollte und ob die überhaupt wünschenswert und letztendlich zukunftsträchtig ist. Ich will ersteinmal ein wenig zuwarten, klären lassen, die Sache aus etwas Distanz betrachten.

Verstand und Bauch sind in heftiger Diskussion miteinander. Bisher ist es unentschieden.

Meine Noch-Ehefrau spielt mit dem Gedanken, sich gegebenenfalls doch scheiden zu lassen. Sie hat mir klar gemacht, dass sie eindeutige Verhältnisse liebt. Sie sei Mathematikerin und da ist immer eins und eins gleich zwei und auf keinen Fall um die zwei! Ungenauigkeiten sind ihr zuwider! Auch gut! Ein Arzt kann sich niemals sicher sein, da kann eins und eins auch schon mal fünf sein, und es gibt dafür nichteinmal eine einleuchtende Erklärung.

Ich bin also zur Zeit mit Ordnung machen ganz schön beschäftigt. Gezwungenermaßen! Leider habe ich bei all dem Stress irgendwann den Zettel mit Claudias Anschrift und Rufnummer verbummelt. Vermutlich habe ich ihn mit viel Logik an einen passenden Ort gelegt, um ihn jederzeit wiederzufinden.

Aber nun ist der ersteinmal weg!