Final Game

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Aus der Reihe: Five Dogs #5
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Final Game
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Valuta Tomas

Final Game

Was am Ende bleibt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Round 14

Round 15

Round 16

Round 17

Round 18

Round 19

Round 20

Round 21

Round 22

Round 23

Round 24

Round 25

Round 26

Round 27

Round 28

Round 29

Round 30

Epilog

Impressum neobooks

Round 14

»Sam.« Lauras Stimme peitscht über den perfekt gebohnerten Krankenhausboden, erreicht die Südländerin aber nicht. Sam steht nur zwei Schritte von den geschlossenen Flügeltüren entfernt, die in den OP Bereich des Krankenhauses führen und hat ihre Arme eng um sich selbst geschlungen. Sie zittert.

Kaum kommt Laura neben ihrer Freundin zum Stehen, öffnen sich die Flügeltüren. Einer dieser Götter in weiß taucht auf. Sam schaut ihn an und fragt sich, wie man als anständiger Mann mit einigermaßen vernünftigem Verstand solch einen Bart tragen kann. Das Ding ist ein Schenkelkitzler, mehr nicht. Vorteilhaft aussehen und den Mann ansehnlich wirken lassen tut das Teil echt nicht. Mal ganz abgesehen von dem riesengroßen Hubschrauberlandeplatz auf seinem Kopf.

Sam neigt ihren Kopf und betrachtet das gebotene Bild skeptisch. Sie sieht wie der gute Mann mit ihr redet, macht sich allerdings noch immer über sein Aussehen Gedanken. Wie kann man so nur auf die Straße gehen?

Seine Augen sind direkt auf sie gerichtet. Sein Mund bewegt sich. Hin und wieder schaut er zu Laura hinüber, richtet seine Aufmerksamkeit allerdings hauptsächlich auf Sam. Werden seine Kinder später etwa genauso gruselig aussehen wie er? Sam weiß schon weshalb sie nicht auf Männer steht. So ein Hufeisen im Gesicht ist echt nicht schön. Und dann beim küssen davon auch noch gepikst zu werden, muss sie wirklich nicht haben.

»Wissen Sie ob Ihre Frau eine Patientenverfügung eingerichtet hat?« Oh Gott, selbst seine Stimme ist der reinste Wahnsinn.

»Sam.« Laura legt eine Hand auf Sams Schulter und versucht sie somit zu einer Antwort zu animieren. Wer will denn mit so einem Mann ins Bett steigen, der eine Stimme wie Bernd das Brot hat? Wer tut sich sowas freiwillig an?

»Entschuldigen Sie bitte«, entschuldigt sich Laura bei dem Arzt. Sam reagiert nicht. Sie betrachtet den Arzt noch immer völlig fasziniert.

»Misses Stewart-Sanchez hat erst heute Morgen eine Patientenverfügung aufgesetzt. Meine Frau besorgt diese gerade und müsste jeden Augenblick hier eintreffen.« Bestätigend nickt der Arzt und schaut zu Sam zurück.

»Sofern nichts anderes in der Verfügung vermerkt ist, werden wir bis zum Eintreffen unserer Verpflichtung nachgehen und sie soweit halten wie es uns möglich ist.« Wie mag sich der gute Mann wohl anhören wenn er zum Orgasmus kommt? Das klingt sicherlich urig.

Mit einem letzten und irgendwie besorgten Blick zu Laura zurück, huscht er gleich darauf durch die Flügeltüren zurück. Ist auch besser so, sonst würde Sam wahrscheinlich noch in einen Lachflash ausbrechen. Wie kann man sich morgens im Spiegel anschauen und mit dem gebotenen Bild zufrieden sein?

»Sam.« Laura taucht vor Sams Augen auf. Besorgt schaut sie sie an. Sam reagiert nicht. Sie fragt sich wie man mit diesem Teppich im Gesicht nur aus dem Haus gehen kann.

»Sam!« Laura packt ihre Freundin an den Armen und zwingt sie somit sie anzusehen. Sam blinzelt kurz und betrachtet ihre Freundin. Sie sieht Tränen in ihren Augen. Musste sie sich etwa bei dem Anblick des Arztes beherrschen, nur um seinen armseligen Anblick nicht zu beweinen?

Mit einem Schlag fallen Sam ihre Kinder ein.

»Precious? Jean? Geht es ihnen gut? Wo sind sie?« Besorgt dreht sich Sam um und sucht den Flur nach ihren Kindern ab.

»Sam!« Laura packt ihre Freundin etwas härter und dreht sie zu sich zurück.

»Es geht ihnen gut. Sie sind bei Matt und Jill.« Verständnislos schaut Laura sie an.

»Sam, hast du eben nicht zugehört? Hast du nicht verstanden was der Arzt gesagt hat?« Skeptisch zieht Sam den Kopf zurück. Schnippisch lacht sie.

»Natürlich habe ich zugehört. Es ging um Neves Patientenverfügung.«

»Nein Sam, nein. Der Arzt … .« Mit einem kurzen Ping hält der Aufzug auf dieser Etage. Rauschend öffnen sich die Türen. Als ob sie jemand schubsen würde, stürzt Jessica aus der kleinen Blechbüchse. Sie rennt zu ihren Freundinnen und kommt schwer atmend neben ihnen zum Stehen.

»Wisst ihr was Neues? Wie geht es ihr?«, keucht sie schwer. Sie scheint durch ganz San Francisco gerannt zu sein. Ihr läuft der Schweiß Literweise das Gesicht entlang. Laura schaut zu Sam zurück.

»Das versuche ich ihr gerade zu erklären.«

»Sam, Neve … .« Als wenn Jessica eine Packung frische Donuts mitgebracht hätte und das Krankenhauspersonal diese gewittert hat, öffnen sich hinter Laura die Flügeltüren erneut. Eine Krankenschwester taucht auf. Hektisch blickt sie zwischen den Frauen hin und her, bis ihre Aufmerksamkeit auf einen Briefumschlag in Jessicas Händen fällt.

»Ist das Misses Stewart-Sanchez' Patientenverfügung?« Bestätigend reicht Jessica der guten Frau den Umschlag, die damit auch sofort wieder hinter den Türen verschwindet. Laura konzentriert sich hingegen wieder auf ihre Freundin.

»Sam, der Arzt hat gesagt, dass sie durch die MRT Aufnahmen herausfinden konnten wie das Gift in Neves Körper gelangt.« Interessiert horcht Sam auf. Gebannt richtet sie ihre Augen auf ihre Freundin, auch wenn die das Gefühl hat, dass Sam Meilenweit neben sich steht.

»Ihr wurde so eine Art Stent eingesetzt. Ein Stent den es erst seit kurzem in der Medizin gibt. Er löst sich nach und nach von alleine auf. Allerdings ist dieser Stent mit einer Kohlenmonoxid und Methanolschicht überzogen. Durch den Auflösungsprozess konnten sich die Stoffe in Neves Körper verteilen, was sie somit vergiftete. Seit Wochen steckt dieses Ding in ihrem Körper ohne dass es entdeckt wurde.« Ein hoffnungsvolles Lächeln gleitet über Sams Lippen.

»Das ist doch gut, das sind gute Nachrichten. Dann brauchen sie das Teil nur herausholen und Neve wird wieder gesund.« Voller Vertrauen in die Fähigkeiten der Ärzte, blickt Sam zuversichtlich zwischen Jessica und Laura hin und her.

»Nein Sam, so leicht ist das nicht.« Laura zischt die Worte. Irgendwie wütend schaut sie zu Jessica hinüber.

»Verdammt, warum muss ich das machen?« Schnaufend wirft sie ihre roten Augen zu Sam zurück. Laura hat keine andere Möglichkeit. Sie war als einzige hier, als der Arzt erklärte was mit Neve geschieht. Jessica hat genauso wenig eine Ahnung wie Sam. Für sie sind die Worte ebenso neu.

Laura packt Sam erneut an den Armen und fordert sie auf sie anzusehen.

»Hör mir zu, Sam. Hör mir ganz genau zu.« Für einen kurzen Augenblick schließt Laura die Augen. Kontrolliert atmet sie schwer, öffnet die Augen und schaut ihre Freundin direkt an.

»Sam, es ist eine Art Stent der an Neves Aorta gelegt wurde, direkt hinter dem Herzen. Die Ärzte kommen da aber nicht ohne weiteres heran. Sie müssen …«, Laura schluckt schwer »sie müssen Neves Herz entfernen um an den Stent heranzukommen, verstehst du das? Sie müssen Neves Herz vollständig aus ihrem Körper nehmen damit sie an den Stent gelangen. Wenn sie den Stent entfernt haben, werden sie das Herz wieder einsetzen. Es gibt eine fünfzigprozentige Chance, dass ihr Herz danach wieder zu schlagen beginnt. Es kann sein, dass sie diesen Eingriff nicht überlebt, Sam.«

An Sams Augen kann Laura erkennen in welchen Schock sie ihre Freundin katapultiert hat. Dadurch kann sie sich aber auch sicher sein, dass Sam die Worte endlich verstanden hat. Dass ihr nun bewusst ist, welche Verantwortung auf die Ärzte zukommt. Was auf sie selbst zukommt, sollte Neve nicht mehr aufwachen.

Die ersten Tränen laufen geräuschlos über Sams Wangen. Ein besseres Zeichen, dass Sam die Tragweite dieser OP wahrgenommen hat, gibt es nicht.

»Wir haben uns gestritten, Laura. Wir haben uns gestritten. Wenn sie jetzt stirbt, dann ist mein wütendes Gesicht das letzte was sie von mir gesehen hat.« Weinend wechselt sie ihren Blick zwischen Laura und Jessica hin und her. Wortlos bittet sie die beiden, dass sie sich niemals streiten sollen. Dass sie niemals in einem Streit auseinandergehen sollen. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit, selbst für Sam und Neve. Dennoch haben sie sich gestritten und konnten das nicht klären, bevor Neve zusammengebrochen ist.

 

***

»Was stand denn in der Patientenverfügung?«, flüstert Laura leise, nur um Sam nicht zu erschrecken, die wie zerflossen in ihren schützenden Armen liegt. Seit Stunden sitzen die drei Frauen im Wartebereich dieser Etage und hoffen auf gute Nachrichten.

»Das wollt ihr nicht wissen«, murmelt Jessica in ihren Kaffeebecher. Sam schreckt auf. Fassungslos schaut sie ihre Freundin an. Die nimmt ihren Blick vom Kaffee, sieht Sam flüchtig an und taucht dann wieder in die unendlichen Tiefen des Koffeins ein.

»Das ist nicht wahr«, flüstert Sam entsetzt.

»Jessica, sag mir, dass das nicht wahr ist.« Nur um nicht antworten zu müssen, trinkt Jessica einen großen Schluck Kaffee. Sie trinkt bis der Kaffee auf ist. Skeptisch blickt sie danach in den leeren Becher. Irgendwo muss da doch noch etwas von dem Gesöff drin sein.

»Jessica!« Sams Stimme wird schärfer und fordernder. Unterlegen schnauft Jessica aus. Mit geschlossenen Augen lässt sie den Kopf hängen.

»Neve gab an, dass sie keine lebenserhaltenden Maßnahmen will.« Jetzt ist es raus. War doch gar nicht so schwer. Nein, nur unbeschreiblich schmerzhaft.

Mit einem Mal springt Sam vom Stuhl auf.

»Diese blöde Kuh«, brüllt sie wütend.

»Ich bringe sie um, wenn sie das überlebt. Ich drehe ihr den Hals um. Ich … ich … .«

»Jess, was hast du getan?« Abrupt verstummt Sam als Laura ihrer Frau diese Frage stellt.

Fast entsetzt blickt die ältere Frau zwischen ihren Freundinnen hin und her.

»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass Neves Verfügung den Ärzten da drinnen vorliegt, oder? Nein, ich habe das Ding natürlich gefälscht, was anderes blieb mir doch gar nicht übrig.« Ihren Blick richtet sie auf Sam. Sie weiß, dass ihre Freundin sie umgebracht hätte, wäre sie mit dem Original im Krankenhaus aufgeschlagen.

»Das ist doch aber gar nicht möglich. Wie hast du das angestellt?« Überrascht schaut Laura ihre Frau an. Jessica richtet sich auf. Mit einem Mal wird sie blass.

»Oh. Vor lauter Sorgen habe ich doch glatt etwas vergessen«, nuschelt sie und steht vom Platz auf.

»Bin gleich wieder da. Ich muss mich eben übergeben gehen.« Kaum schreitet Jessica an ihrer Frau vorbei, schaut die ihr entsetzt hinterher. Angewidert schluckt sie laut.

»Fuck.« Sie weiß grad selbst nicht ob sie kotzen muss, oder nicht.

Sam starrt ihre Freundin geschockt an. Sie hat Jessica einiges zugetraut, aber nicht das. Nicht, dass sie über ihren eigenen Schatten springt und das für ihre Freundin auf sich nimmt.

»Danke«, haucht Sam leise. Perplex schaut Laura sie an.

»Sag das nicht mir, sag das ihr«, stammelt sie und zeigt blind den Flur hinunter.

Wenige Minuten später plumpst Jessica in den Stuhl zurück. Erleichtert atmet sie aus, wird von Laura allerdings leicht angewidert angesehen. Als sie ihre Frau darauf ansprechen will, öffnen sich im selben Augenblick die Flügeltüren und der weiße Gott tritt heraus. Sofort ist Sam bei ihm. Sie ist sich nicht ganz sicher ob sie hören will was er zu sagen hat. Er sieht zu erschöpft und zu niedergeschlagen aus, als dass er mit guten Nachrichten kommen könnte.

»Misses Stewart-Sanchez, wir konnten den Stent erfolgreich entfernen, aber … .« Schon bei diesem einen Wort beginnt Sams Kreislauf durchzudrehen. Schwindel setzt ein, Übelkeit und Angst bauen sich langsam auf. Jessica haucht ein geschocktes »Nicht«, während Laura hörbar laut Luft holt.

»Aber wir werden Ihre Frau auf eine Spenderliste setzen müssen. Sie benötigt ein neues Herz. Alle unsere Versuche das Herz nach dem Einsetzen wieder zum Schlagen zu animieren, waren erfolglos. Auf Grund ihrer Vorgeschichte und ihrem geschwächten körperlichen Zustand, fehlt dem Herzen die nötige Kraft, um seine Arbeit aufnehmen zu können.« Nervös blickt der Arzt zwischen den Frauen hin und her, verweilt dann aber bei Sam.

»Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt und an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Alle Funktionen die eigentlich ihr Herz ausübt, übernimmt nun die Maschine für sie. So lange bis ein passendes Spenderherz eingetroffen ist. Wann das allerdings sein wird, kann ich ihnen leider nicht sagen.«

***

Zitternd blickt Sam durch die großzügige Fensterscheibe. Tränen erschweren eine klare Sicht auf ihre Frau. Dennoch kann sie all die Maschinen und andere Gegenstände um das Bett herum wahrnehmen. Es ist, als wenn sie in die Zeit zurückkatapultiert worden wäre. Zu der Zeit, als sie an Neves Bett wachte und darum bat, dass ihre Frau nach der Stromattacke wieder aufwacht.

Jetzt allerdings, befinden sich Maschinen um Neves Bett, die sie nicht kennt - die einer ganz anderen Funktion nachgehen. Maschinen die Neves Organe dazu animieren normal zu arbeiten – sie künstlich am Leben zu erhalten. Eine Herz-Lungen-Maschine die Neve am Leben hält.

Als wenn sie keinen Bock hätte ihren alten Cellulitis-Arsch zu bewegen und sich mit einem Nickerchen vor der Hausarbeit drückt, liegt Neve im Bett und stört sich nicht daran, dass unzählige Nadeln und Kanülen in ihren Körper gebohrt wurden, nur um deren Arbeit nachzugehen. Sie ist noch blasser als zuvor. Ihre Haut wirkt irgendwie bläulich. Ein Anblick den man niemandem wünscht.

Sam spürt, wie sich dieses Bild in ihr Gedächtnis brennt. Sie weiß, dass sie dieses niemals wieder vergessen wird.

»Warum?«, haucht sie leise.

»Warum Neve? Warum liegt sie schon wieder dort? Warum passiert das alles? Warum können wir nicht einfach in Ruhe leben?« Lauras Hand wandert beruhigend Sams Rücken rauf und runter. Erschöpft lehnt Sam die Stirn gegen die Scheibe. Ihre Augen liegen unermüdlich auf ihrer Frau.

»Sie ist tot, Laura. Neve - meine Frau liegt dort im Bett und ist tot.«

»Nein Sam, so darfst du das nicht sehen.«

»Doch, so sehe ich es aber. Genau so sehe ich es.« Mit aller Kraft die Sam noch aufbringen kann, richtet sie sich wieder auf.

»Ihr Herz hat in dem Moment aufgehört zu schlagen, als die Ärzte es aus ihrem Körper nahmen und hat danach nicht wieder angefangen. Das da …«, eine fast abwertende Kinnbewegung ins Zimmer folgt »ist nur die Arbeit von Maschinen. Nicht Neves Herz schlägt, sondern eine Maschine. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie wirklich sterben wollte. Dass sie tatsächlich die lebenserhaltenden Maßnahmen verweigerte. Wie konnte sie das nur tun? Hat sie überhaupt nachgedacht? Hat sie auch nur eine Sekunde an die Kinder oder mich gedacht?«

»Sam.« Laura greift nach dem Gesicht ihrer Freundin und dreht es zu sich. Noch nie hat sie solch eine Erschöpfung in Sams Augen gesehen. So vieles ist schon passiert, aber nichts davon hat Sam je so sehr mitgenommen, wie die Tatsache, dass Neve dort in diesem Zimmer liegt.

»Sam, du kennst Neve. Du weißt ganz genau weshalb sie nach Hunters Point abgehauen ist. Und du weißt auch, weshalb sie sich gegen diese Maßnahmen entschied. Sie will einfach nicht, dass du leidest. Dass du … .«

»Verdammt Laura.« Sams Stimme wird aufbrausend.

»Neve und ich haben das schon tausend Mal durchgekaut. Ich habe ihr gesagt, dass … .«

»Und dennoch war es ihr Wunsch«, bremst Laura ihre Freundin ab.

»Wer von Ihnen ist Jessica Campbell?« Alle drei Frauen drehen sich um, als eine Krankenschwester auf sie zukommt. Jessica macht einen Schritt vor.

»Ich. Wieso?« Die Krankenschwester tritt an ihre Seite und reicht ihr ein Klemmbrett auf dem sich unzählige Papiere befinden.

»Misses Stewart-Sanchez hat Sie in ihrer Patientenverfügung als Vormund angegeben. Ich benötige bitte noch ein paar Unterschriften von Ihnen.« Entsetzt reißt Jessica den Kopf herum. Fassungslos starrt sie Sam an, deren Augen bis ins unermessliche wachsen. Auch wenn dafür eigentlich kein Grund besteht, steigt Angst in Jessica auf. Hektisch schüttelt sie den Kopf.

»Das kann nicht sein. Da muss ein Fehler vorliegen.« Die Krankenschwester blättert einige der Papiere durch und schüttelt den Kopf.

»Nein, wenn sie Jessica Campbell sind, dann stimmt alles.« Jessica ist nicht in der Lage ihre Augen von Sam zu lassen. Die Südländerin kann nicht glauben was hier gerade passiert.

»Ich habe nichts damit zu tun, Sam. Ich wusste davon nichts. Wir haben nie darüber gesprochen.« Die Worte verlassen Jessicas Mund viel zu schnell und hektisch. Die ältere Frau beginnt sogar zu zittern.

»Misses Campbell, wenn ich kurz Ihre Aufmerksamkeit haben könnte«, reißt die Krankenschwester Jessica an sich. Benommen nimmt Jessica den Blick von Sam. Schon fast entsetzt starrt sie die Krankenschwester an, die in diesem Moment einen scheinbar eingeübten Text monoton abspult und gleichzeitig wie eine Wahnsinnige in den Papieren wühlt.

»Und hier bräuchte ich bitte noch eine Unterschrift für die Transplantation.« Jessica hat schon bei der ersten Unterschrift nicht mitbekommen, dass sie zugunsten von Neve Entscheidungen treffen muss, die sie wahrscheinlich gar nicht treffen will. Aber ihre Freundin hat sie nicht gefragt, sondern einfach als Vormund angegeben.

»Und das hier«, die Schwester reicht ihr ein kleines Gerät »ist ein Pager. Sobald das Ding anfängt zu piepen, haben wir ein Spenderherz für Misses Stewart-Sanchez, welches wir dann umgehend einsetzen werden. Tragen Sie den Pager also bitte immer bei sich.« Wie vor eine Mauer gerannt nimmt Jessica fast nur noch in Trance auf, wie die Schwester nach dem Papierkrieg auf dem Absatz kehrtmacht und den Rückzug antritt.

»Du!« Mit einem großen Schritt ist Sam sofort an Jessicas Seite. Eingeschüchtert weicht Jessica zurück. Ängstlich blickt sie Sam direkt in die Augen. Augen die brennend und funkelnd auf ihr liegen. Beunruhigt schluckt Jessica.

»Sam, ich … ich … ich kann dir nicht erklären weshalb … .«

»Sei still«, faucht Sam. Jessicas Kehlkopf rutscht langsam Richtung Erdkern. Sie kann kaum noch atmen.

»Du. Warum du? Warum nicht ich? Warum nicht Laura? Warum du?« Jessica presst sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie wünscht sich Teil der Wand zu werden und sich mit ihr vereinen zu können, nur um Sam irgendwie ausweichen zu können.

»Weil sie in Neves Sinne entscheiden würde«, mischt sich Laura in die brennende Stimmung. Sofort reißt sich Sam herum.

»Ich etwa nicht, oder was?« zischt sie wütend. Laura schüttelt den Kopf.

»Nein.« Schlagartig verengen sich Sams Augen. Rasend richtet sie ihren Blick auf ihre Freundin.

»Ich könnte ebenso wenig in Neves Sinne handeln wie du, Sam. Aber Jessica kann es. Sie kann es, weil sie Neves Freundin ist. Sie hat im Gegensatz zu uns beiden noch einen klaren Kopf. Wir beide lieben Neve zu sehr, als dass wir noch klar denken können. Selbst Matt wäre dazu nicht in der Lage, aber Jess ist es. Die beiden kennen sich seit unzähligen Jahren. Sie vertrauen sich gegenseitig ihr Leben an, was auf einer völlig anderen Ebene basiert, als wie wir beide es mit Neve kennen. Es ist etwas ganz anderes zwischen ihnen und deshalb ist Jess die Einzige die die richtigen Entscheidungen treffen kann. Wir beide würden mit dem Herzen entscheiden, während Jessica mit dem Kopf urteilt. Für Neve ist sie die einzig fähige Person für diese Verantwortung.« Sams Kiefer beginnt zu malen. Trotz dessen, dass nur einige Schritte von ihr entfernt ihre Frau von Maschinen am Leben erhalten wird, schafft sie es dennoch ihre Wut zu nähren. Wut und Enttäuschung. Wut die eigentlich unbegründet ist.

Langsam dreht Sam den Kopf zu Jessica zurück. Die presst sich noch immer wie eine Flunder gegen die Wand.

»Ich vertraue dir, Jessica. Ich vertraue dir wirklich. Seit ich mich für dich entschieden habe, gab es nie auch nur eine Sekunde die ich an dir gezweifelt habe.« Sams Worte erreichen Jessica zwar, beruhigen sie aber nicht wirklich, weil sie weiß, dass Sam noch nicht fertig ist.

»Aber wenn ich dir schon das Leben meiner Frau überlasse, dann … .« Wortlos streckt Sam eine Hand aus. Jessica braucht nicht eine Sekunde zu überlegen. Ohne zu zögern reicht sie Sam den Pager.

Kommentarlos und ohne Dank dreht sich Sam um und tritt wieder an das Fenster. Sie weiß, dass sie das Zimmer betreten könnte - dass sie neben ihrer Frau stehen könnte. Aber im Augenblick fühlt sie sich nicht stark genug, um sich dieser Aufgabe zu stellen. Von daher stützt sie sich an dem kleinen Fensterbrettchen ab und legt die Stirn wieder gegen die Scheibe.

 

»Was soll ich den Kindern erzählen, weshalb ihre Mutter nicht da ist? Wie kann ich ihnen erklären, dass ihre Mutter vielleicht für Monate nicht nach Hause kommen wird? Dass ihre Mutter für Monate schläft?« Verzweifelt schüttelt sie den Kopf.

»Das ist Wahnsinn. Das ist absoluter Wahnsinn. Wie kann man einem Menschen so etwas nur antun?«

»Und genau aus diesem Grund hat Neve angegeben, dass sie das nicht will. Sie wollte einen Abschluss.« Am liebsten würde Sam Laura die Zähne ausschlagen. Sie soll still sein. Sie soll einfach still sein. Allerdings weiß sie auch, dass ihre Freundin Recht hat.

»Verdammt.« In einem gleichmäßigen Rhythmus beginnt Sam ihre Stirn gegen die Scheibe zu schlagen.

»Ich habe einen Fehler gemacht, richtig?« Ihre Augen liegen auf Neve, die die egoistische Entscheidung ihrer Frau nun ausbaden darf.

»So leid es mir tut, Sam, aber ja.« Muss Laura so schonungslos ehrlich sein? Kann sie nicht einfach mal die Schnauze halten?

Sam schnauft laut aus, nimmt die Stirn von der Scheibe, dreht sich um und rutscht kraftlos zu Boden. Sie beginnt zu weinen.

»Ich kann sie doch aber nicht gehen lassen«, schluchzt sie verzweifelt.

»Sie kann mich doch nicht einfach so alleine lassen, das geht doch nicht. Wir haben so viele Jahre um unser Leben gekämpft … . So viele Jahre … .« Weinend vergräbt Sam ihr Gesicht in den Händen.

***

Erst am nächsten Tag schafft es Sam die Kinder von Matt und Jill abzuholen. Die beiden Hunde wurden schon von Laura und Jessica über Neves Zustand informiert. Sam wäre eh nicht in der Lage gewesen auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen. Jetzt sieht sie sich allerdings dazu gezwungen Precious zu erklären was mit ihrer Mutter geschehen ist. Warum sie nicht nach Hause kommt. Warum Sam noch nicht einmal weiß wann ihre Mutter überhaupt nach Hause kommen wird.

Am Ende ihrer Kräfte und eigentlich gar nicht mehr im Stande irgendetwas richtig auf die Reihe zu bekommen, sitzt Sam benommen am Esstisch. Jean im Kinderstuhl neben sich, Precious ihr direkt gegenüber. Sie hat schon gefragt wo ihre Mutter ist und wie es ihr geht, aber Sam schaffte es einer Antwort gekonnt auszuweichen. Jetzt hat sie aber keine andere Möglichkeit, als ihrem Kind die Wahrheit zu sagen.

Sam schaut Precious an und sieht in ihren Augen, dass die Maus ganz genau weiß, dass es um ihre Mutter nicht so gut steht. Nur woher sie das weiß, ist ihr ein Rätsel. Matt und Jill versicherten ihr, dass sie ihr nichts erzählt haben. Precious ist aber nicht blöd. Sie hat gestern Abend selbst miterleben müssen, was mit ihrer Mutter geschah. Irgendwann konnte sie zwar nicht mehr sehen was für Neve getan wurde, aber sie ist alt genug um zu wissen, dass ein umkippen ihrer Mutter nichts Gutes heißt.

Nur zögernd beginnt Sam von der Operation zu erzählen. Davon, dass die Ärzte nun wissen was Neve vergiftet hat. Dass sie dieses komische Teil entfernen konnten. Langsam beginnt sie sich zum Kernpunkt heran zu tasten. Sie will Precious weder überfallen, noch überfordern. Oder traut sie sich selbst einfach nicht das zu akzeptieren was mit ihrer geliebten Frau im Augenblick geschieht?

Precious hört ihr gebannt zu. Sie sagt kein Wort. Sie stellt keine Fragen, nichts. Sie sitzt Sam am Tisch gegenüber und lauscht den Worten, die nur zögernd Sams Mund verlassen.

Irgendwann nickt Precious, sagt ganz leise »Ok« und steht vom Tisch auf. Verwundert blickt Sam ihr hinterher, als ihre Tochter leise und zaghaft die Treppe hinaufgeht. Oben verschließt sie ebenso leise ihre Zimmertür und dann wird es mit einem Mal still. Eine erdrückende Stille kehrt in das Haus ein. Selbst Marley liegt auf seiner Decke und bewegt sich keinen Zentimeter. Er miekst nicht, überhaupt nichts.

Erschlagen von dieser Stille blickt Sam benommen zu Jean hinüber. Die Maus sitzt in ihrem Stuhl und spielt mit ihrem Trinkbecher herum. Übermütig schwenkt sie das kleine Ding in sämtliche Himmelsrichtungen. Sam kann froh sein, dass sie und Neve bei der Kinderausstattung nie auf das Geld geachtet haben und immer das Beste oder funktionalste gekauft haben. Denn wenn sie tatsächlich auf das Geld geachtet hätten, würde der Fencheltee nun durch den ganzen Raum geschleudert werden. Aber nein, der Becher hält Jeans Schleudergang stand und lässt nicht einen Tropfen entweichen.

Als wenn Jean ganz genau wüsste, dass es ihrer Mutter nicht gut geht und sie seit ein paar Momenten schweigend beobachtet, beendet Jean ihre Spielerei. Langsam stellt sie den Becher auf das kleine Tischchen und blickt zu ihrer Mutter. Sie ist wieder so ruhig und besonnen, dass es Sam wie eine schmerzhafte Ohrfeige vorkommt. Jean kann so unfassbar ruhig sein, dass man es tatsächlich mit der Angst bekommen kann.

Dass sie ihre Mutter allerdings mit ihren braunen Augen so intensiv anschaut, dass Sam sich selbst in den Augen ihrer Tochter sieht, macht ihr wieder einmal deutlich, dass dieser Hosenscheißer zu hundert Prozent von ihr kommt. Den Blick den sie ihrer Mutter zuwirft, könnte fast die Hölle gefrieren lassen. Auch wenn Jean nicht weiß welches Gefühl sie in diesem Augenblick ausstrahlt, sprühen ihre Augen eine unermessliche Wut aus. Wut, die Sam in ihrem Herzen spürt. Wut, die von ihr selbst ausgeht. Wut über das, was ihrer Familie angetan wird. Diese Wut spiegelt sich in Jeans Augen wieder. Sam kann es nicht glauben. Sämtliche Verzweiflung die sich in den letzten Stunden in ihr aufgestaut hat, entlädt sich in diesem Augenblick, als sie ihrer Tochter in die Augen schaut. Sie beginnt heftig zu weinen, zieht Jean aus dem Stuhl und presst sie an sich.

Sam weiß, dass es trotz eines Spenderherzens sein könnte, dass Neve nicht mehr aufwacht. Die Medizin ist in ihrer ganzen Zeit schon weit gekommen, aber alles schafft auch sie nicht. Neves Körper braucht das Herz nur abzustoßen und sie wäre verloren.

Diese und tausend andere Gedanken preschen durch Sams Kopf, während sie sich hilflos an Jean klammert. Wenn Neve das alles wirklich nicht überleben würde, wäre sie alleine. Dann wäre sie das erste Mal in ihrem Leben alleine. Dann wäre sie mit den Kindern alleine. Die Kinder, die sie immer wieder an Neve erinnern würden. Precious alleine schon deshalb, weil sie ihre Tochter ist. Auch wenn ihr Aussehen keineswegs mehr etwas mit dem jetzigen Körper ihrer Frau zu tun hat, würde Sam ihre Frau immer und immer wieder in Precious erkennen. Sie würde Neve ununterbrochen in Precious sehen. Sie weiß nicht, ob sie das aushalten würde – ob sie den Schmerz, den Verlust ertragen könnte. Neve wäre verloren und dennoch würde sie in Form von Precious vor Sam stehen.

Jean würde ihren ganz eigenen Teil dazu beitragen. Jean hat Sams Augen, ihre Lippen, ihren Geruch. Alles Dinge die Neve so sehr an Sam liebt. Sam würde Jean sehen und wissen, dass ihre Frau ihre Lippen, ihre Augen und ihren Geruch so unbeschreiblich liebte. Es wäre ein unfassbarer Horror wenn Sam all das in Jean sehen würde und dadurch immer wieder an ihre Frau erinnert werden würde.

Sam vergräbt ihr Gesicht in Jeans kleinen Körper und muss unwillkürlich an den Augenblick denken, als sie den Zwerg zur Welt brachte. Als Neve in dem Geburtsbecken vor ihr kniete und auf dieses kleine Wesen starrte, welches sie mit aller Kraft aus ihrem Unterleib presste. Sam spürte noch nie zuvor in ihrem Leben solche Schmerzen wie in diesem Augenblick. Sie glaubte, ihre Vagina würde in Fetzen zerrissen werden. Erst im Nachhinein wurde ihr klar, dass sie trotz der Schmerzen wusste, dass Neve bei ihr war. Dass durch sie alles nicht so schlimm war. Neve war in diesem wichtigen Augenblick bei ihr und half ihr, ihre Tochter auf die Welt zu bringen. Jean hätte also für den Rest ihres Lebens so oder so die Arschkarte gezogen, weil Sam bei ihrem Anblick immer an den Moment erinnert werden würde, wo Neve die kleine Maus ihrer Frau auf den Brustkorb legte. Jean würde sie also auf ewig an Neve erinnern.

»Tu mir das nicht an, Neve. Tu mir das bitte nicht an«, schluchzt Sam in Jeans Brust. Sie weiß nicht wohin mit sich. Sie fühlt sich so hilflos und alleine. Egal wie sehr sich ihre Freunde und ihre Kids um sie kümmern würden, sie wäre immer alleine. Alleine, weil Neve nicht an ihrer Seite ist. Sie kann das nicht. Sie kann das einfach nicht. Sie wird ihrer Frau folgen, das weiß sie. Sollte Neve das alles wirklich nicht überleben, wird Sam ihr folgen. Sie hat gar keine andere Möglichkeit als diese. Sie kann einfach nicht ohne Neve leben.

***

Mit Jean fest in ihren Armen geklammert, steht Sam mit weichen Knien vor Precious' Zimmertür. Zaghaft klopft sie. Keine Antwort. Sie klopft noch einmal, erhält aber erneut keine Antwort.

»Precious?« Die Frage prallt an der verschlossenen Zimmertür ab. Verlegen, weil sie das eigentlich nur ungerne macht, öffnet Sam ungebeten Precious' Zimmertür.

»Precious?«, ruft sie vorsichtig hinein. Noch immer keine Antwort. Leise betritt sie das Zimmer. Suchend blickt sie um sich. Das Zimmer ist leer. Sam weiß aber, dass Precious hier hereingegangen ist. Sie ist definitiv in ihr Zimmer gegangen. Wo ist sie aber?