Hexenhammer 1 - Die Inquisitorin

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Aus der Reihe: Hexenhammer #1
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Entreiß es ihr!

Die Gier, es zu besitzen, war größer als jedwede Überlegung, was danach passieren würde. Vielleicht gelang ihr ja die Flucht, wenn sie es erst einmal besaß. Gut, den Gedanken nach Rache müsste sie dann vorerst begraben, aber …

Sie ergriff das Kreuz.

Im selben Augenblick packte die Schwester Oberin zu.

Lotte schrie auf, wollte sich aus dem Griff winden, doch die Schwester Oberin fuhr im Bett hoch und zog sie mühelos zu sich heran.

»Ich wusste es!«, schrie sie triumphierend. »Du warst die ganze Zeit hier, stimmt es?«

Sie kann mich sehen! Die Erkenntnis durchfuhr Lotte glühend heiß.

»Natürlich kann ich dich sehen, du saudummes Ding!«

Lotte fühlte sich auf das Bett gepresst, während ihre Gegnerin, ohne sie aus dem Griff zu entlassen, über ihr thronte.

»Wie hast du es geschafft, hier einzudringen?«

»Ich weiß es doch nicht!«, schrie Lotte.

»Du bist eine Lügnerin!«

Der Griff wurde noch fester, sodass Lotte vor Schmerzen schrie.

»Wer hat dich die Kunst der Unsichtbarkeit gelehrt?«

»Niemand! Niemand hat sie mich gelehrt!« Und das war doch die Wahrheit! Sie sagte nichts als die Wahrheit. All das war doch ohne ihr Zutun geschehen!

»War es der HERR? War es der HERR?«

Und wenn es der HERR war, der sie geschickt hatte, so war es doch Recht. Auch die Schwester Oberin musste dies einsehen. Und war es nicht Sünde, ihr, die sie dem HERRN gehorchte, solche Schmerzen zuzufügen? Sie wollte es ihrer Peinigerin sagen, wollte den Namen des HERRN aussprechen.

Doch ihre Lippen blieben einmal mehr verschlossen.

»War es der HERR?« Immer wieder schrie die Schwester Oberin die Frage und schlug auf sie ein.

Lotte krümmte sich zusammen, um die ärgsten Schläge abzuwehren. Irgendwann war sie zu schwach und ergab sich ihnen. Empfing die Schmerzen als etwas, das zu ihr gehörte wie alles andere an und in ihr.

Bis unendliche Schwärze sie einhüllte.

AUFSTEHEN. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. VERGISS MICH!

Vergiss mich!

Doch er hatte sie nicht vergessen. Genau wie die Schmerzen, die sie seit jener Nacht quälten. Die Schwester Oberin sorgte dafür, dass die Ratten die Wunden immer neu mit Essig und anderen scharfen Mitteln behandelten. Auch die Brüche an Armen, Beinen und Rippen, die man ihr zugefügt hatte, verheilten nicht. Man brach sie ihr immer wieder.

An jedem Tag besuchte die Schwester Oberin sie im Loch – ohne dass sie sie sah, sie hörte nur ihre Stimme – und fragte sie: »War es der HERR?«

Sie wollte es ihr sagen, wollte antworten: »Ja, es war der HERR!«, doch ihre Lippen blieben nach wie vor verschlossen, sobald sie nur an ihn dachte.

IHM hatte sie die unerträgliche Pein zu verdanken. Sie konnte nicht mehr aufrecht gehen, sich kaum rühren. Das trockene Brot musste sie wie ein Schwein mit dem Mund aufnehmen, weil ihre Finger gebrochen waren und sie weder das Brot noch die Schüssel mit dem Wasser ergreifen konnte.

Sie war am Leib gebrochen. Und an der Seele.

Sie hatte dem HERRN vertraut, doch er hatte ihr nur Qualen beschert. Sie wollte es wiedergutmachen, der Schwester Oberin ihre Treue beweisen, ihr alles beichten – und bekam doch keinen Laut heraus.

»War es der HERR?«

Vergiss mich!

Sie wünschte nichts sehnlicher, als dass er sie vergessen möge. Vielleicht würde sie dann endlich wieder sprechen können, vielleicht würde die Schwester Oberin Gnade walten lassen und sie wieder in die Gemeinschaft aufnehmen. Sie würde alles dafür tun, sie würde …

»Schweig!«

Er stand vor ihr, war aus dem Nichts heraus erschienen. Doch nicht mehr als bloße Schwärze mit glühenden Augen, sondern in einer seiner furchterregendsten Gestalten. Die Wände und Decken schienen nicht mehr zu existieren, oder er hatte sie mit seiner schieren Leiblichkeit einfach beiseite gedrückt. Mehr als fünf Fuß hoch ragte sein mit schwarzem Fell bedeckter Körper über ihr auf. Ein dreieckig zulaufender Kopf mit der furchterregenden Fratze darin wurde von zwei spitzen Hörnern gekrönt. Die Zunge hing ihm lang aus dem Maul. Sie pendelte hin und her wie auf der Suche nach Nahrung. Um ihn herum flammten Feuer, die seine Gestalt umloderten.

Selten zuvor hatte sie sich derart gefürchtet. Sie war ein einziges Bündel aus Furcht, das durch SEINE Präsenz nahezu erdrückt wurde. Und IHN hatte sie gewagt zu verleugnen? Allein der Gedanke musste ihr Todesurteil bedeuten.

»Ich weiß nicht, warum ich solch eine Geduld für dich aufbringe!« Seine Stimme brach sich im Raum, war lauter und dröhnender als der Klang einer Glocke.

Und schmerzhafter. Ihr bisheriger Schmerz war nur ein Mückenstich dagegen. Sie wand sich auf dem Boden, wollte ihre unendliche Pein hinausschreien, doch …

Sie blieb stumm, denn er hatte ihr befohlen, zu schweigen.

Als würde er begreifen, dass seine Manifestation ihr den Tod bringe, wenn sie ihm noch länger so ausgesetzt war, begann er zu schrumpfen, bis er schließlich nur noch so groß war wie ein Mensch. Doch seine Gestalt behielt er bei.

»Du hast gefehlt, doch ich verzeihe dir. Ich gebe dir Gelegenheit, Buße zu tun.«

»Ich werde alles tun, was IHR mir sagt, HERR!«

»Zunächst will ich erfahren, was du erhorcht hast, als du in der Kammer der Mater Martyria warst.«

»Mater Martyria, o Herr?«

»Du nennst sie die Schwester Oberin, doch Mater Martyria ist der wirkliche Name der Schlange.«

Nun sprudelte alles nur so aus Lottes Mund hervor. Als sie jedoch den Namen des Besuchers erwähnte, barst erneut die Wut des HERRN aus ihm heraus: »Von Gilding!«, grollte er, sodass Lotte glaubte, ihre Trommelfelle würden platzen. »Ich ahnte, dass er ein falsches Spiel treibt. Er hat sich mit Mater Martyria verbündet!«

Eine dunkle Welle, menschlichem Zorn ähnlich, aber viel stärker, überflutete Lottes Gedanken und ließ sie ohnmächtig werden. Asmodi weckte sie wieder auf und befahl ihr mit ruhiger Stimme weiterzuerzählen.

»Ich werde sie beide bestrafen müssen, das leuchtet dir doch ein, oder?«

Lotte nickte eifrig. Nur nicht erneut den Zorn des HERRN entfachen!

»Mir selbst ist es nicht gegeben, die Mauern des Hauses zu betreten, daher wirst du mein Werkzeug sein.«

»Aber Ihr wart doch bei mir, als …«

»Ich war nur als Abbild bei dir und in deinen Gedanken. Diese Schlange verwehrt mir, dem HERRN, den Zutritt. Allein dafür verdient sie den Tod!«

Er fasste mit seiner krallenbewehrten Klaue nach Lottes Kinn, sodass sie ihn ansehen musste. »Warum nur glaube ich, dass ausgerechnet du das Werkzeug gegen meine schlimmsten Feinde darstellst?«

»Ich – ich weiß es nicht, o HERR.«

»Du weißt nichts, das ist es ja!« Sie fürchtete, erneut seinen Zorn zu spüren, doch er fuhr fort: »Du wirst der Mater Martyria, die du die Schwester Oberin nennst, alles beichten. Du wirst ihr erzählen, wozu ich dich verleitet habe. Und du wirst ihr glaubhaft versichern, dass ich dich verstoßen habe.«

»Aber wird sie mir glauben?«

»Wir werden nachhelfen müssen, gewiss. Ich habe schon eine Idee. Doch am Ende wirst du sie töten. Wie, das überlasse ich deiner Fantasie. Und wehe dir, wenn du versagen solltest! Bis dahin …«

Seine Worte gingen in einem gewaltigen Grollen unter. Der Boden öffnete sich, Flammenlohen schossen aus der Erde empor, worin Asmodi versank. Die Flammen aber griffen weiter um sich, leckten über die nun wieder vorhandenen Wände, leckten auch über Lotte, setzten ihr Haar in Flammen und verbrannten ihre Haut, verbissen sich tiefer, in ihr Fleisch, sodass sie sich nach seliger Ohnmacht oder sogar dem Tod sehnte.

Doch schneller als gedacht, eilten die Ratten herbei, stürzten sich todesmutig in das Feuer, zogen sie heraus und löschten die Flammen auf ihr mit ihren Körpern, sodass Lotte begriff, dass der HERR ihr die Feuersbrunst nur vorgespiegelt hatte, um sie zu strafen.

Mit diesem Gedanken kam sie endlich, endlich doch: die Ohnmacht.

Es dauerte ein Jahr, bis die Schwestern sie wieder in die Gemeinschaft entließen. Bis dahin waren ihre Knochen verheilt. Ihr Äußeres allerdings wirkte noch abschreckender als zuvor, denn die Schwestern hatten Schweinshaut und Hundefell verpflanzt, um das rohe Fleisch zu bedecken. Dennoch hatten sich die Wunden entzündet, und fast wäre Lotte am Wundbrand gestorben.

Mater Martyria, dachte Lotte in den Stunden und Tagen und Monaten der immerwährenden Qual. Sie macht ihrem Namen alle Ehre.

Sie hatte ihr alles gebeichtet. So, wie der HERR es ihr aufgetragen hatte. Anfangs traute die Schwester Oberin ihr nicht über den Weg, aber warum sollte Asmodi seine Verbündete sonst geopfert haben, wenn nicht aus dem Grund, dass er sie verstoßen hatte?

»In dir steckt etwas ganz Besonderes«, sagte die Schwester Oberin oft zu ihr, wenn sie an ihrem Lager stand, um ihren Fortschritt, ihre Genesung zu begutachten. »Nur weiß ich nicht, was es ist.«

»Ich weiß es auch nicht, Herrin«, beeilte sie sich dann zu sagen. »Ich will nur eines: Euch gehorchen und eine gelehrige Schülerin sein.«

Dabei verbarg sie ihre geheimsten Gedanken und ließ dafür den Schmerz an die Oberfläche. Der Schmerz, der ihr jedes Mal die Kraft gab weiterzuleben.

Die anderen Schülerinnen mieden sie. Und selbst den Ratten schien vor ihrem Anblick zu grausen. Vielleicht war es auch die Aura, die alle abschreckte. So wie man aus einem Fenster heraus auf totes, verbranntes, ödes Land schaut und dabei vom Gefühl der Trostlosigkeit befallen wird, so erging es allen in ihrer Gesellschaft.

 

Allein der Junge namens Albert suchte ihre Nähe. Vielleicht weil er ähnlich missgestaltet war wie sie. Er schien wie ein Mosaik aus unzähligen Teilen zusammengesetzt, wobei manche willkürlich neben den anderen zu liegen und nicht recht zusammenzugehören schienen.

»Ich war im Loch«, flüsterte er ihr zu, während er kurz an ihrem Platz im Refektorium verharrte. »Es ist ein schöner Ort.« Und kichernd ging er weiter.

Was hatte er damit sagen wollen? War es seine Absicht gewesen, sich vor ihr zu brüsten? Wollte er sich als Gleichgesinnter zu erkennen geben, der ebenso wie sie den Unmut der Schwestern erregt hatte? Was steckte hinter Sätzen wie: »Ich weiß, was du willst. Ich will es auch.« oder »Wir sind etwas Besonderes. Schau dir die anderen an: Sie sind nur Dreck in den Händen der Schwestern, aber wir …«

Er hatte sie auf dem Weg zur Beichte angesprochen.

»Was sind wir denn schon?«, gab sie zurück. »Hast du jemals an dir herabgeblickt?« Sie sagte es voller Verachtung und meinte doch sich selbst.

»Das Äußere ist nur Schein, kapierst du das nicht? Auch eine Raupe ist ein hässliches Ding, doch in ihr steckt ein …« Er schrie auf, als eine der Schwestern ihn unsanft am Ohr zog.

»Was gehst du hier mit den Mädchen? Husch zurück in deine Reihe. Gleich hast du Grund zu beichten!«

Er überspielte den Schmerz, den sie ihm zufügte, mit einem wissenden Grinsen, das Lotte galt.

»Schmetterling!«, rief er ihr zu.

Sie mochte diesen Albert nicht. Er war ihr zu ähnlich. Und doch spürte sie eine Verbundenheit, die sie sich nicht erklären konnte, die tiefer lag als nur in ihrer beider Äußerem, das sie als Außenseiter brandmarkte. So wie zwei Straßenköter sich über den Weg laufen und einander beschnuppern, weil irgendetwas an dem anderen ist, was sie sich nicht erklären können.

So schien es auch Albert zu gehen, mehr noch als ihr. Etwas an ihr schien ihn anzuziehen. Und so sehr sie sich auch dagegen sträubte, verursachten seine Worte Nachhall in ihr.

Schmetterling.

Weder er noch sie würden sich je als etwas anderes entpuppen als das, was sie nun mal waren. Raupen. Und nur wenn sie Glück hatten, wurden sie nicht von irgendeinem Vogel verschlungen oder unter den Füßen eines ahnungslosen Menschen zerquetscht.

Es folgten die Monate, in denen sie ernsthaft über die Aufgabe nachdachte, die der HERR ihr aufgetragen hatte. Aus der Küche hatte sie ein kleines Messer gestohlen und sich fortan ausgemalt, wie sie es der Schwester Oberin ins Herz senken würde. Es war ein schöner Gedanke. Viel schöner als die irrige Hoffnung, ein Schmetterling zu werden. Sie hasste Albert dafür, dass er ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.

Viel mehr als ein Floh dagegen war das Messer. Wann immer sich Gelegenheit bot und sie keine Angst haben musste, dass man es entdeckte, trug sie es bei sich, und nachts versteckte sie es unter ihrem Lager.

Leider verging Tag um Tag, ohne dass sich eine Gelegenheit bot, es zu benutzen. Es schien, als würde ihr die Schwester Oberin bewusst aus dem Weg gehen. Stattdessen schickte sie die anderen Schwestern vor. Die hasste Lotte mittlerweile genauso innig, doch sie wusste, dass sie nur ein einziges Mal die Gelegenheit haben würde zuzustechen. Was danach mit ihr geschehen würde, wusste nur der HERR. Also ballte sie nur heimlich die Fäuste, wenn eine der Schwestern sie bestrafte oder schikanierte, und fügte sich ansonsten in ihr Schicksal.

Es wird kommen der Tag …

Doch es kam alles ganz anders.

Es war mitten in einer stürmischen Nacht, als Lotte von ihrem Lager hochschrak. Auch die anderen Mädchen im Dormitorium waren von dem Lärm aus dem Schlaf gerissen worden.

Lotte stürmte zur Wandscharte und lehnte sich hinaus, um hinunter auf den Hof blicken zu können. Der war erleuchtet von Fackelschein. Berittene hatten das Tor aufgebrochen und jagten auf das Gelände. Ratten stellten sich ihnen entgegen, wurden aber mitsamt ihren Lanzen und Schwertern einfach niedergetrampelt. Diejenigen, die nicht unter die Hufe der Pferde gerieten, versuchten zu flüchten, wurden aber von den Angreifern aufgespießt. Die Todesschreie der Ratten gellten durch die Nacht.

Als Nächstes sprengten die Berittenen die Pforte. Feuerlanzen zuckten aus dem Inneren des Hauses nach draußen, als die Schwestern sich mit magischen Blitzen zur Wehr setzten. Immer weitere Ratten strömten aus ihren Löchern und warfen sich den Angreifern entgegen.

Wir müssen fliehen!

Aber wohin?

Auch die anderen Mädchen waren in Aufruhr geraten. Sie stürzten umher, ungeordnet und voller Furcht.

Lotte ging es nicht anders. In blinder Panik stürmte sie aus dem Saal. Ein paar der Mädchen folgten ihr, andere blieben schreiend zurück.

Lotte stürzte die Treppen hinab. Hier drinnen würden die Schergen sie aufspüren, egal, wo sie sich versteckte.

»Hiergeblieben!«

Es war ausgerechnet die Schwester Oberin, die ihr, barfuß und in ein schwarzes Nachtgewand gehüllt, über den Weg lief! Offenbar war auch sie von dem Angriff im Schlaf überrascht worden.

Doch diesmal gehorchte Lotte nicht.

Das Messer!

Sie hatte es tatsächlich dabei!

Sie musste es instinktiv ergriffen haben, als sie aufgewacht war.

Die Schwester Oberin schien das Messer nicht wahrzunehmen. Oder sie glaubte, Lotte wollte sich damit gegen die Angreifer zur Wehr setzen.

»Wenn du nach draußen läufst, stechen sie dich ab wie ein Schwein. Wir müssen uns hier drinnen verteidigen. Sie werden es nicht schaffen, diese Hallen zu betreten.« Sie lachte grausam. »Hilf mir, die Sigille an den Türen und Fenstern anzubringen. Sieh, ich habe schon einige gezeichnet!«

Jetzt erst bemerkte Lotte die Kreidezeichen, die bereits angebracht waren.

»Wozu … wozu dienen sie?«

Glaubte die Schwester Oberin tatsächlich, sie könnte mit einfachen Bannsymbolen die Horden dort draußen am Eindringen hindern?

»Kannst du dir das nicht denken? Und jetzt hilf mir! Du musst die Symbole nur abzeichnen, so wie ich sie vorgegeben habe.« Sie brach das Stück Kreide in der Mitte und gab Lotte die andere Hälfte.

Lotte vergaß für einen Moment das Messer und was sie vorgehabt hatte. Sie war gewohnt, den Befehlen der Schwester Oberin zu gehorchen.

Außerdem …

… war es nicht schlauer, am Leben zu bleiben, anstatt den Angreifern wehrlos ausgesetzt zu sein? Der HERR konnte nicht wollen, dass sie starb. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte sie ihr Vorhaben immer noch in die Tat umsetzen.

Tu es jetzt, flüsterte eine andere Stimme in ihr. Es fiel ihr schwer, sie zu missachten, aber der Lebenswille gewann die Oberhand.

Sie prägte sich die Sigille ein und wunderte sich, wie leicht es ihr fiel.

Die Schwester Oberin war bereits zu einem weiteren Fenster geeilt, um es auf magische Weise zu versiegeln. Lotte beeilte sich, es ihr nachzutun.

Von draußen drangen weiter die Todesschreie der Ratten herein, die sich nach wie vor den Angreifern entgegenwarfen. Fensterscheiben gingen klirrend zu Bruch. Innerhalb des Hauses hörte man das Kreischen und Wehklagen der verwirrten Kinder, dazwischen ertönten die scharfen Rufe der Schwestern.

Lotte zeichnete Sigill um Sigill. Das Messer hielt sie jedoch noch immer umklammert. Sie würde es nicht freiwillig hergeben. Weder der Schwester Oberin noch einem der Angreifer. Eher würde sie sich selbst richten.

Unsinn! Stich sie endlich nieder!

Die gegensätzlichen Gedanken in ihrem Kopf drehten sich immer schneller. Sie kämpfte dagegen an, versuchte sich allein auf die Sigille zu konzentrieren.

Sie horchte erst auf, als es draußen für einen Moment seltsam still wurde. Verwirrt warf sie einen Blick zur Schwester Oberin, die am anderen Ende der Halle auf dem Boden hockte und dort einen Bannkreis zeichnete. Also musste sie sich selbst einen Reim darauf machen. Die Stille bedeutete vermutlich, dass die letzte der Ratten den Feinden zum Opfer gefallen war.

Im nächsten Moment erklangen Jubelschreie, sodann wurde das Portal mit einem Rammbock gesprengt. Die ersten Angreifer überwanden die Schwelle, ohne die Sigille zu beachten.

Doch kaum hatten sie ihren Fuß daraufgesetzt, schossen hohe Flammen aus dem Boden und erfassten die Hereinstürmenden. Als lebende Fackeln liefen sie schreiend durch die Halle, setzten jedoch wie durch ein Wunder – vielleicht war es ja eins, dachte Lotte – weder die schweren Vorhänge noch die Teppiche oder auch nur ein Möbelstück in Brand. Das triumphierende Gelächter der Schwester Oberin begleitete den Todesreigen.

Die nachfolgenden Männer verharrten auf der Schwelle.

Töte sie!

Der Gedanke wurde fordernder, zwingender!

Lotte löste den Blick von den brennenden Opfern, von denen die meisten bereits sterbend auf dem Boden lagen. Die Schwester Oberin hatte sich wieder ihrem Bannkreis zugewendet.

Natürlich wusste Lotte, was ein Bannkreis bedeutete. In der Theorie. Genauso wie man sie gelehrt hatte, was Sigille waren – doch sie hatte niemals geglaubt, dass diese mehr waren als bloßer Glaube. So wie die Christen daran glaubten, dass ihre Kreuzzeichen sie schützten oder ihre Gebete erhört wurden.

Jetzt wusste sie, das es anders war. Dass die Sigille tatsächlich etwas bewirkten.

Was also würde der Bannkreis zeitigen? Noch mehr Tote? Noch mehr …

TÖTE SIE!

Der Gedanke erfasste sie mit einer solchen Wucht, dass sie taumelte. Kam er überhaupt aus ihr selbst? Oder war es jemand Fremdes, der in ihrem Kopf wütete?

Der HERR! Es musste der HERR sein! Die Erkenntnis, gefehlt zu haben, ließ sie am ganzen Leibe erzittern. Was machte sie hier, anstatt seinem Befehl Folge zu leisten?

Sie ließ das Kreidestück fallen, umfasste dafür das Messer fester.

Die Schwester Oberin hatte den Bannkreis vollendet. Er leuchtete in einem grellen Schein. Sie schrie Beschwörungen in einer fremden Sprache heraus. Die Atmosphäre begann sich zu verändern, es fiel Lotte auf einmal schwerer zu atmen. Die Wände zogen sich auseinander, der Boden schien Wellen zu werfen. Auch die Zeit veränderte sich. Alles geschah langsamer, die Bewegungen waren zäh, als würde sie durch Wasser oder einen Bach aus Honig waten. Der Gestank von Schwefel erfüllte die Halle.

Mit einem letzten herrisch klingenden Wort, das wie ein Befehl klang, vollendete die Schwester Oberin die Beschwörung. Sie selbst stand inmitten des Bannkreises. Außerhalb davon begann die Luft zu flirren. Die bizarren Umrisse eines gigantischen Ungetüms zeichneten sich ab. Sein Fauchen und Brüllen brachten die Halle zum Erbeben. Aber noch war es in seiner eigenen Welt gefangen, wühlte sich daraus erst hervor.

Doch es würde nicht mehr lange dauern, bis es sich vollends manifestiert hatte. Lotte erkannte bereits seine schuppige Haut, die drei Hörner, die den drachenähnlichen Kopf zierten, den breiten Schwanz, mit dem es sicherlich ein ganzes Pferd mitsamt dem Reiter zu Fall bringen konnte.

Und noch wuchs es und wuchs!

Während sich Lotte durch die immer zäher werdende Atmosphäre vorwärtsbewegte, begriff sie, was die Schwester Oberin bezweckte.

Es ist ihr völlig gleich, ob du stirbst!

Man hatte sie gelehrt, dass ein Bannkreis den Dämon, den man herbeizitierte, gefangen halten sollte. Hier war es aber genau umgekehrt: Die Schwester Oberin hatte um sich selbst einen Kreis gezogen, um vor dem Dämon sicher zu sein.

Nur sie allein! Es war ihr egal, was mit den anderen geschah! Lotte erkannte die Gefahr, in der sie sich befand, in dem Moment, als das Ungetüm sie anstarrte. Es würde sie mit Haut und Haaren verspeisen. Doch noch immer dauerte seine Manifestation an, sodass es – noch – machtlos war.

Lotte verstärkte ihre Anstrengung. Sie keuchte und schnappte nach Atem. Doch endlich hatte sie den Bannkreis erreicht.

»Bleib wo du bist, du Törichte!«, schrie die Schwester Oberin sie an.

Lotte hörte nicht auf sie.

Dieses eine Mal nicht!

Ihr ist es egal, was mit dir passiert!

Sie überschritt den Bannkreis, dessen Leuchten augenblicklich in sich zusammenbrach.

»Der Schutz ist dahin!« Wutentbrannt fauchte die Hexe Lotte an. »Sieh, wir sind dem Dämon schutzlos ausgeliefert, du Närrin!«

 

Das Brüllen hinter ihr verriet Lotte, dass der Dämon kurz vor seiner endgültigen Erweckung stand.

Nun musste sie schnell handeln! Wenigstens wollte sie den Wunsch des HERRN erfüllen, bevor sie starb!

Sie warf sich der Schwester Oberin entgegen. Zu spät erkannte diese die tödliche Gefahr. Zu spät –

Oder war es Absicht, dass sie einfach stehenblieb? Bevor Lotte zustechen konnte, hatte die Schwester Oberin ihren Arm erfasst. Grausam lachte sie auf. »Glaubst du etwa, ich habe nicht geahnt, was du vorhast?«

Lotte spürte, wie eine fremde Kraft ihren Arm führte. Wie sich die Hand mit dem Messer gegen sie selbst richtete. Nur noch einen Finger breit von ihrem Herzen entfernt, meldete sich wieder die andere Stimme in ihrem Kopf.

Töte sie!

TÖTE SIE!

Die Stimme des HERRN schrie auf sie ein.

Und SEIN Wille geschah.

Keuchend drückte sie den Arm der Schwester Oberin zurück. Die Kraft kam aus IHM, und sie war bereit, IHM als Werkzeug zu dienen.

Die Schwester Oberin stemmte sich dagegen, doch urplötzlich verließ sie die Kraft. Ihre Muskeln zitterten wie im Krampf.

Lotte hörte das Brüllen des Dämons nun unmittelbar hinter ihr. Seine schweren Schritte brachten den Boden zum Wanken. Sein feuriger Atem streifte bereits ihren Nacken …

Kraftlos ließ die Schwester Oberin den Arm sinken.

Lotte stieß zu.

Direkt in das schwarze Herz ihrer Peinigerin.

Das Gebrüll des Dämons entfernte sich wie ein Echo, während die Schwester Oberin zu Boden sank. Noch im Sterben lag in ihrem Blick die Fassungslosigkeit.

Langsam drehte sich Lotte um. Der Dämon war verschwunden. Mit dem Tod derer, die ihn herbeibeschworen hatte, hatte auch er jegliche Berechtigung verloren, auf Erden zu wüten!

Lotte ließ das Messer zu Boden fallen, wo es klirrend zerbrach, als habe abermals der HERR seine Hand im Spiel und zeige ihr so, dass ihre Aufgabe beendet war.

Sie schaute zum Portal. Als seien auch die Sigille nun kein Hindernis mehr, stürmten die Angreifer herein.

Ihnen aber folgte ein Herr auf einem Pferd. Er musste sich nur leicht unter dem Portalbogen ducken, denn er war nicht sehr groß, dieser Herr.

Zufrieden winkte er ihr zu.

Sie kniete nieder und senkte den Kopf.

Bereit, den Todesstoß des Dämons, den sie als Herrn von Gilding kannte, zu empfangen.

Eine bunte Zuschauermenge hatte sich um den Moritatensänger auf dem Marktplatz versammelt. Der Sänger war in bunte Flicken gekleidet. Auf dem Kopf trug er eine Kappe mit einer hohen Fasanenfeder. Er machte einen lustigen Eindruck, sodass sich auch die Kinder erwartungsvoll herandrängten.

An einer Staffelei hatte er einen Bilderbogen befestigt. Als die Erwachsenen die Bilder sahen, schickten sie die Kinder fort. Sie selbst aber drängten sich erwartungsvoll näher an den Bänkelsänger heran.

Der war so schlau, zuvor die Kappe herumgehen zu lassen. Manche Münze wechselte den Besitzer.

»Nun lasst uns nicht länger warten!«, rief eine Magd. »Sonst wird das junge Huhn, das ich gerade für meine Herrin erstanden habe, alt und zäh, bevor es im Kochtopf landet.«

Die Menge lachte, nur der Bänkelsänger bedachte sie mit finsterem Blick.

»Dann geht, wenn Euer Huhn Euch wichtiger ist als Euer Seelenheil.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Nach Erlösung strebten sie alle, wussten sie doch, dass der Teufel allüberall lauerte.

Nur einer rief: »Bist du denn ein Pfaffe, dass du uns predigst, wie wir von Sünden erlöst werden?« Es war Hannß Heiberlein, der stadtbekannte Trunkenbold, der normalerweise die Lacher mit seinen Zoten und respektlosen Bemerkungen auf seiner Seite hatte. Doch diesmal lachte keiner, denn dafür lag ihnen das Seelenheil zu sehr am Herzen.

Der Bänkelsänger wandte sich ihm mit ernsthafter Miene zu. »Nein, aber ich erzähle euch, wie mächtig und durchtrieben der Teufel zu Werke geht, auf dass ihr gewarnt seid, euch jemals mit ihm einzulassen.«

Erneut raunte die Menge, und die letzten neugierigen Kinder wurden ermahnt wegzuhören, denn Geschichten, in denen der Teufel den Sieg davontrug, waren nicht für sie bestimmt.

Der Musiker griff zur Kastenleier und begann nach einem musikalischen Vorspiel mit der Moritat.

»Der Teufel, der hat einen Namen,

Asmodi, und er gab seinen Samen

der holden Gräfin im Frankenland,

sodann verschwand er unerkannt.

Die Gräfin gebar ihm zwei Kinder,

ihr Gemahl liebte die beiden nicht minder …«

Während die Zuhörer gespannt lauschten, wandten sich zwei Männer in der hinteren Reihe ab und suchten den Schatten am Brunnen, wo die Verse des Reimschmieds nur noch leise zu hören waren.

Der üppige Aufputz der beiden zeugte von ihrem Reichtum. Um den Gürtel trugen sie lange Schwerter, die jeden räudigen Dieb davor warnten, sich mit ihnen anzulegen. Beide sahen sie aus, als könnten sie sich der Waffe bedienen. Aber es war eher die Aura, die die Menschen einen Bogen um sie machen ließ. Und kaum waren sie ein paar Schritte weitergegangen, hatten die Umstehenden die beiden Herren schon vergessen, als hätte es sie nie gegeben.

»Ein schauderhafter Gesang!«, urteilte der eine, der kleiner war und gedrungener als sein Gefährte.

»Die Menschen mögen es«, sagte der andere. »Je schlechter, umso mehr berührt es sie.«

»Schauderhafter noch als der Gesang sind diese Verse«, stichelte der Erste weiter. »Habt Ihr das wirklich nötig, Asmodi?«

Der andere grinste. »Sollen die Menschen ruhig ab und zu daran erinnert werden, was ihnen droht, Olivaro.«

»Wo wir gerade von den Menschen sprechen: Es wäre mir lieber, Ihr würdet mich in ihrer Gegenwart mit Mudt ansprechen. Der Name Olivaro, fürchte ich, wird unter ihnen zu nichts anderem als Missverständnissen führen …«

Asmodi ließ ein meckerndes Lachen hören. »Welche Gegenwart denn? Seht Euch nur um. Sie alle lauschen hingebungsvoll dem guten Jakob, der gerade gut genug singt, dass ich ihn nicht vom Blitz erschlagen lasse! – Aber um Euretwillen werde ich Euch den Gefallen tun, Herr Heinrich Cornelius Mudt von Gilding … Und nun seht her. Ich werde Euch zeigen, dass wir nicht in Gefahr sind.«

Eine junge Magd näherte sich dem Brunnen. Als sie die beiden Herren dort harren sah, erbleichte sie und bekreuzigte sich rasch, als hätte sie den Leibhaftigen erblickt. Schon wollte sie einen weiten Bogen um die zwei schlagen, als sie plötzlich erstarrte. Asmodi hatte den Arm ausgestreckt, der in ihre Richtung wies, und wie von unsichtbaren Marionettenfäden gezogen, schritt sie steif auf ihn zu und kniete nieder.

»Du hast gesündigt!«, grollte Asmodi.

»Was habe ich getan, o Herr?«

»Du hast den Falschen angerufen. Ich werde dir zeigen, wie das Kreuz zu machen ist. Steh auf!«

Die Magd gehorchte. Ihre Hand schien sich nun wie von selbst zu bewegen, als sie mit den ausgestreckten Fingern der linken Hand zunächst die Stirn berührte, dann die rechte und die linke Brust und zuletzt die Scham. Dabei rief sie voller Inbrunst: »Im Namen Asmodis, des Teufels und des Unheiligen Geistes.«

»Geh zu den Deinen, und lehre sie meinen Glauben«, befahl Asmodi.

Die Magd entfernte sich, sich immer wieder auf diese Art bekreuzigend und laut den Namen Asmodis ausrufend.

Von Gilding lächelte. »Soll mich das beeindrucken? Ist es nicht eher lästig, sich immerfort mit kleinen Dingen abzugeben als mit den großen?«

»Macht Euch darum keine Sorgen. Manchmal frage ich mich, ob es nicht doch ein Fehler war, Frieden mit Euch zu schließen. Ich halte Euch nach wie vor für einen Intriganten, der es auf meinen Thron abgesehen hat.«

Mudt schenkte dem Fürsten der Finsternis ein unergründliches Lächeln. »Hätte ich dann meine Pläne geändert und die Schwester Oberin töten lassen?«

»Ihr vergesst, dass ich es war, der dieser Lotte befohlen hat, sie umzubringen.«

»Und ich war es, der Euch überhaupt erst davon unterrichtet hat, was im haus zur heiligen dreieinigkeit wirklich vorgeht. Anstatt die Hexenzöglinge in Eurem Sinne zu erziehen und schließlich in die Welt zu entlassen, hat die Schwester den Älteren den Kopf verdreht, damit sie ihr hörig werden. Sie hat sich eine Armee von willigen Untertanen erschaffen wollen, die eines Tages Euer Verhängnis hätten werden können.«

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