Hexenhammer 1 - Die Inquisitorin

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Aus der Reihe: Hexenhammer #1
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Aber Asmodi war ihr schon wieder voraus und die steile Treppe hinab…

…gegangen? Nein, es erschien Lotte eher, als würde er hinabschweben. Hinabgleiten. So schnell, dass es ihr immer schwerer fiel, ihm überhaupt zu folgen.

Schließlich hatte sie die Küche erreicht. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung, ihr Atem ging rasselnd. Ihr Herz pochte so laut, dass sie sich wunderte, dass niemand davon erwachte und hinabgestürmt kam. Schwester Katharina war die Herrin über die Küche, es war ihr heiliges Reich. Lotte hatte oft hier unten Dienst tun müssen, und sie wusste, dass mit der Schwester nicht zu spaßen war. Erst vor ein paar Tagen hatte sie ein Mädchen, das nicht pariert hatte, mit kochendem Wasser übergossen. Wenn Schwester Katharina sie hier antraf, dann …

Asmodi lachte dröhnend. »Was bist du nur für ein seltsames Geschöpf!«, erkannte er, weil er wieder ihre Gedanken gelesen hatte. »Sorgst dich wegen dieser lächerlichen Schwester, anstatt dich vor mir zu fürchten!«

»Verzeiht, HERR!«

»Du scheinst nicht zu begreifen, mit wem du es zu tun hast. Entweder bist du dumm – oder besonders mutig.« Er lachte amüsiert. »Vielleicht auch beides, aber das werde ich schon herausfinden. Und jetzt – erfülle ich dir deinen Wunsch!«

Er klatschte zweimal in die Hände, und von überall her, aus allen Winkeln, kamen die Ratten herangewieselt. Sie kletterten auf die Schränke, öffneten die Türen, Fässer und Bottiche, klaubten sämtliche Vorräte zusammen, und in Windeseile war der große Anrichtetisch gedeckt. Er bog sich förmlich unter der Last der Speisen. Brote, Wurst, Speck und Eier, Käse und Milch – alles war in Hülle und Fülle vorhanden. Vieles davon hatte Lotte noch niemals gekostet, sondern nur ansehen oder für die Schwestern anrichten dürfen.

»Nun bedien dich schon, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit!«

Zögerlich griff sie nach einer Scheibe Brot. Es war nicht trocken oder schimmlig, wie sie es kannte. Es war frisch und verströmte einen herrlichen Duft.

Dennoch musste sie sich überwinden, hineinzubeißen.

Es ist nicht recht.

Aber andererseits … Über das Recht bestimmten die Schwestern. Doch über allem stand der HERR. Er macht die Gesetze, so stand es geschrieben in der Schwarzen Bibel, und so lehrten es die Schwestern. Also durfte sie sich bedienen, wenn der HERR es ihr erlaubte. Mehr noch: Sie musste sich bedienen, um ihn nicht zu erzürnen.

Nun biss sie herzhafter zu, schmierte Butter aufs Brot, belegte es mit Wurst und Käse. Ihr Hals war trocken, sodass es ihr schwerfiel zu schlucken. Asmodi kredenzte ihr einen Krug mit einer roten Flüssigkeit darin. War das Blut? Vorsichtig nippte sie daran. Nein, es war etwas völlig … Neues. Es schmeckte herb und bitter, aber es bewirkte schon nach wenigen Schlucken, dass sie glaubte zu schweben. Die Angst fiel von ihr ab wie ein schweres Tuch, und sie fühlte sich fröhlich und frei.

Alles um sie herum geriet in Bewegung: die Irrlichter, der Tisch mit den Speisen, die Teller, Schalen, Löffel und Messer, sie alle tanzten fröhlich umher. Auch die Ratten reihten sich in den Reigen ein und wirkten auf einmal gar nicht mehr bedrohlich.

Die Wände begannen sich aufzulösen, gaben den Blick frei auf ein wirbelndes Spektakel von Formen und Farben, wie sie Lotte noch nie erblickt hatte. Auch sie hielt es nun nicht mehr am Tisch. Mit einem Hühnerschenkel in der Hand begann sie ebenfalls zu tanzen und zu singen. Sie wusste nicht, woher sie die Melodien kannte, aber es waren nicht die, die die Schwestern sie gelehrt hatten. Sie waren fröhlich und erwärmten das Herz und …

»Schluss damit!«

Asmodis Stimme klang wie ein Gewitter. Es zerstörte von einer Sekunde zur anderen alles. Die Lichter erloschen. Die Speisen und anderen Dinge standen wieder an ihrem Platz. Die Wände schoben sich bedrohlich auf sie zu. Die Ratten waren ängstlich verstummt und duckten sich zu Boden.

»Dir ist der Trunk zu Kopf gestiegen! Woher kennst du dieses Lied?«

»Welches Lied, oh HERR?«

»Das du eben gesungen hast. Es war auf Deutsch, und es verherrlichte den Unaussprechlichen. Du hast seinen Namen genannt, du Törichte! Haben etwa die Schwestern es dich gelehrt?«

»Nein, nein, nein!« Sie wusste nicht mehr, welche Worte über ihre Lippen gekommen waren. Sie waren ihr ganz plötzlich in den Sinn gekommen und sofort wieder, kaum ausgesprochen, entschwunden.

»Das ist also der Dank!«, schrie er. »Es zeigt mir, wie unreif du doch bist! Ich habe mich in dir getäuscht, Charlotte!«

Sie spürte nicht nur Wut, sondern tatsächlich Enttäuschung. Aber was hatte er erwartet? Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte doch alles getan, was er befohlen hatte, und die Worte, diese unseligen Worte, dafür konnte sie nichts …!

Sie fühlte sich von unsichtbaren Händen auf die Steinfliesen gedrückt, Blut schoss ihr aus der Nase, sie glaubte zerquetscht zu werden wie ein Käfer, als der Druck immer schwerer auf ihr lastete. Es wurde schwarz um sie herum, doch als sie schon glaubte, in Ohnmacht gefallen zu sein, wurde sie hochgerissen, und wieder waren es unsichtbare Arme, die sie durch die Luft wirbelten, sodass sich alles drehte und ihr erneut schwarz vor Augen wurde. Dazwischen hörte sie den HERRN toben und schreien, so als ob sich seine Wut immer heftiger entfache.

Lotte schrie auf, als die Hände, die sie gepackt hielten, sie durch die Küche zur Tür schleuderten, die Treppen hinauf in die Halle. Sie kreischte, als die geschlossene Pforte auf sie zuschoss, doch wie bei ihrem Eintreten glitt sie mühelos hindurch, erblickte für ein paar flüchtige Sekunden die Sterne über sich, bevor sie endgültig begriff, wohin ihre unsichtbaren Häscher sie brachten.

Zurück ins Loch!

»Nein, bitte nicht, nein!«, schrie sie, doch ihr Flehen blieb unerhört. Sie flog die Treppen hinab, durchstieß die feuchte Wand und –

Fand sich dort wieder, wo Asmodi ihr erschienen war.

In vollkommener Dunkelheit.

Allein.

Aus der Nase schoss noch immer das Blut. Die Rippen schmerzten, als seien sie gebrochen. In ihren Ohren war ein Rauschen und Pfeifen und Dröhnen, wie der Nachhall von Asmodis Wutausbruch. Schluchzend rollte sie sich auf dem Boden zusammen und wünschte sich, nicht für einen kurzen Moment die Freiheit gekostet zu haben. Denn nun kam ihr ihr Martyrium nur noch schlimmer vor.

Hatte der HERR dies beabsichtigt?

Aber nein, er war in Wut geraten aus einem ganz anderen Grund. Weil sie versagt hatte.

Und noch immer wusste sie nicht, was genau der Grund dafür gewesen war.

AUFSTEHEN. Antreten …

Die Ratten standen plötzlich vor ihr. Zwischen Tag und Traum. War es überhaupt Tag? Oder Nacht? Wie viel Zeit war vergangen, seit sie wieder ins Loch zurückgekehrt war?

Als sie nicht schnell genug gehorchte, halfen die Ratten mit ihren kurzen spitzen Schwertern nach und stachen damit in ihr Fleisch.

»Die Schwester Oberin will dich sehen. Sofort!«

»Die Schwester Oberin …? Aber was …?«

Statt einer Antwort stachen sie abermals auf sie ein, damit sie schneller aufstand. Die Tür, durch die sie sie schoben, hatte sie zuvor nie wahrgenommen. Bevor sie sich wundern konnte, drängten die Ratten sie weiter, aufgeregt und ängstlich, den Willen der Schwester Oberin nicht schnell genug zu erfüllen.

Es war tatsächlich Tag.

Das Licht blendete sie. Lotte schloss die Augen und wünschte sich, wieder den leuchtenden Sternenhimmel zu sehen, wenn sie sie öffnete.

Doch die Zeit des Wünschens war vorbei. Sie hatte es selbst verspielt, indem sie den HERRN verärgert hatte. Sie hatte sich noch nicht einmal sattessen können.

Als sie die Halle betrat, sah sie sogleich, dass etwas passiert sein musste. Die Wände hatten Risse, die Bilder, die ihn in seinen vielfältigen Manifestationen zeigten, lagen auf dem Boden zerstreut. Manche waren zerstört. Der Boden selbst zeigte Sprünge. Überall waren Ratten, Schwestern und Schüler damit beschäftigt, aufzukehren, aufzuräumen und die schlimmsten Beschädigungen auszubessern.

Was war nur geschehen? Es sah aus, als wäre ein ganzes Heerlager kriegerischer Soldaten eingefallen und hätte alles zerstört.

Einige der Ratten warfen ihr scheue Blicke zu. Die meisten erkannte sie. Sie waren in der Nacht in der Küche gewesen, hatten mitgetanzt, hatten alles gesehen.

Ein Schreck durchfuhr sie. Sicherlich hatten die Ratten der Schwester Oberin erzählt, was sich nächtens ereignet hatte, und nun würde man sie zur Rechenschaft ziehen.

Doch gab es etwas Schlimmeres als das Loch?

Während ihre Häscher sie vorwärtsdrängten, kam ihr ein weiterer furchtbarer Gedanke. Der HERR selbst musste sich bei der Schwester Oberin über sie beklagt haben, und nun …

Unversehens fand sie sich in einem prunkvollen Zimmer wieder. Schwarzer edler Samt bedeckte die Wände. Die Schränke und anderen Möbelstücke waren mit Goldbeschlägen verziert. Aus Räucherschalen schlängelte sich schwarzer Rauch, der im ganzen Raum verteilt wie dunkler Nebel wallte.

Die Schwester Oberin saß auf einem erhöhten Stuhl aus Ebenholz und sah Lotte streng entgegen. Mit einer Handbewegung entließ sie die Ratten. Stattdessen traten Schwester Gertrud und Schwester Adelheid aus den Schatten hervor. Ihre Mienen waren versteinert.

»Komm näher!«, befahl die Schwester Oberin, und Lotte gehorchte. Noch immer geschwächt, wollten ihre Beine nicht so, wie sie wollte. Fast wäre sie über einen der schweren Teppiche gestolpert. Die Rippen schmerzten noch immer.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte die Schwester Oberin mit kalter Stimme, die eisiger war als die Zapfen vor dem Fenster.

 

»Was … gedacht?«

»Du hast den HERRN angerufen und dich beklagt!«

»Nein, das habe ich …«

»Schweig!«, schrie die Schwester Oberin. »Du hast uns alle vor dem HERRN schlechtgemacht! Aber glaube nicht, dass es dir gut bekommt. Er hat mir den Auftrag erteilt, ein Auge auf dich zu haben und dir eine ganz besondere Erziehung zuteilwerden zu lassen. Ist es wahr, dass du den Namen des Unaussprechlichen in den Mund genommen hast?«

Lotte duckte sich vor Scham und Angst. »Ich habe nur …«

Die Schwester Oberin sprang auf. »Ich höre nur Ausflüchte! Deine Missetat hat den HERRN derart erzürnt, dass er an Ort und Stelle entflammt ist. Du hast die Zerstörung gesehen. Es ist ein Wunder, dass das Haus noch steht.«

Lotte wollte etwas sagen, aber die Schwester Oberin ließ sie nicht zu Wort kommen. »Schwester Gertrud hat erkannt, was mit dir nicht stimmt, nicht wahr?«

»Oh ja«, sagte die Schwester. »Es ist der Feind in Lottes Kopf. Er versucht in so vielen Köpfen Unheil zu stiften. Wie alle unsere Körper von den Seelen des HERRN gelenkt werden, so mag das eine oder andere Schlupfloch auch seinen Feinden einen Weg in den Leib bieten. Solcherart vermögen sie im Inneren Kräfte zu erzeugen und Eindrücke hervorzubringen, die denen des HERRN spiegelverkehrt sind.«

»Klug erkannt, Schwester Gertrud, doch wie, außer mit der Gerte, können wir unserer armen Lotte die falsche Vorstellungskraft austreiben?«, unterbrach Schwester Adelheid sie ungeduldig.

»Nun, es gibt Tränke und Salben, den falschen Geist aus ihr zu vertreiben …«

»Ihr werdet beides an Lotte ausprobieren, meine Schwestern«, entschied die Schwester Oberin. Sie beugte sich zu Lotte vor: »Eines aber möchte ich von dir wissen: Auf welche Weise hast du den HERRN angerufen, dass er dir erschienen ist?«

In ihren Augen glomm etwas auf, was Lotte mehr als alles andere ängstigte:

Neid!

Sie hatte den Neid der Schwester Oberin auf sich gezogen.

»Ich … ich weiß es nicht. Er stand plötzlich vor mir!«

»Du lügst! Es ist der Unaussprechliche in dir, der aus dir spricht!«, kreischte sie und riss Schwester Adelheid die Gerte aus den Händen.

Dann waltete sie persönlich ihres Amtes.

AUFSTEHEN. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden.

Sie stand auf, begriff, dass es ohne Sinn war. Begriff, dass sie antreten musste. Begriff, dass niemand ihre Gebete erhörte.

Sie war wieder im Loch gelandet. Weder Schwester Gertrud noch Schwester Adelheid hatten mit ihren Methoden Erfolg gehabt.

»In ihrem Kopf sitzt immer noch der Feind«, hatte Schwester Gertrud erklärt. »Selbst die giftigsten Tränke bringen ihn nicht um. Er ist sehr hartnäckig.«

»Und selbst die ärgsten Schläge scheint er nicht zu spüren«, ergänzte Schwester Adelheid. »Es muss sich um einen sehr starken Diener des Unaussprechlichen handeln, der in sie gefahren ist.«

»Je stärker der Eindringling ist, umso größer seine Widerstandskraft. Wir wissen es ja: Da er aller körperlichen Eigenschaften entbehrt, empfindet er keinen Schmerz. Aber vielleicht können wir ihn austrocknen, indem wir ihn von jeglichen Sinneseindrücken fernhalten.«

Und so war Lotte erneut im Loch gelandet.

Kapitel 3

Aufstehen. ANTRETEN.

Tag um Tag, Nacht um Nacht, Stunde um Stunde horchte sie auf den Feind in ihrem Kopf. Doch sie fand ihn nirgends.

Fast war sie geneigt zu glauben, dass die Schwestern sich geirrt hatten. Immer wieder hatten sie ihr vorgeworfen, Asmodi erzürnt zu haben. Wochenlang hatte man sie gedrängt, zu antworten. Aber sie wusste es doch nicht. Die Schwestern bohrten tief, sodass sie manchmal glaubte, das Innere ihres Körpers wäre nach außen gekehrt. Doch selbst der größte Schmerz brachte keine Antwort hervor.

Genauso wenig, wie sie wusste, wie sie Asmodi gerufen hatte. Mittlerweile war sie überzeugt, dass sie es tatsächlich bewirkt hatte, so sehr drang die Schwester Oberin in sie. Doch auch hier konnte sie mit keiner Antwort dienen.

Manchmal war sie soweit, irgendetwas hinauszuschreien. Nur damit die Schwestern von ihr abließen. Damit die Schmerzen aufhörten.

Irgendetwas, und wenn es eine Lüge wäre.

Doch immer dann, wenn sie gerade bereit war, dieses Irgendetwas über ihre Lippen kommen zu lassen, kamen ihr die Worte des HERRN in den Sinn: dass die Lüge zwar eine Tugend sei, doch der Pfad zu ihr sei die Wahrheit.

Also presste sie jedes Mal wieder die Lippen zusammen, zerbiss die Lüge, bis ihre Zunge blau und blutig wie ein aufgequollener Lappen in der Mundhöhle hing. Selbst wenn die Schwester Oberin ihr schweres Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, zum Erglühen brachte und es wieder und wieder an derselben Stelle ansetzte. »Um den Feind aus dir auszubrennen«, wie sie mit einem Lächeln betonte.

Nun also das Loch.

Ihre Qualen waren jetzt andere. Die, die sie den Schwestern verdankte, waren endlich. Doch in dem Loch dehnte sich jede Sekunde bis zur Unendlichkeit.

Manchmal schlug sie den Kopf gegen den Boden, immer wieder, um den Feind, so er denn existierte, mit Gewalt aus seinem Versteck zu reißen. Doch er spürte den Schmerz nicht. Nicht wie sie, die sie mit blutigem Schädel danach aus der Ohnmacht erwachte.

AUFSTEHEN. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. VERGISS MICH NICHT!

Vergiss mich nicht!

Zum ersten Mal waren ihr die Worte über die Lippen gekommen. Aber sie verhallten nicht wie all die anderen flehentlichen Gebete. Es war ihr, als würden sie an den Wänden gebrochen, Wellen erzeugen, die im Rund des Loches kreisten und mit jeder neuen Brechung lauter und dringlicher und FORDERNDER wurden.

Vergiss mich nicht!

Vergiss mich nicht!

VERGISS MICH NICHT!

»Ich habe dich nicht vergessen.« Urplötzlich war er erschienen. Als Schwärze in der Finsternis. Mit rot glühenden Augen schaute er auf sie herab.

Obwohl sie längst schwieg, hallten die drei Worte noch immer in ihren Ohren. Und vielleicht nicht nur dort. Aber vielleicht existierten sie ja auch nur als Wahngebilde, das der Feind in ihrem Kopf erzeugt hatte.

»Schweig endlich!«, befahl Asmodi, der ihre Gedanken vernommen hatte. »Du hast mich gerufen, und ich bin gekommen.«

Irgendetwas an seinen Worten verriet Lotte, dass etwas nicht stimmte.

»Ich habe Euch gerufen, Herr?«

Dann war es wahr, was die Schwester Oberin ihr vorgeworfen hatte, dann …

»Du sollst schweigen!«, brüllte Asmodi sie an. »In dir ist etwas, das mir nicht gefällt.«

»Das sagt auch die Schwester Oberin.«

»Nein, das ist es nicht. Sie hat ganz andere Absichten …«

»Welche, Herr?«

»Das muss dich nicht interessieren. Kommen wir darauf zurück, weshalb du mich – gebeten hast zu erscheinen!«

»Ich will alles gestehen, alles auf der Welt, um wieder das Tageslicht zu sehen, HERR.«

»Das ist nicht dein dringlichster Wunsch, wie ich deinen tiefsten Gedanken entnehme. Und ich muss zugeben, ich kann deinem Wunsch einiges abgewinnen.«

»Mein erster sei, das Kreuz der Schwester Oberin zu besitzen und es ihr heimzuzahlen!«

Der Wunsch war urplötzlich da. So wie eine Kerze, die in der Dunkelheit entzündet wurde und alles erhellte. Lotte hätte alles getan, um sie wieder zum Verlöschen zu bringen, doch nun war es zu spät.

»Erlaube deinem Wunsch, sich zu entfalten«, sagte Asmodi mit sanfter Stimme. »Locke ihn hervor, speise ihn mit Hass und Rachegefühlen.«

»Aber sind Hass und Rachegefühle nicht das Werk des Unaussprechlichen?«

»Nein, sie sind unser und waren unser seit Urzeiten. Sie sind die elementarsten und stärksten Gefühle überhaupt. Die Triebkraft unserer Existenz. Der Unaussprechliche will sie uns rauben, sie für sich benutzen, daher müssen wir sie vor den Menschen verstecken, verstehst du?«

Sie verstand es nicht wirklich, nickte aber.

»Sie sind in dir und in uns allen, und diejenigen von uns werden überleben, die sie am tiefsten verstecken und im rechten Moment hervorzulocken und zu beherrschen vermögen. Und nun zögere nicht länger: Geh und erfülle dir deinen Wunsch!«

»Aber wie …?«

Die glühenden Augen verloschen. Die Schwärze löste sich in Nichts auf. Im ersten Moment glaubte Lotte, er hätte sie nur genarrt. Zögernd streckte sie die Arme aus, ging einen Schritt vor – und wie beim ersten Mal spürten ihre tastenden Finger keine Wand. Sie ging einfach hindurch, als gebe es gar kein Hindernis für sie.

Der Gang war von Irrlichtern schwach erleuchtet, sodass sie sich orientieren konnte. Sie kannte ja den Weg hinauf von ihrem ersten Ausflug. Nur ungern dachte sie nun daran zurück. Dafür flammte umso mehr das Kreuz in ihren Gedanken auf. Mit jedem Schritt wurde der Wunsch größer und größer. Auch der, es ins Feuer zu halten und danach der Schwester Oberin ins Fleisch zu brennen.

Es konnte nichts Falsches an dem Wunsch sein, denn der HERR war mit ihr. Mehr noch, sie hatte das Gefühl, dass er in ihr war. Als flüsternde Stimme, die ihr gut zuredete, die ihr Mut zusprach und ihre jämmerliche Angst zum Versiegen brachte. Die ihr schmeichelte und sie lobte für ihren Mut.

Als sie das Portal erreichte, öffnete sich die Tür wie von selbst vor ihr. Sie hielt es erst für SEIN Werk, doch dann erkannte sie die beiden Ratten, die ihr geöffnet hatten. Eine stand auf der Schulter der anderen, damit sie den Riegel hatte hochschieben können.

Wie eine Schlafwandlerin schritt sie an den Ratten vorbei, folgte den Irrlichtern, die genau zu wissen schienen, wohin ihr Weg führte.

Die Gemächer der Schwester Oberin befanden sich im oberen Geschoss. Niemand stellte sich Lotte in den Weg, als sie die Treppen hochging, an den geschlossenen Türen vorbeihuschte, bis sie schließlich vor der Tür stand, hinter der die Räumlichkeiten der Schwester Oberin lagen.

Doch kaum war Lotte die Frage durch den Kopf geschossen, wie sie hineingelangen konnte, hörte sie Stimmen von drinnen. Die eine erkannte sie sogleich als die der Schwester Oberin. Die andere – war eine männliche!

Bis auf die Ratten und die Schüler und die Priester, die zuweilen im haus zur heiligen dreieinigkeit empfangen wurden, doch nie über Nacht blieben, war Männern der Zugang verwehrt.

Die Ratten sprachen anders, mit piepsigen Stimmchen, auch wenn sie sich noch so stark vorkamen. Die Jungen waren allesamt nicht im Stimmbruch. Also war doch ein Priester über Nacht geblieben? Nur was hatte er dann mitten in der Nacht mit der Schwester Oberin zu bereden?

Nun geh schon, zischte Asmodis Stimme in ihr. Ich will wissen, was die beiden zu bereden haben. Also merk dir jedes einzelne Wort!

Gehörte das zu dem Plan? War es Teil einer Aufgabe? Ganz bestimmt aber war es nicht ihr Wunsch.

Im Gegenteil, ihr Mut war plötzlich wie fortgeblasen. Der Gedanke, an das Kreuz der Schwester Oberin zu gelangen, kam ihr tollkühn vor. Und erst recht ihre Rachegedanken, die nicht aus ihr selbst gekommen zu sein schienen, so fremdartig kamen sie ihr nun vor.

Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre fortgelaufen. Weit fort, wenngleich sie nicht gewusst hätte, wohin.

Doch als wäre sie nicht mehr die Herrin über ihren Körper, fühlte sie sich vorwärtsgeschoben. Fast hätte sie aufgeschrien, als sie gegen die Tür gepresst wurde, doch im nächsten Augenblick war sie wie ein Geist durch das Holz gedrungen und fand sich auf der anderen Seite wieder.

Der Raum war von schwarzen Kerzen schwach erhellt. Die Schwester Oberin saß einem Mann gegenüber, den Lotte nur von hinten sehen konnte.

Das Gespräch verstummte urplötzlich, die Schwester Oberin schaute über die Schulter des Mannes hinweg direkt zu Lotte.

Der blieb fast das Herz stehen, und vor Schreck bekam sie nicht einen Satz heraus. Wie sollte sie auch erklären, wie sie durch die Tür gekommen war und warum sie hier stand, wo sie doch ins Loch gehörte?

Die flüsternde Stimme in ihrem Kopf war verstummt, dabei hätte sie gerade jetzt den Beistand des HERRN herbeigesehnt.

»Merkwürdig«, sagte die Schwester Oberin. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört … Schritte … und ein Kratzen an der Tür …«

Sie wandte den Blick von Lotte ab, die nicht begriff, was vor sich ging. Sah die Schwester Oberin sie denn nicht?

 

Der Mann erhob sich und wandte den Kopf in ihre Richtung. Doch auch er schien sie nicht wahrzunehmen.

»Wir sollten besser nachsehen«, sagte er und kam auf sie zu. Rasch trat Lotte einen Schritt zur Seite, damit er sie nicht über den Haufen rannte.

Er schritt an ihr vorbei, ohne sie zu beachten, und verhielt lauschend vor der Tür. Mit einer heftigen Bewegung riss er sie auf und trat hinaus auf den Korridor. Er schaute in alle Richtungen, ehe er kopfschüttelnd wieder ins Zimmer kam und die Tür hinter sich schloss.

»Merkwürdig, da war eine seltsame Aura, die ich für einen Augenblick zu spüren glaubte, …«

Er schritt erneut an Lotte vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Dabei konnte Lotte ihn nun genau betrachten. Er hatte ein pausbäckiges Gesicht mit roten Wangen. Die Haare waren kurzgeschoren. Die feine Kleidung, die er trug, war eines Edelmannes würdig.

Er nahm wieder Platz.

»Ich habe gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, uns hier zu besprechen.«

»Aber meine Liebe, Asmodi vertraut mir. Warum sollte er argwöhnen, dass wir unsere eigenen Pläne haben?«

»Die Zerstörung neulich, das war sein Werk.«

»Vielleicht wollte er nur einmal wieder daran erinnern, wer Herr im Haus ist. Und dazu hat er sich dieses Mädchens bedient.«

»Charlotte, ein sehr eigenwilliges Geschöpf. Ich durchschaue das Mädchen noch nicht ganz …«

Charlotte. Zum zweiten Mal vernahm sie diesen Namen.

»Ich werde schon noch aus ihr herausbekommen, ob Asmodi ihr geholfen hat, aus dem Loch zu fliehen.«

»Ihr müsst mir das Mädchen bei nächster Gelegenheit vorführen. Vielleicht hat sie Gaben, die wir nicht kennen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie ist seit vielen Jahren bei uns und nie besonders auffällig geworden. Ich würde sagen, dass sie ausgesprochen einfältig ist.«

Der Fremde erhob den Zeigefinger. »Ihr wisst sehr wohl, dass sich bei den meisten Eurer Zöglinge das jeweilige Talent erst im Jugendalter entfaltet.«

»Dann wäre sie besonders frühreif«, widersprach die Schwester Oberin. »In ein paar Tagen werde ich sie aus dem Loch entlassen und sie mir noch einmal vorknöpfen.«

»Ich wäre zu gern dabei«, sagte der Mann und knetete erwartungsvoll die feingliedrigen Hände. »Ihr wisst, ich habe andere Methoden als Ihr!«

»Noch seid Ihr nicht der Fürst der Finsternis!«

»Und Ihr nicht meine treueste Gefährtin. Es liegt noch viel Arbeit vor uns …«

Sie stießen aus kristallenen Kelchen an, in denen eine blutrote Flüssigkeit schwappte. Dann ergriff erneut die Schwester Oberin das Wort.

»Ich weiß nicht, ob ich noch lange die Geduld habe zu warten, Herr von Gilding. Was habt Ihr als Nächstes geplant, um seinen Thron zu erobern?«

»Die Geduld müsst Ihr schon aufbringen, Gnädigste. Was zählen für uns Monate, gar Jahre oder Jahrzehnte? Ich reise in allen Ländern umher und schare Verbündete um mich. Eure Rolle ist dabei nicht unerheblich …«

»Das braucht Ihr mir nicht zu sagen, Herr von Gilding. Mein Anteil an Eurem Vorhaben ist mir nur zu bewusst. Und trotzdem …«

»Und trotzdem zweifelt Ihr, ob es weiterhin richtig ist, mich zu unterstützen?«, fragte der Mann, der sich von Gilding nannte, gefährlich leise. »Habt Ihr plötzlich Sorge, Asmodi könnte Euch auf die Schliche kommen?«

Die Schwester Oberin sprang auf. »Das ist er bereits, habt Ihr es nicht begriffen?«

Im Nu gab ein Wort das andere, die beiden stritten so heftig miteinander, dass Lotte schon glaubte, sie würden sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Doch schließlich sagte die Schwester Oberin: »Ihr habt es einmal mehr geschafft, mein Blut derartig in Wallung zu bringen, dass ich der Abkühlung bedarf.«

Sie lächelte auf eine Art, die Lotte nicht zu deuten wusste.

Der Herr von Gilding grinste. »Die Abkühlung will ich Euch verschaffen. Doch zuerst werde ich Euer Blut wohl noch mehr zum Kochen bringen.«

»Lassen wir es der Worte gut sein. Ihr kennt den Weg …«

»Durchaus, Gnädigste.«

»Dann gebt mir eine Minute, bevor Ihr mir folgt.«

»Aber sicher …«

Die Schwester Oberin verschwand in eine der Nebenkammern, während von Gilding sich ebenfalls erhoben hatte und nun im Zimmer umherging. Seine Wangen hatten noch mehr Farbe angenommen als zuvor. Sein Gesichtsausdruck war jedoch verschlossen. Ihm konnte Lotte nichts entnehmen. Und noch immer war es ihr ein Rätsel, weshalb er sie nicht sehen konnte.

Zumindest für sich selbst war sie nicht unsichtbar. Wenn sie an sich herabsah, konnte sie ihren Körper, ihre Arme und Hände, ihre Beine und nackten Füße erkennen. Alles war wie sonst, nur dass die anderen sie nicht sahen.

Ich bin ein Geist, dachte sie auf einmal erschrocken. Deswegen können sie mich nicht sehen!

Ein weiterer Schreck durchfuhr sie, als ihr die Konsequenz ihres Gedankens bewusst wurde:

Ich bin ein Geist, also weile ich nicht mehr unter den Lebenden!

Nach einer Weile verschwand auch von Gilding in die Nebenkammer. Lotte wagte nicht, den beiden zu folgen. Nach wie vor wäre sie am liebsten umgekehrt, allein die Geräusche, die aus der Kammer drangen, trieben ihr die Röte ins Gesicht.

Doch dieselbe Kraft, die sie zuvor in das Zimmer hineinbefördert hatte, hinderte sie nun daran, den Rückzug anzutreten. Zudem bahnte sich der Wunsch, sich das Kreuz der Schwester Oberin anzueignen, erneut den Weg an die Oberfläche. Zugleich entflammte der Durst nach Rache neu. Der HERR würde sicherlich nicht erbaut darüber sein, wenn sie fehlte. Umso erfreuter würde er sein, wenn er sah, dass sie begriffen hatte. Und wieder hatte sie seine Worte im Ohr:

Sie sind die elementarsten und stärksten Gefühle überhaupt. Die Triebkraft unserer Existenz.

Ja, sie hatte verstanden!

Es schien ihr endlos zu dauern, bis die Schwester Oberin und der Fremde aus dem Schlafgemach zurückkehrten.

Bis auf das schwere Kreuz, das die Schwester Oberin um den Hals trug, war sie nackt, so wie der HERR sie erschaffen hatte. Das war nicht ungewöhnlich, bei mehreren Riten hatte Lotte sie bereits so erblickt. Doch dass sie sich einem Manne gegenüber entblößt hatte, hatte sicherlich einen anderen Grund gehabt.

Von Gilding schien es nun sehr eilig zu haben.

»Bis zum nächsten Mal, meine Liebste!«, verabschiedete er sich. »Und passt auf Euch auf. Schließlich will ich meine treueste Dienerin nicht missen, wenn ich den Thron erobert habe.«

Die Worte waren noch nicht verklungen, da war er plötzlich nicht mehr zu sehen. Lotte stockte der Atem. Ihr Blick flog zur Tür, dann zum Fenster. Es war nicht zu erkennen, auf welche Weise der Fremde den Raum verlassen hatte. Sie begriff, über welche Macht er verfügen musste – und welch ein Glück sie gehabt hatte, dass er sie nicht entdeckt hatte. Bestimmt hätte er sie getötet. Denn auch wenn sie nicht alles verstanden hatte, was er und die Schwester Oberin beredet hatten, so erkannte sie doch, dass es auf keinen Fall für ihre Ohren bestimmt gewesen war.

Ihre Geduld wurde nicht mehr lange auf die Probe gestellt. Die Schwester Oberin gähnte ein paar Mal heftig und löschte mit einer einzigen Handbewegung die Kerzen, bevor sie erneut in ihrem Schlafgemach verschwand.

Lotte konnte sich wieder bewegen! Sie schlich zur Tür und horchte. Nach kurzer Zeit vernahm sie nur noch die ruhigen Atemzüge der Schwester Oberin.

Dennoch wartete sie zur Sicherheit noch etwas ab, bis sie endlich auf Zehenspitzen in die Kammer schlich. Im Ofen knisterte nur noch die Glut, doch sie reichte aus, um sich in der Kammer zurechtzufinden. Lautlos schlich Lotte zum Bett, wobei ihr die Tatsache, dass sie nicht zu sehen war, den nötigen Mut verlieh.

Die Schwester Oberin lag nackt auf dem Rücken. Ihr üppiger, straffer Busen hob und senkte sich gleichmäßig. Das Objekt von Lottes Begierde, das Kreuz, ruhte auf dem Bauch.

Vorsichtig streckte Lotte die Hände danach aus. Doch erst jetzt stellte sich ihr die Frage, wie sie es der Schwester Oberin entwenden sollte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie es auch des Nachts trug. Sie konnte ihr das Kreuz nicht heimlich wegnehmen, es hing an der Kette. Und die hing um den Hals der Schwester Oberin.