Katzmann und die Dämonen des Krieges

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Katzmann und die Dämonen des Krieges
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Uwe Schimunek



Katzmann und die

 Dämonen des

 Krieges



Der zweite Fall



Kriminalroman



Jaron Verlag





Uwe Schimunek, Leipziger Journalist und Autor, wurde vor allem durch seine Kurzgeschichten bekannt. Er nimmt seit 2006 mit Lesungen an den jährlich stattfindenden Ostdeutschen Krimitagen teil. Mit dem Krimi-Kleinkunst-Programm «Killer-Kantate» ist er regelmäßig auf der Bühne zu sehen. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählbände «13 kleine Thriller» (2009) und «13 kleine Thriller plus drei» (2010) sowie die Novelle «Das Thüringen Projekt» (2009).



Originalausgabe



1. Auflage 2011



© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin



1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH



Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.





www.jaron-verlag.de





Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin



ISBN 9783955520519




Inhaltsverzeichnis





Cover







Titelseite







Impressum







Widmung







EINS  Freitag, 13. Februar 1920







ZWEI  Samstag, 14. Februar 1920







DREI  Sonntag, 15. Februar 1920







VIER  Montag, 16. Februar 1920







FÜNF  Dienstag, 17. Februar







SECHS  Mittwoch, 18. Februar







SIEBEN  Donnerstag, 19. Februar







ACHT  Freitag, 20. Februar







NEUN  Sonnabend, 21. Februar







ZEHN  Sonntag, 22. Februar







ELF  Mittwoch, 24. März 1920







NACHBEMERKUNG







Die Reihe







Meinen Großvätern - den Großhandels-Kaufleuten



Werner May (1918–1984) und Franz Schimunek (1912–1993)




EINS

 Freitag, 13. Februar 1920



HELMUT CRAMER hielt nicht viel von Aberglauben, deshalb fiel es ihm auch nicht schwer, seinen kleinen Beutezug an diesem Freitag, dem dreizehnten Februar, anzutreten. Was sollte schon passieren, hier im Großhandel Preßburg in der Mittagspause? Die Lagerarbeiter und die Angestellten saßen mit Sicherheit beisammen, aßen Schwarzbrot mit Schmalz und unterhielten sich über das bevorstehende Wochenende.



Der Gang am Rande der Lagerhalle zog sich so weit hin, dass die Stahltür am Ende wie ein verbeulter Verschlag für Liliputaner wirkte. Helmut Cramer passierte die Porzellanabteilung. Zu seiner Rechten stapelten sich bemalte Kaffeekannen bis zur Decke, in zehn Meter Höhe. Ein Regal weiter runde Teller, die in ihrer exakten Ausrichtung wie antike Säulen in die Höhe ragten. Zwischen den rostigen Regalträgern wirkten die sauberen Geschirrteile, als wären sie Boten einer besseren Zukunft.



Die bessere Zukunft für Helmut Cramer musste ihren Anfang hinter der Stahltür und eine Treppe höher nehmen, genauer gesagt im Bureau des Inhabers. Dort wartete das Startkapital für die großen Pläne seines Bruders.



Helmut Cramer merkte, wie er schneller lief, die Töpfe und Tiegel zu seiner Rechten nur noch als leuchtende schwarze Punkte wahrnahm. Er passierte Regale mit den neuen elektrischen Waschmaschinen, die Wäsche wie von alleine reinigten. An den hölzernen Bottichen waren Antriebsräder angebracht, groß wie der Boden eines Bierfasses. Die Geräte wirkten ein wenig so, als wollten sie aufstehen und losrollen, um ihre reichen Besitzer in der guten Stube heimzusuchen und mit Maschinenöl zu bespritzen. Er kam an den Waschbecken vorbei, weiße Unschuld blendete seine Augen.



Als er die Badezimmerspiegel erreichte, hielt Helmut Cramer kurz inne. Ja, die Frisur saß korrekt. Er lächelte: Es gab gute Gründe dafür, dass er von den Kumpels «der Schöne» genannt wurde. Aber sein Bruder hatte recht, der Anzug musste dringend ersetzt werden. Er sah schon fast aus wie einer der Hungerleider, die sich den ganzen Tag in der Stadt rumtrieben, an den Knien war der Stoff der Hose abgewetzt, unter dem offenen Mantel knitterte das Jackett, als hätte er darin geschlafen. So würde ihn niemand als Geschäftsmann ernst nehmen.



Als er an den Kleinteilen vorbeikam, überlegte er kurz, ob er nicht seine Taschen mit Haarreifen, Kämmen und Handspiegeln vollstopfen sollte, Frauen standen auf Geschenke. Aber dann würde sein Bruder ihn bestimmt ausschimpfen. Bertold hatte den Humor verloren, seit ihm dieser Franzose im Krieg mit dem Gewehrkolben den rechten Kiefer zertrümmert hatte und sie als Bruderpaar bei den Kumpeln «der Schöne» und «der Schiefe» hießen. Na ja, das war sicher auch nicht leicht für Bertold. Seither nahm der die Sache mit den Gesetzen nicht mehr ganz so ernst.



Helmut Cramer erreichte die Tür, aus der Nähe erwies sich der vermeintliche Stahl als billiges Blech. Er drückte die Klinke, zog. Die Scharniere quietschten, als würde eine Katze gefoltert. Ein Blick zurück beruhigte ihn. Niemand da, alle noch beim Essen.



Im Treppenhaus klangen seine Schritte, als würde ein Stein durch eine Höhle schnippen. Er versuchte, nur mit den Fußballen auf die Stufen zu treten, obwohl er sicher war, dass in den Bureaus keine Angestellten arbeiteten. Im ersten Stock bog er in den Gang ein. Ganz hinten rechts musste nach der Beschreibung seines Bruders Preßburgs Bureau sein.



Früher hatte auch Bertold hier auf diesem Gang gearbeitet, vor dem Krieg, als er noch Handelsvertreter beim Großhandel Preßburg war und noch nicht «der Schiefe» genannt wurde. Jetzt saß er für ein kümmerliches Gehalt draußen im Pförtnerhäuschen und träumte wahrscheinlich wieder von seinem eigenen Geschäft. Helmut Cramer konnte den Ehrgeiz seines Bruders nur schwer nachvollziehen. Die Stadt, ja ganz Deutschland lag am Boden, das war doch nicht die Zeit für Visionen. Bertold sagte immer, das werde schon wieder. Helmut Cramer selbst nahm lieber jetzt mit, was er kriegen konnte. Immerhin ein Anzug …



Auf der Tür stand mit Frakturschrift August Preßburg - Inhaber geschrieben. Leise öffnete Helmut Cramer die Tür und betrat das Vorzimmer. Alle Wände waren von Regalen verdeckt, es sah fast aus wie im Lager, nur dass die Unmengen von Aktenordnern nicht frisch aus der Fabrik kamen, sondern vergilbte Rückseiten hatten, als stünden sie schon hier, seit der Kaiser seine guten Zeiten gehabt hatte. Cramer las die Aufschriften: 1895, 1896, 1897… Ja, da war Wilhelm II. noch frisch gewesen.



In der Wand zu seiner Linken führte eine Holztür mit barocken Verzierungen offenbar in Preßburgs Bureau. Aber dort würde Helmut Cramer gar nicht hineingehen müssen, sicher stand die Handkasse in dem Schreibtisch neben der Tür. Seine Blicke wanderten über den Schreibtisch: Eine Reihe Bücher, genau ausgerichtet, auf der Schreibmaschine daneben leuchtete der Schriftzug Mignon, als käme das Gerät frisch vom Werk. Ein Stapel Papiere, akkurat auf Kante sortiert, lag vor einem schwarzen Fernsprecher. Kein Staubkorn … Hier arbeitete eine sorgfältige Tippse, sicher kein Problem, die Kasse in einer der Schubladen zu finden.



Er ging leise auf den Schreibtisch zu, weiter in die Mitte des Raumes. Hinter dem Möbelstück, gleich neben der Tür, wurden auf dem Fußboden schmale dunkelgraue Kästchen sichtbar. Nein, keine Kästchen … Fußsohlen. Schuhe. Socken. Hosenbeine. Da lag einer auf den Dielen.



Helmut Cramer bemerkte, dass er stehengeblieben war. Hier hatte doch keiner herumzuliegen - und schon gar nicht so ruhig! Im Vorzimmer herrschte absolute Stille, das Fenster zum Hof war verschlossen, wie es sich im Winter gehörte. Er hörte niemanden atmen, bis er bemerkte, dass er selbst schon seit Sekunden die Luft angehalten hatte, und seine Nase wieder in Betrieb setzte. Der Geruch von trockenem Papier … Wenn der Regungslose dort tot war, dann noch nicht sehr lange.



Leise ging Helmut Cramer auf den Körper zu, einen Schritt, noch einen. Es bestand kein Zweifel, der Mann würde nicht mehr aufstehen. Der Kopf lag in einer Blutlache, und die stammte von einem Loch in der Stirn, klein wie ein Pfennigstück. Fast sah es aus, als wäre dem Mann ein drittes, ein schwarzes Auge gewachsen. Ein Auge, das düster über den beiden echten ruhte, die weit aufgerissen an die Decke zu starren schienen.



Helmut Cramer wandte seinen Blick ab. Zwischen der Leiche und dem Schreibtisch stand ein Diplomatenkoffer in der Blutlache. Am Rand des Koffers hatte sich ein Rinnsal gebildet, langsam lief das Blut unter den Schreibtisch. Es glitzerte im Mittagslicht, das durch das Fenster fiel. Der Mann lag bestimmt erst seit ein paar Minuten hier. Einen Schuss hatte Helmut nicht gehört. Der Mord war wohl geschehen, unmittelbar bevor er die Lagerhalle betreten hatte. Seither hatte er keinen Menschen gesehen oder gehört. Der Mörder konnte kurz zuvor geflohen sein - oder er war ganz in der Nähe …

 



In Preßburgs Bureau hinter der Tür klirrte es. Als wäre ein Glas von einem Tisch gefallen oder aus einem Schrank. Helmut Cramer ergriff den Koffer. Stürzte zur Tür. Und rannte los.



Das war wieder mal typisch! Natürlich glaubte Heinz Eggebrecht nicht an etwaige besondere Schicksalsschläge, die durch das Zusammentreffen des Dreizehnten eines Monats mit einem Freitag herrührten. Aber es führte kein Weg an der Tatsache vorbei, dass soeben eine Kraftdroschke an ihm vorübergefahren war und ihn vollgespritzt hatte. Mit dem Wasser aus einer der wenigen Pfützen, die von dem Schauer am Vormittag übrig geblieben war.



Nun stand er vorm Leipziger Hauptbahnhof und schaute in Richtung der Grünfläche, die in diesem milden Februar eher eine Grauf läche war. Die Farbe ähnelte der, die sein rechtes Hosenbein und der Mantel mit ihren Schlammflecken angenommen hatten.



Der Mantel war freilich vorher nicht viel ansehnlicher gewesen, darüber machte Heinz Eggebrecht sich keine Illusionen. Den Lodenmantel hatte er von seinem Onkel geerbt, der zwar etwas kleiner, jedoch deutlich dicker als er selbst gewesen war. Aber man konnte doch nicht für jedes Wetter einen Überzieher kaufen, und im Wintermantel würde er schwitzen, im Jackett frieren. Fünf Grad im Februar - das Wetter spielte verrückt. Oder wollte Petrus ein Zeichen setzen, dass es aufwärts ging? Mit Deutschland, mit Leipzig?



Dass es mit ihm persönlich aufwärts ging, konnte Heinz Eggebrecht noch nicht behaupten. Er stand hier und wartete auf einen gewissen Konrad Katzmann, die Edelfeder aus Dresden. Und er, der kleine Lehrling, der Redaktionsstift, der Knecht für alles, sollte den feinen Herrn Katzmann in Leipzig begleiten, bei seinen … Ja, wobei eigentlich?



Da hatte der Spund natürlich keine Fragen zu stellen. Das wäre prinzipiell kein Problem, wäre Heinz Eggebrecht nicht schon zu lange der Kleine gewesen.



Und er stand schon viel zu lange hier vor dem Bahnhof. Um zwei wollte Konrad Katzmann mit seinem Motorrad ankommen, jetzt zeigte die Uhr am Eingang der Osthalle schon zehn vor halb drei. Warum konnte Katzmann nicht wie jeder normale Mensch mit der Eisenbahn aus Dresden anreisen? Nein, der Herr Reporter musste sein eigenes Motorgefährt mit an die Pleiße bringen. Als ob es hier keine Straßenbahn gäbe und keine Kraftdroschken. Kraftdroschken, die armen Lehrlingen die Anziehsachen beschmutzten, während sie auf Schreiberlinge aus Dresden warteten.



Von links, von der Wintergartenstraße, brauste das nächste Motorgefährt heran. Heinz Eggebrecht trat einen Schritt von der Bordsteinkante zurück. Noch war ein Hosenbein trocken, und das sollte auch so bleiben.



Der Lärm kam von einem Lastkraftwagen, in das Motorengebrüll mischte sich ein dumpfes Geräusch, das klang, als rollten Felsbrocken den Berg herunter. Der Wagen fuhr an Heinz Eggebrecht vorbei, auf der Plane flatterte der Schriftzug der Brauerei Riebeck, offenbar wurden hier Bierfässer ausgefahren. Er bekam Appetit auf ein Pils, stellte sich vor, wie er ein frisches Bier von einem Kellner gebracht bekam, eiskalt, mit einer schneeweißen Krone. Er malte sich aus, wie er den Bempel ansetzte, wie das Getränk die Kehle herunterfloss, sich ein Gefühl von Frühling vom Hals ausgehend im ganzen Körper ausbreitete …



«He! Sind Sie Heinz Eggebrecht?»



Die Stimme drang durch das Geknatter eines Motorradgespannes. Das stand direkt vor Heinz Eggebrecht am Straßenrand. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann mit einer enganliegenden Ledermütze unter einem grauen Stahlhelm und einer Schutzbrille, die ihn wie ein Insekt aussehen ließ - vielleicht wie einen zu groß geratenen Moskito, der sich in der Klimazone geirrt hatte.



«Hallo! Hören Sie mich?»



«Äh … Ja …»



«Heinz Eggebrecht?»



«Heinz Eggebrecht. Konrad Katzmann?»



«Sie haben es nicht so mit ganzen Sätzen, was? Aber ja, ich bin Konrad Katzmann.»



Heinz Eggebrecht brauchte ein paar Augenblicke, um die Worte des Moskitos zu verarbeiten. Ihm fiel keine Entgegnung ein. Sicher würden ihm heute Nacht beim Einschlafen tausend originelle Sprüche in den Sinn kommen - doch dann gäbe es niemanden mehr, der sie hören konnte, nur noch den Ärger, das nicht gleich gesagt zu haben. Aber was …



«Sie dürfen ruhig ‹Guten Tag› sagen, gerne auch ohne Verb. Guten Tag!»



Er war zu spät, der Moskito hatte den Einfall gehabt, den verbalen Hieb gesetzt. Heinz Eggebrecht kam sich vor wie ein Depp. Er musste endlich etwas sagen …



«Sie können aber auch stumm bleiben.» Der Moskito hob die Arme, zog den rechten Handschuh von den Fingern und streckte Heinz Eggebrecht die Hand entgegen.



Den Händedruck konnte Heinz Eggebrecht schwer einordnen, nicht zu kräftig, aber auch keinesfalls mädchenhaft. Er selbst widerstand dem Impuls, seine Hände zum Schraubstock werden zu lassen. Die erste Runde ging wohl an den Moskito.



Er sagte: «Willkommen in Leipzig.»



«He, Sie können ja doch sprechen. Da bin ich aber beruhigt.» Der Moskito grinste, zog seine Hand zurück und beugte sich in den Seitenwagen - so tief, als wolle er in dem Gefährt verschwinden. Heinz Eggebrecht konnte nur noch den Rücken sehen. Und den Rand des Helmes, der aus diesem Blickwinkel an ein Küchenutensil erinnerte, vielleicht einen alten Wassertopf oder einen Blechnapf.



Der Moskito im Blechnapf tauchte wieder aus den Tiefen des Seitenwagen-Fußraums auf und hatte einen zweiten Helm in der Hand. Der sah um einiges älter aus als der auf dem Moskitokopf.



«Nun setzen Sie den Helm schon auf! Wir wollen losfahren.»



Liesbeth Weymann ging vorsichtig über den Hof des Großhandels Preßburg. An einem Freitag, dem Dreizehnten, musste sie ihr Glück nicht unbedingt herausfordern. Den Umweg über den Hof nahm sie, weil die Arbeiter für gewöhnlich nicht mit frivolen Worten sparten, wenn sie durch die Lagerhalle ging. Das gefiel ihr nicht, schon gar nicht an diesem Freitag.



Heute passierten ohnehin seltsame Dinge. Erst schickte der Chef sie zur Mittagzeit zum Einkauf: Kaffee, Zucker und Milch sollte sie besorgen. Das kam sonst nie vor. Herr Preßburg legte immer sehr viel Wert darauf, dass sie mit ihm, dem Prokuristen und den Abteilungsleitern zu Tisch ging. Überhaupt war Herr Preßburg heute sonderbar gewesen, als ob er an diesem Freitag, dem Dreizehnten, ein Unglück erwartete.



Nun gut, Liesbeth Weymann musste zugeben, dass ihr der Aberglaube an sich nicht fremd war, aber selbstverständlich konnte sie solchen Zauber nicht ernst nehmen. Und ihr Chef vermutlich erst recht nicht.



Das war aber längst nicht alles: Wieso hatte niemand im Pförtnerhäuschen gesessen, als sie eben auf das Betriebsgelände gekommen war? Wo trieb sich Herr Cramer mit seinem schiefen Gesicht herum? So konnte doch jeder Strolch vollkommen unbemerkt auf das Gelände gelangen.



Liesbeth Weymann erreichte die Tür des Treppenhauses und ging hinein. Sie bemerkte erst jetzt, wie mild die Luft auf dem Hof gewesen war, so als wäre der Frühling bereits im Anmarsch. Im Haus wurde die Atemluft plötzlich trocken wie der graue Mörtel an den Wänden.



Von der Treppe klangen Schritte herunter, schwer wie Schläge auf einen Amboss. Sie erreichte die Stufen, und Herr Cramer kam ihr entgegen, schritt herab, als wolle er mit seinen Armeestiefeln überprüfen, ob der Granit ihn auf seinem Weg nach unten hielt. Liesbeth Weymann nickte zum Gruß. Sicher war der Schiefe nur auf der Toilette im ersten Stock gewesen. Der Mann verzog den linken, intakten Mundwinkel. Das Grinsen sah aus wie in Stein gehauen, aber das konnte auch an der schlimmen Kriegsverletzung in Herrn Cramers Gesicht liegen.



Als sie sich allein fühlte, nahm sie den Beutel mit den Einkäufen in die linke Hand, so konnte sie sich mit der rechten am Geländer festhalten - auch hier drinnen war schließlich Freitag, der Dreizehnte …



Liesbeth Weymann erreichte den Gang. Die Türen zu den meisten Bureaus standen offen oder waren nur angelehnt. So konnte sie zwar keinen Menschen sehen, dafür aber hören, dass Leben in der Firma herrschte. Die Verkäufer riefen pausenlos Angebote in ihre Fernsprecher: «Ja, von den Handtüchern haben wir einen großen Posten vorrätig …» - «Natürlich machen wir Ihnen einen guten Preis, Sie gehören schließlich zu unseren besten Kunden …» - «Ich komme gerne am Montag vorbei, passt es Ihnen um elf Uhr?»



Noch vor ein paar Monaten hatte es an einem Freitagnachmittag kaum etwas zu tun gegeben, waren die Verkäufer nach dem Mittagessen mangels Kundschaft nach Hause geschlichen. In diesem noch recht jungen Jahr schien es Hoffnung zu geben. Viele Fabriken begannen, wieder Produkte für das alltägliche Leben herzustellen, nachdem es mit Waffen und anderem Kriegsgerät nichts mehr zu verdienen gab. In der Stadt eröffneten nach und nach neue Läden. Der milde Winter tat sicher sein Übriges. Da ging auch bei Liesbeth Weymanns Familie nicht das ganze Geld für Kohlen drauf.



Im Zimmer des Verkaufsleiters rumorte eine Schreibmaschine - es klang, als würden die Hufe von den Zugpferden eines Mehrspänners über Kopfsteinpflaster klappern. Der Galopp lief nicht recht synchron. Frau Lindner hat einfach keinen Rhythmus beim Tippen, dachte Liesbeth Weymann.



Natürlich musste Frau Lindner mit der alten Mignon schreiben und konnte nicht mit dem neuesten Modell arbeiten wie sie selbst, aber Liesbeth Weymann war sich auch ihrer Fingerfertigkeit bewusst. Nicht zuletzt deswegen hatte sie sofort die Stelle im Chefbuero bekommen. Manchmal bemerkte sie, wie neidisch Frau Lindner war, weil sie auch gerne den Schreibtisch hinter der Tür gehabt hätte, deren Klinke Liesbeth Weymann jetzt drückte.



Seltsam, das Schloss war nicht eingerastet. Sie drückte die Tür auf und ging nach links, an der Wand entlang, zu ihrem Schreibtisch. Sie setzte sich und schaute zur Tür des Preßburg’schen Bureaus. Die stand offen! Sehr verwunderlich. Aber noch seltsamer war das, was sie aus dem Augenwinkel auf dem Fußboden wahrnahm. Das sah aus wie ein Torso. Als würde da eine Wachsfigur liegen. Auf einer Art dunklem Filz, der sich auf dem Holz der Dielen gebildet hatte. Blass wie …



Es war keine Wachsfigur. Sondern Preßburg. Tot!



Liesbeth Weymann lief ein Schauer über den Rücken, als würde ihr jemand mit einem Grashalm über die Bluse streichen, vom Hals bis zum Gürtel - mit einem eisigen Grashalm.



Was sollte sie tun? Hingehen? Um Hilfe rufen?



Liesbeth Weymann drehte sich auf dem Bureaustuhl nach links, stand auf, ging vorsichtig auf den Leichnam zu. Ohne zu atmen. Einen Schritt, noch einen Schritt.



Der tote Chef sah aus der Nähe und von oben nicht mehr wie eine Figur aus - das Grau des Gesichts wirkte nicht wächsern, eher aschfahl. Nun sah sie auch die Einschussstelle. Den Blutfleck auf dem Boden. Der hatte etwa die Form des halben Kontinents Afrika auf einer Landkarte, die andere Hälfte schien unter dem Schreibtisch zu verlaufen. Liesbeth Weymann wunderte sich über die Farbe: mattschwarz, als würden Kohleablagerungen aus den Dielen quellen.



Sie stand starr vor der Leiche. Ihre Lungen verlangten nach Luft, sie öffnete den Mund, hörte sich schreien.



«Kann ich noch einen Schluck haben?» Helmut Cramer hielt seinem Bruder den Bierbembel hin.



Bertold goss etwas aus dem Krug, den er aus der Wirtschaft an der Ecke geholt hatte, in das Gefäß. Dann füllte er auch seinen eigenen Bembel auf und sagte: «Prost!»



Die beiden Steingutkrüge stießen aneinander, mit einem Geräusch, das klang, als würde jemand mit einem Hammer auf einen Ziegelstein schlagen. Helmut Cramer war übermütig vor guter Laune. Die rührte von dem Koffer her, der direkt neben ihnen lag - genauer gesagt von dessen Inhalt.



Helmut Cramer schaute noch einmal hinüber. Der Koffer blitzte. Fast eine halbe Stunde lang hatten sie geschrubbt, bis das Blut auf dem Leder nicht mehr zu sehen war. Dann hatten sie sich getraut, den Verschluss zu öffnen. Und da lag die ganze Pracht.



Die Geldscheine waren immer noch da, sahen aus, als müssten sie mit Gewalt von den Banderolen in den Bündeln gehalten werden. Rechts gammelten Markscheine aus den Packen, in der Mitte lagen englische Pfund Sterling, und an der Seite des Koffers leuchteten die Dollar-Noten, glatt wie gebügelt, was die Bündel fast wie Briketts aussehen ließ. Die meisten Dollar-Päckchen waren grün wie Gras im Herbst, Ein-Dollar-Scheine. Sein Bruder Bertold hatte gesagt, dass eine solche Note einen enormen Wert habe. Ganz in der Ecke stapelten sich gar Zwanziger der US-Währung - jedes Bund ein Vermögen.

 



Helmut Cramer spürte, wie sich sein Glied in der Hose versteifte. Dabei brauchte er nicht mal daran zu denken, wie er mit diesem Reichtum Mädchen beeindrucken könnte - das Geld allein stimulierte genug. Von wegen Geld macht nicht glücklich! Vielleicht nicht für ewig, aber für den Moment fühlte Helmut Cramer sich wie berauscht von dem Anblick.



Er trank einen Schluck Bier, so hastig, dass er regelrecht danach schnappen musste und trotzdem ein paar Tropfen über den Rand des Bembels auf seinen Kragen spritzten.



«Na, schon vorm Trinken besoffen?» Bertold lachte. Dabei sah sein Gesicht noch schiefer aus als im Ruhezustand. Es erinnerte an eine grimmige Mondsichel in einem Kinderbuch. Bertold trank auch einen Schluck, dann stellte er den Bembel vor sich auf den Tisch und widmete sich den Leipziger Neuesten Nachrichten, blätterte, versenkte seinen Blick in der Seite.



«An der Börse steht der Dollar bei über hundert Mark.» Bertold murmelte die Worte ins Zeitungspapier.



«Du meinst, für einen Dollar können wir hundert Mark bekommen?» Helmut Cramer schaute zu seinem Bruder, zum Koffer und wieder zu seinem Bruder.



«Ein Dollar: 101,15 Mark. Gestern. Leicht gestiegen. Ja, über einhundert Mark.»



«Dann sind das hier in der Ecke nicht zweihunderttausend Dollar, sondern eigentlich zwanzig Millionen Mark … «



«Oder die hunderttausend Mark sind in Wirklichkeit nur tausend Dollar. Ganz wie Du willst.» Bertold kratzte sich mit der Hand an der Narbe, die an der Stelle leuchtete, an der einmal sein rechter Kiefer gewesen war.



«Und was sind die Sterlings wert?»



Bertolds Nase verschwand wieder in der Zeitung. «Ein Pfund Sterling kostet 338,65 Mark. Die zwanzigtausend bringen also …



lass mich kurz nachrechnen … nicht ganz sieben Millionen Mark.»



«Mann, Bertold! Das sind zusammen…« Helmut Cramer fasste sich mit der Hand an die Stirn, rieb, als könnte die dabei entstehende Wärme beim Denken helfen, und sagte: «Ach egal! Wir sind reich.»



Bertold legte die Zeitung zurück auf den Tisch und sah herüber, als wolle er seinen Bruder mit seinem Blick in den Fixiergriff nehmen. «Das ist unser Startkapital. Reich werden wir später.»



«Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich auf der Frühjahrsmesse den Klinkenputzer spiele. Ich bin Millionär!»



«Messestände haben keine Klinken, und Handelsvertreter ist ein ehrbarer Beruf!»



«Ja ja. Und du hast früher … blabla.»



«Wie sprichst du mit deinem älteren Bruder?»



«Ach komm, Bertold, ich bin erwachsen!» Wie zum Beweis hob Helmut Cramer den Bembel und trank einen kräftigen Schluck. Langsam begannen die Figuren auf der Tapete gen Decke zu schweben, wenn er zu lange in eine Richtung schaute. Am schnellsten schienen die kleinen Punkte zu hüpfen - wie vorwurfsvolle Augen in den Ornamenten, die ihn immer an rasierte Schädel erinnerten. Helmut Cramer schüttelte den Kopf, beschloss, vorsichtiger mit dem Bier zu sein.



«Manchmal kommt mir das gar nicht so vor.»



«Was?»



«Dass du erwachsen bist. Das kommt mir manchmal gar nicht so vor.»



Helmut Cramer trank noch einen kleinen Schluck. Eigentlich war es doch ein schönes Gefühl, wenn das kleine Karussell hinter der Stirn sich zu drehen begann. Und außerdem gab das Bier Sicherheit. «Und du, warum musst du immerzu ans Arbeiten denken? Wofür machst du das denn? Für Geld, oder nicht? Und was liegt hier? Mehr, als du jemals verdienen könntest. In deinem ganzen Leben!»



«Darum geht es gar nicht.»



«Nein? Worum geht es dann?»



«Man muss doch etwas tun. Etwas schaffen. Etwas, das dem Leben Sinn gibt. Etwas, das bleibt.»



Helmut Cramer lachte, so laut, dass er sich selbst vorkam wie ein Pferd, das wiehert. «Du erzählst mir Sachen! Vor ein paar Jahren hast du gedacht, dass deine Nation dir Sinn gibt. Und was hast du nun davon? Du bist ein Mörder und siehst aus wie ein Monster. Und die feinen Herren mit dem Sinn? Die geben dir ein Gnadenbrot in deinem Pförtnerhäuschen.»



«Ach, Helmut, wenn ich am Boden lag, bin ich wieder aufgestanden. Und ich möchte weiterhin gehen wie ein Mann. Nicht herumliegen wie ein Faultier.»



«Ich würde lieber auf ’ner Frau liegen wie ein Mann …» Helmut Cramer lachte in seinen Bembel, aus dem Tongefäß klang dumpf das Echo.



«Mach dich nur lustig. Aber vergiss nicht: An diesem Geld klebt Blut. Vielleicht vergeht dir der Spaß bald.»



«Und hier geht der Leipziger Arbeiter also abends hin?» Konrad Katzmann blickte sich in der Kanalschenke um, in die er geführt worden war.



Heinz Eggebrecht nickte, schwenkte seine rechte Hand in den Gastraum: Dämmerlicht, junge Männer mit Bier in Skatrunden, in Diskussionen, Qualm, ein Geruch, als hätte jemand ein Tabaklager in Brand gesetzt. An der Ecke Stehtische, in der ganzen Kneipe jeder Platz besetzt. «Ja, ich komme ganz gerne her. Ich kenne das von früher, meine Eltern wohnen um die Ecke, und ich habe oft hier gesessen, bevor ich in die Südvorstadt gezogen bin. Hier ist was los, und das Bier ist bezahlbar.»



«Apropos, ich zahl noch ’ne Runde für uns zwei.» Konrad Katzmann hob seine Hand zum Wirt, Zeige- und Mittelfinger abgespreizt.



Heinz Eggebrecht nahm gerade noch wahr, wie der Reporter ihm gegenüber grinste, und schon standen zwei neue Blumen auf dem Tisch.



«Prost!»



Die beiden Männer tranken.



«Wissen Sie, was die in der Redaktion mit mir vorhaben?», fragte Katzmann.



«Nein, ehrlich gesagt hat da gerade keiner allzu viel zu tun. Die sitzen alle rum und warten, dass die Zeitung wieder erscheinen darf.»



«Wird das noch lange dauern?»



«Keine Ahnung. Die meisten glauben, dass der Spuk in ein paar Tagen vorbei ist. Aber was Genaues weiß keiner.» Heinz Eggebrecht zuckte mit den Schultern. Für ihn war die Situation im Augenblick nicht besonders heikel, als Lehrling bekam er weiterhin seinen schmalen Lohn. Alles andere wäre ja auch noch schöner gewesen, bei einer Zeitung der linken USPD. Aber für Autoren, die für Honorar arbeiteten, konnte das Verbot der Zeitung schnell an die Existenz gehen.



«Was merkt man davon eigentlich in Dresden, dass es keine LVZ mehr gibt?»



Katzmann zuckte mit den Schultern. «Eigentlich nichts. Leistner hat mich kurz angerufen, aber ich hab am 17. Januar noch nicht mal das Extrablatt bekommen. Vielleicht hat der Postmann es behalten.»



«Ehrlich? Noch nicht mal gesehen?»



«Nein.»



Heinz Eggebrecht kramte in seiner Manteltasche, fand den Bogen Zeitungspapier zusammengefaltet in der Innentasche. Er reichte seinem Gegenüber das Blatt.



Katzmann nahm es mit der linken Hand und wischte sich die rechte, die eben noch das Bier gehoben hatte, am Hemd ab. Er drückte die Brille am Nasensteg gegen die Stirn, dann faltete er die Zeitungsausgabe vom 17. Januar auf und las:



Die Leipziger Volkszeitung auf unbestimmte Zeit verboten!



Aufgrund des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom



4. 6. 1851 verordne ich im Interesse der öffentlichen Sicherheit:



Der Druck, Verlag und Vertrieb der Leipziger Volkszeitung - auch in einer irgendwie veränderten Form - wird auf unbestimmte Zeit verboten. Zuwiderhandlungen gegen das Verbot sowie Aufforderungen oder Anreizungen dazu werden, sofern die bestehenden Gesetze keine höhere Freiheitsstrafe bestimmen, mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft, nur bei mildernden Umständen kann auf Haft oder Geldstrafe erkannt werden. Gründe: Seit geraumer Zeit hat die Leipziger Volkszeitung sowohl in den Leitaufsätzen wie auch sonst, unter bewusster Entstellung der Wahrheit, Veröffentlichungen gebracht, die nach Form und Inhalt geeignet waren, verschiedene Klassen der Bevölkerung gegeneinander aufzureizen, die Achtung vor den Gesetzen und Anordnungen des Staates zu untergraben und zur offenen Auflehnung und zum Ungehorsam hiergegen aufzurufen.



Wegen der darin liegenden strafbaren Handlungen schweben eine Reihe von Strafverfahren, und verschiedene amtliche Warnungen sind der Leipziger Volkszeitung zugegangen. Ungeachtet dessen fährt sie in ihrem Treiben fort, wie das namentlich die Aufsä