Ole, der Heide

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Ole, der Heide
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Uwe Holtschoppen

Ole

der Heide


Eine Erzählung


1 Duisburg

Wenn Ole in Laune war, sich an seine frühe Kindheit zu erinnern, drängte sich als erstes ein Bild auf, bei dem er in einem Laufstall saß. Er sah durch die Gitter seine Geschwister und die Mutter rief aus der Küche, „lasst den Ole in Ruhe, hört auf ihn zu ärgern“. Ole wusste sich in seinem Laufstall in Sicherheit und war dankbar für die Rückendeckung seiner Mutter. Er war wohl 1,5 Jahre alt und hatte noch drei, vier Jahre Zeit, bis zwei jüngere Geschwister auftauchen sollten. Bis dahin war er der Jüngste mit Anspruch, im Zentrum der Aufmerksamkeit und in der Nähe seiner Mutter zu sein. Ein mehrmonatiger Krankenhausaufenthalt wegen Lungenentzündung, Penicillin Überdosierung, Eiterfurunkulose und anderen Sachverhalten, die das Urvertrauen in seinem jungen Leben strapazierten, hatte ihn von seiner Familie entfremdet und alle mussten sich wieder an einander gewöhnen.

Seine drei älteren Geschwister betrachteten ihn neugierig, stießen mit Stöcken nach ihm und riefen im Chor: „Heide, Heide, Heide, du kommst in die Hölle“. Was auch immer eine Hölle sein sollte, offenbar nichts Gutes und vielleicht waren sie ja auch ein Teil davon.

Durch seine Erkrankung und Abwesenheit war der Zeitpunkt für ein übliches Taufritual mit Paten (-Tanten) vorbeigegangen, eine Krankenversicherung gab es 1954 noch nicht und Geld war zu dieser Zeit kaum vorhanden. Jedenfalls war er ein Heide und damit bekam er eine exotische Identität, die ihn grundlegend von anderen unterschied. Nicht selbstverständlich Teil einer Gruppe zu sein, sollte ihn als Grundgefühl sein Leben lang begleiten.

Seine Eltern waren ein halbes Jahr zuvor aus einer Kleinstadt am linken Niederrhein in eine große Stadt am Rhein gezogen. Nach Duisburg. 1954 eine sehr lebendige Stadt, es gab noch viele kriegsbedingte Trümmerlandschaften aber auch Wiederaufbau, große Geschäftsstraßen, lauter Verkehr und viele Menschen. Es strömten damals schon Menschen aus dem ost- und südeuropäischen Ausland in die Region auf der Suche nach Arbeit. Es gab Straßenbahnen, einen Zoo, meistens Strom und den Rhein. Der roch nach Fluss, Öl, Dieselabgasen und bildete in seinem ruhigen Dahinfließen einen wirksamen Ausgleich zur hektischen Betriebsamkeit der Stadt. Unzählige Schiffe transportierten Kohle und Erze, auf ihnen lebten die Schiffer, manchmal mit Familie. Ihre aufgehängte Wäsche flatterte statt Fahnen im Fahrtwind. Im Zentrum stand der Hafen, einer der größten Warenumschlagsplätze in Europa. Die Polizisten hatten Verständnis für die vielen Binnenschiffer und ließen sie gewähren, wenn die sich um Aufträge stritten, auch schon mal handgreiflich und Zerstreuung in den Hafenspelunken suchten, Prostitution war offiziell verboten.

Oles Mutter sollte in Duisburg das Geld für die Familie verdienen und diese versorgen. Man wohnte in einem vom Krieg beschädigten Haus mit bröckelnder Fassade. Es gab viele Mietsparteien, die sich ein Klo im Treppenhaus teilen mussten. Oles Familie bewohnte eine Zweizimmerwohnung, es gab ein Schlafzimmer für die Kinder, die Eltern schliefen auf einer Klappcouch in der Wohnküche. Geheizt wurde nur die Wohnküche mit einem Ofen, der auch gleichzeitig der Herd war. In diesem wurde Holz verfeuert, der Kamin wurde nur unzureichend gewartet, es wurde viel gehustet.

Um die Wäsche zu waschen, wurde heißes Wasser in großen Kübeln erhitzt, um die Familie zu waschen, auch. Samstags wurde die blecherne Zinkwanne aufgestellt und alle badeten im selben Wasser, manchmal gab es grüne Tab-ähnliche Zusätze, die nach Fichtennadeln rochen.

Von Bedeutung war die Reihenfolge. Der Jüngste zuerst – das war Ole. Und der war zumindest anfangs nicht „ganz sauber“. Seine Geschwister machten aus ihrem Entsetzen keinen Hehl, ekelten sich, beschimpften ihn, „was soll man auch von einem Heiden anderes erwarten.“

Bei aller Armut und nachkriegsbedingten zivilisatorischen Einschränkungen gab es für Ole auch so etwas wie Stallwärme. Bald machte er auch nicht mehr in das Badewasser seiner Geschwister, alle gewöhnten sich an einander. Das Gefühl, in einer dampfenden Küche frisch gebadet und mit einem frischen Handtuch trocken gerieben im Kreis der Familie gefüttert und dann in sein Bett gebracht zu werden machte klar, dass hier ein Ort der Geborgenheit war, Heide hin, Heide her.

Oles Vater war gelernter Grafiker, arbeitslos und meist mit dubiosen Geschäftsleuten als „Vertreter“ unterwegs. Kaum 25, war ihm die Versorgung der Familie ein Dorn im Auge, daran änderte sich auch nichts mehr. Er richtete der Mutter ein Kaffeegeschäft im gleichen Haus ein, zeigte Improvisationstalent und dekoratives Geschick. Er malte bunte Mohrenbilder (waren sehr modern) und überall stand in großen Buchstaben „Arabica“. Oles Mutter nahm ihn meistens mit in den Laden, genoss den Kontakt zu den Kunden, malte und verkaufte Kaffee. Ole mochte den Geruch und die vielen Schokoriegel, die er von begeisterten Kundinnen geschenkt bekam.

Weniger mochte er, dass diese ihn sooo süüß fanden und ständig an ihm rummachten. Oft hatten sie schmieriges Fett auf den Wangen, schmierenden Lippenstift oder auch Maiglöckchenparfüm im Übermaß.

Oft wurde Ole von 12-15-jährigen Mädchen stundenweise betreut. Diese übten Kinder versorgen, fanden ihn auch süß und wollten mit ihm schmusen. Sie waren aber ungeschminkt und Ole erlebte dies nicht als aufdringlich oder unangenehm, eher als besondere Zuwendung.

Mit den Geschwistern und den anderen Kindern in dem großen Mietshaus spielte er bei gutem Wetter im Hinterhof. Dieser war eine Kraterlandschaft, Bomben und Granaten waren noch nicht restlos entsorgt und selbstverständlicher Bestandteil des Alltags, um den sich niemand sorgte.

Hier wühlten die Kinder im Sand. Einmal fanden sie einen Ring und überbrachten diesen stolz ihrer Mutter. In ihrer Phantasie hatten sie einen Schatz gefunden, mit dem sie die existentiellen Sorgen der Eltern besiegt hätten. Die Aufregung darum wollte sich lange nicht legen, auch wenn sie erklärt bekamen, dass es sich wohl um ein wertloses Schmuckteil handelte. Zumindest im Spiel hatten sie einen Schatz gefunden wie in dem Märchen von Aladin und die Wunderlampe.

Ole erinnert einen Nachmittag, an dem er mit seinen Geschwistern auf einem nahegelegenen Spielplatz war.

Mit großem Entsetzen musste er mit ansehen, wie eine Horde Kinder und Jugendliche auf dem dort geparkten Opel Kapitän des Vaters rumhüpfte, die Scheiben einschlug, die Sitze aufschlitzte und die Technik auseinandernahm. Er schrie um Hilfe und immer wieder: „Das ist unser Auto“. Seine Geschwister versuchten alles, um ihn davon abzuhalten, inklusive Würgegriff und Mund zu halten und zerrten ihn nach Hause – er verstand die Welt nicht mehr, blieb lange ratlos und verzweifelt. Dass sein Vater sein Auto kalt entsorgt, einfach die Nummernschilder entfernt hatte und nun dem Vandalismus freien Lauf ließ, war außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Als Ole zwei Jahre alt war, bekam er von seinem Vater die erste Tracht Prügel mit einem Stock, selbst die in dieser Hinsicht wenig zimperliche Mutter war entsetzt.

Grund war ein autonomer Ausflug in die Stadt. Alle waren mit Renovierungsarbeiten in der Wohnung abgelenkt und keiner merkte, dass Ole spazieren ging. Eigentlich suchte er jemanden zum Spielen, suchte das Treppenhaus ab, fand aber niemanden und trat durch das Eingangstor auf die Straße. Dort gab es interessante Autos im lebhaften Verkehr, Straßenbahnen, ein geschäftiges Treiben, dem Ole sich anschloss.

Er landete schließlich auf einem Marktplatz, schlenderte von Stand zu Stand, blieb vor einem Obststand stehen und starrte auf die Apfelsinen. Die kannte er nur vom letzten Weihnachten.

Eine unscheinbare Frau mit grau-beigem Trenchcoat und Kopftuch sprach ihn an. Oles Konversationspotentiale waren noch nicht so entwickelt, der Kontakt gestaltete sich nur zögernd, eigentlich sprach Ole gar nicht. Man sollte nicht mit fremden Männern mitgehen, hörte er die Mutter den älteren Geschwistern immer predigen und jetzt das hier, wie war das denn mit den fremden Frauen. Solche kannte er schon aus dem Laden und meistens gab es was.

Und auch bei dieser ihm fremden Frau löste er etwas aus. Sie kaufte ihm eine Apfelsine, Ole trug diese stolz vor sich her. Nun kam ein narrativer Schwall aus ihm herausgeflossen. Wo er wohnte und hingehörte war ihm jedoch nicht möglich zu benennen, dafür waren doch die „Großen“ da.

Nachdem er lange mit der fremden Frau die große Straße entlanggelaufen war, erkannte er zufällig den Kaffeeladen mit dem großen bunten Arabica-Schild, deutete darauf und äußerte zielgerichtet und unmissverständlich „da da da“. Alle waren erleichtert, hatten große Angst um ihn gehabt und Oles Vater musste seinen Affektstau loswerden, indem er sich mit ihm in das Schlafzimmer zurückzog. Was dort passierte, hat die Zensur aus Oles Gedächtnis-Apparat gelöscht.

Den Arabica Laden musste seine Mutter wenig später wieder aufgeben, die Einkünfte reichten nicht für die Pacht und Kaffee war ein Luxusgut, das sich nur wenige leisten konnten. Die meisten tranken - wie auch Oles Familie - Kaffee, der aus Getreide hergestellt worden war.

Man nannte ihn „Muckefuk“, später dann Caro Kaffee. Sicher fragen Sie sich als Leser gerade, was aus der Apfelsine geworden ist. Die musste Ole mit seinen Geschwistern teilen, fast die größere Strafe für seinen Freiheitsrausch.

Bei schönem Wetter fuhr man sonntags bis zur nächsten Autobahn, um diese als Wunderwerk des Straßenbaus zu besichtigen. Da stand man dann auf Brücken und winkte den schnell fahrenden Autos, die unter einem fuhren. Schon damals gab es Menschen, die wegen mangelndem Selbstwirksamkeitserleben Steine schmissen.

 

Oder es ging in den Zoo, wo man Enten und Schwäne fütterte, die einen schon mal in den dargereichten Finger bissen.

Am Ostersonntag ging es in einen Park, in dem zahlreiche Väter vorher Eier und Nester ausgelegt hatten, die wegen der Vielfalt dann nicht mehr eindeutig zugeordnet werden konnten. Dies führte dann zu Gerangel und dem Recht des Stärkeren – Darwin eben.

Samstags fuhr man an den Rhein zum Picknick, Schwimmen und noch wichtiger: Auto waschen. Oles Vater hatte längst seinen nächsten Opel Kapitän, weitere sollten folgen. Der Rhein hatte einen starken Flussgeruch. Bei entsprechendem Wind mischte er sich mit den Chemiegerüchen der Leverkusener Chemiewerke. Wegen der starken Strömung durfte Ole nur in Begleitung seines ältesten Bruders Diethelm und auch nur kurz ins Wasser. Schien auch noch die Sonne, war es eine angenehme Möglichkeit, mit der Familie zusammen zu sein.

Einfach nur auf einer Decke hocken, dösen, in die Wolken gucken und mit den Geschwistern über die sich ständig neuformierenden Gebilde am Himmel zu spekulieren, gefiel Ole gut. Bei einem Spaziergang am Rhein kam man an einer Werft vorbei. Ein größeres Schiff wurde aus dem Wasser geholt und man bekam einen freien Blick auf die sonst verdeckte, untere Schiffsseite. Ole reagierte auf diese unverhoffte „Verdrehung der Welt“, die die Sicht auf Verborgenes freilegte, mit Panik. Er schrie und verlangte, dass die Welt sofort wieder in ihre gewohnte Ordnung gebracht wurde und das schallende Gelächter seiner Familie trug nicht zu seiner Beruhigung bei.

Zu dieser Zeit war sein jüngerer Bruder Theo auf der Welt und er musste seine Position als besonders Begünstigter aufgeben. Dass die für ihn sich daraus entwickelten Verlustängste sich einen Raum suchten, der sich beim Anblick des Schiffrumpfes anbot, verstand niemand, Ole am wenigsten.

Für Ole hatte das Auftauchen seines jüngeren Bruders und ein Jahr später seiner jüngsten Schwester auch Vorteile. In der Hackordnung stieg er auf und machte Punkte durch anfangs vergebliche Anstrengungen, Schuhe zu binden oder Pfeifgeräusche mit seinem Mund zu erzeugen. Von seinen älteren Geschwistern wurde er beständig damit konfrontiert, was er noch nicht konnte – die aber schon.

Sein ältester Bruder Diethelm war 8 Jahre älter und souverän liebevoll, die zwei Jahre ältere Schwester Katrin und der drei Jahre ältere Bruder Werner hatten nicht vergessen, dass sie einst von Ole aus der Pole-Position vertrieben wurden. Auch mussten sie in der Aufmerksamkeit der Mutter wegen der langen Erkrankung von Ole zurückstehen. So zeigten sie eine größere Freude daran, Ole zu hänseln und ihre Überlegenheit zu zeigen. Beliebt war auch, sich wirksam zu fühlen, in dem man Angst erzeugte. Etwa mit dem Hinweis, dass man platzen würde, wenn man nach dem Verzehr von Gurken Wasser trinkt oder dass es wahrscheinlich sei, vom Blitz erschlagen zu werden. Ole war in der großen Stadt eigentlich nie alleine und sehnte sich manchmal in sein Laufställchen zurück.

Da er durch die neuen Familienmitglieder aus dem Beachtungszentrum seiner Mutter geriet, genoss er es, wenn sein Vater ihn manchmal auf seine Geschäftsreisen mitnahm und er mit ihm zumindest während der Fahrt alleine sein konnte, ihn für sich hatte. Bis auf den damals selbstverständlichen Zigarettenqualm liebte Ole es, im Opel Kapitän zu fahren.

Während der „Geschäftstermine“ blieb er alleine im Auto sitzen, spielte an den Schaltern und Knöpfen, setzte sich heimlich hinter das Lenkrad – Klasse! Auch liebte er die Ausdünstungen des Autos, die bei warmem Wetter stärker waren.

Nach einer Weile kam der Vater von seinen „Terminen“ zurück, oft begleitet von weiblichen Wesen, die offenbar von dem Vertreterbesuch entzückt waren, Ole besichtigten und meist gab es wieder etwas Süßes. Irgendwie wusste Ole, dass es ratsam war, auf diesbezügliche Nachfragen der Mutter nicht zu reagieren. „Ole hört nicht“, sagte sie oft. Irgendwann schleifte sie ihn zu einem Ohrenarzt, dieser hielt ihm eine Stimmgabel an das Ohr und erklärte ihn für akustisch in der Lage, „zu hören“. Der unangenehm-schmerzhafte Ton meldete sich noch oft in Oles Leben wieder, wie ein Tinnitus, was immer auch er dann nicht hören wollte.

Als Ole vier Jahre alt war, hatten die Eltern kein Geld für die Stromrechnung und über einen längeren Zeitraum gab es Erleuchtung durch Kerzen und Lampen, die mit Petroleum gefüllt wurden.

Neben dem romantischen Effekt gab es auch kein Radio, in dem manchmal Geschichten über das Sandmännchen ausgestrahlt wurden. Auch die Wohnungstürklingel hörte man nicht mehr. Ole wurde eingeteilt, Wache zu stehen und auf Klopfgeräusche zu hören. Er lernte, diese zu ignorieren, wenn der Vermieter klopfte, um ausstehende Mietschulden einzufordern. Eine Ausnahmesituation, die eine Abwechslung bot und bei allen Beteiligten Improvisationskünste hervorlockte.

Ein halbes Jahr später stand eine mit Petroleum gefüllte Limonadenflasche vergessen in einer Ecke hinter einem Schrank. Oles damals noch sehr kleiner, jüngerer Bruder Theo liebte jede Form des Labsals aus Flaschen. Oft saß er stundenlang verzückt mit seiner Milchflasche samt Sauger zufrieden mit sich und der Welt. Er fand die verborgene Petroleumflasche, trank diese leer, offenbar schmeckte sie ihm. Notarzt, Krankenwagen, Krankenhaus, ausgepumpter Magen, alle waren in Sorge und aufgeregt. Theo nicht, er zeigte keine nachfolgenden Schäden und genoss noch im Alter von 5 Jahren, an einer Flasche mit warmer Milch zu saugen.

In der Erinnerung von Ole waren eigene, neue Kleidungsstücke die Ausnahme. Alles wurde vielfach weitergereicht und notdürftig geflickt. Vieles kratzte unangenehm, z.B. lange Wollstrumpfhosen.

Das zentrale und langlebigste Teil war die Lederhose. Kurz und robust wie sie war, konnte man damit über jeden Boden rutschen, egal ob aus Holz, Sand, Kiesel oder Teer.

Gehalten wurde die Lederhose von einer Art Geschirr mit einem Hirsch verziert, das auch zum Festbinden von Kleinkindern an Kinderstühlen, Kinderwägen oder Laufställen geeignet war und Verwendung fand. Kam Ole vom Spielen draußen, wurden erst einmal alle Taschen und Ritzen von Sand, Steinen, Würmern oder anderen eingeschleppten Schätzen der Wildnis befreit. Jede Lederhose hatte vorne einen nach außen klappbaren Latz, der zumindest den Jungen erlaubte, die Blase aufwandsarm zu entleeren.

Ole vergaß manchmal beim Spielen, auf die Toilette zu gehen. Geriet er in einen schmerzhaften Harnverhalt, den er dann nicht mehr zuordnen konnte, schrie er wie am Spieß. Nur die Weisheit seiner Mutter war in der Lage, ihn zu retten, indem sie ihm einen Pisspott unter seinen Kinderpenis hielt und lauter schrie als er: „Da machst du jetzt rein, sonst setzt´s was.“

Schneeweißchen und Rosenrot war der erste Kinofilm, den Ole in Begleitung seiner älteren Schwester Katrin im Alter von 5 Jahren sah. Jahre später ging er immer noch gerne mit seiner Schwester ins Kino in Filme wie Tarzan, Ivanhoe oder Winnetou und war meistens sehr ergriffen. An den Märchenfilm bei seinem ersten Kinoerlebnis kann er sich kaum erinnern, offenbar war er überfordert mit dem sensorischen Gesamtangebot.

Er behielt den vagen Verdacht, dass ihm Rosenrot gut gefallen habe. Eine Sensation war, als Nachbarn im Hause einen Fernseher hatten und Ole samt Restfamilie mit vielen anderen Hausbewohnern zu Gast sein durfte. Es gab Gedränge und die Bildqualität zeigte massive Schwankungen, dennoch waren die Mumins der Augsburger Puppenkiste 1958 ein Großereignis, „alle kleinen Tiere ringeln ihren Schwanz“ ein unvergessbarer Ohrwurm. Manchmal gab es was zu knabbern, man traf alle Nachbarskinder, ein aufregendes „Event“.

Als Einbruch in das Duisburger Nachkriegsidyll wurde ein schwerer Autounfall von Oles älterer Schwester vor der Haustüre erlebt. Damals gab es kaum Verkehrsregeln oder gar Geschwindigkeitsbegrenzungen. Vor dem Haus war eine mehrspurige Straße, viel befahren und es gab zwei Straßenbahnschienenstränge. Ein zu schnell fahrender PKW erfasste seine Schwester Katrin. Mit einem Schädelbasis- und Schlüsselbeinbruch kam sie ins Krankenhaus, wieder waren alle in großer Sorge. Duisburg erschien als nicht mehr sicher für Kinder, die Wohnung zu eng, die wirtschaftliche Basis verheerend unzureichend. Ohne Care-Pakete aus den USA hätte seine Mutter die Familie nicht ernähren können.

Einige Wochen später erklärte Oles Vater, der mit Vornahmen Walter hieß, vor versammelter Familie: „Wir ziehen um, wir ziehen in die Waltersheide.“ Oles ältere Geschwister ulkten spöttisch: „Ole ist Walters Heide und zieht jetzt in die Waltersheide.“

2. Die Waltersheide

Im Nachkriegswirtschaftswunderland war Plastik, im Gegensatz zu heute, etwas Großartiges, Kunststoff der Weg in die Zukunft. Oles Vater hatte einen befreundeten Kollegen, mit dem er auf Vertretertour oft eine ganze Woche unterwegs war. Der hieß Hugo, wohnte in Hamburg mit seiner Frau, hatte keine Kinder, dafür einen Borgward. Walter beneidete Hugo, hatte er doch eine oft unzufriedene Frau und sechs Kinder zu ernähren. Irgendwie haben die beiden in Missachtung eines Patentschutzes eine Idee entwendet, wie man aus Styroporblöcken mit heißem Draht Platten schneiden konnte und diese als Deckenplatten verkaufen – eine Geschäftsidee. Walter wollte Unternehmer, Fabrikant und reich werden, die Mutter (die Rottraut hieß), dass die Kinder in ruhiger Umgebung sicher aufwachsen und ungefährdet aus dem Haus gehen konnten. Auch sollten die Lebenshaltungskosten niedrig sein, das hieß, Landleben war angesagt.

Die Waltersheide war eine neu erbaute Reihenhaussiedlung, in der Flüchtlingsfamilien, „Evangelische“ oder Freigeistige eine Heimat fanden.

Das nahe gelegene Dorf Born war erzkatholisch, die Alteingesessenen konservativ und eher misstrauisch. Im vier Kilometer entfernten Ort Brüggen gab es sogar eine evangelische Volksschule.

In Brüggen am Ortsrand mietete Walter ein altes Mühlengehöft an, mitten im Wald und an einem Fluss (Schwalm)gelegen. Nur eine unbefestigte Stichstraße führte dorthin. Eine abgeschiedene, verlassene Idylle. Die gesamte Familie entfernte die Überreste von Schweine- und Hühnerställen, um Platz für Walters Maschinen zu schaffen, die er in Eigenregie austüftelte. Er besorgte Styropor im benachbarten Holland, zog Drähte, die er unter Strom setzte, auf Holzplatten mit Scharnieren, besorgte Farbspritzpistolen und heuerte zwei Hilfsarbeiter aus der Siedlung an, die vorher in Ziegeleien gearbeitet haben. Ziegeleien gab es reichlich, alle insolvent und manchmal heulten nachts die Sirenen die Eingeborenen aus dem Schlaf, weil so eine Ziegelei lichterloh brannte und der riesige Feuerschein Kilometer weit zu sehen war. Außer der Feuerwehr fuhren viele schaulustige Einwohner hin - eine Abwechselung in einem sonst doch überschaubaren Alltag.

Oles Familie fand „neue Heimat“ in einem Reihenhaus mit ortsüblichen roten Klinkern, in dem die Vermieterin in der ersten Etage wohnte. Diese hatte einen Sohn, der ein Jahr jünger war als Ole und einen verhaltensauffälligen Gatten.

Alkoholiker und Hilfsarbeiter beim Hoch- und Tiefbau, durfte er mit einer Ölkanne bewaffnet darauf warten, dass Bagger oder ähnliche Geräte Öl brauchten.

Manchmal kam er nachts betrunken in die obere Etage und kotzte auf die Eisenbahnplatte von Werner im Vorraum der Schlafzimmer der Kinder. Sehr ärgerlich und für Oles ältere Schwester Katrin traumatisierend. Einmal musste der Vermieter wegen offener TB in eine lange Kur, alle Bewohner des Hauses mussten deswegen geröntgt werden.

Ole hatte die Vermieterin nie lächeln oder freundlich gestimmt gesehen, für ihn war sie eine furchteinflößende Hexe, der man besser aus dem Weg ging. Seine Familie bewohnte die untere Etage mit zwei Zimmern, Küche und einem Bad (die eigentliche Sensation) sowie in der Dachetage ein Schlafzimmer für die Kinder, ein zusätzliches Zimmer für den ältesten Bruder (Pubertät) und einen kleinen Vorraum, in dem Werner seine Märklin Eisenbahnanlage platzierte. In dem Schlafzimmer standen zwei Etagenbetten sowie ein weiteres Bett für die ältere Schwester. Ole schlief wie sein Bruder Werner oben, seine kleine Schwester Sonja unter ihm, unter Werner sein kleiner Bruder Theo. Wenn Ole aus dem Bett fiel, schlief er meistens weiter und erwachte morgens überrascht. Im Winter gab es dicke Oberbetten mit Federn, genannt „Plümmos“. Knöpfte man den Bezug auf und kroch hinein, hatte man eine Höhle mit Zeltgefühl. Es gab Kleiderschränke und einen Schuhschrank im Schlafraum.

 

Das Fenster zeigte zum Garten raus, hinter dem ein kleiner Weg führte. Man konnte auf den Waldrand sehen.

Hinter dem Weg standen vier alleinstehende Häuser mit roten Klinkern, in denen die darin wohnenden Frauen nach getaner Hausarbeit in den Fenstern lagen mit Decken oder gehäkelten Kissen und alles beobachteten. Das war ihr Fernsehen, aber auch ihre unausgesprochene Aufgabe, aufzupassen. Direkt gegenüber korrespondierte die Kontrollwut der Nachbarin mit ihrem Reinlichkeitsbemühen.

Jeden Sonntagvormittag wurde die äußere Fensterbank von allem Schmutz befreit und das Schloss der Haustüre mit einem Streichholz, um das ein Wattebausch gewickelt wurde, ebenso. Später hieß das Q-Tip.

In der unteren Etage gab es einen Raum, in dem das Leben stattfand. Hier schliefen die Eltern auf einem Klappsofa, hier wurde gegessen und hier spielten die Kinder oder machten Hausaufgaben. Später stand hier auch ein Fernseher. Der lief den ganzen Tag als Hintergrundgeschehen und war Zentrum der Familien-Samstagabend-Events wie Einer wird gewinnen. Aber auch amerikanische Serien wie Rintintin, Flipper, Fury, Zorro oder Ivanhoe schlugen Ole in ihren Bann. Erst einmal war alles Luxus „pur“. Ein eigenes Bad mit Klo, Badewanne und einem Heißwasserboiler, eine Küche mit Gasherd, Spüle, sicher fließendem Wasser, auch hier ein Heißwasserboiler (elektrisch).

Ein Telefon aus Bakelit, tabu für die Kinder und geheimnisvoller Draht in die Außenwelt, aus Kostengründen und Hochachtung vor der modernen technischen Welt, wenig genützt.

Geheizt wurde in den ersten Jahren mit Kohle (die Ole jeweils aus dem Keller holen musste und die Asche entfernen), später mit Öl (das Ole aus einem Ölfass im Keller holen musste). Geheizt wurde nur das Hauptzimmer, die Kinder schliefen unter dem Dach und mussten dazu zumindest zweimal am Tag am Wohnungseingang der Hexe vorbei, ein kritisches Unterfangen. Wurde man von ihr gesehen, fing sie sofort an zu schimpfen wegen Krach und überhaupt wegen Dasein.

Aus heutiger Sicht seltsam war das „Wohnzimmer“ zur Straße raus, in dem niemand wohnte, das als eine Art heiliger Tempel nur an den Weihnachtstagen genutzt wurde oder wenn wichtiger Besuch kam, also nicht Nachbarn oder Freunde, sondern Menschen mit einem vermeintlich höheren Status. Und dann gab es noch einen Balkon, der zum Garten rausging. Der Garten durfte nur zum Wäschetrocknen genutzt werden. Zum Spielen waren die Straße und freie Plätze auf der anderen Straßenseite da. Der Nachbar nebenan links hatte Hühner. Wenn er diesen in seinem Keller die Köpfe abschlug, liefen sie noch eine Weile herum, oft auch die Treppe hoch zurück in den Garten. Gewöhnungsbedürftig. Ole wurde zwar aufgefordert, beim „Schlachten“ zuzusehen um „was zu lernen“, verweigerte jedoch die Teilnahme an dem gruselig wirkenden Geschehen.

Die Nachbarin auf der rechten Seite freundete sich etwas mit Oles Mutter an, sie war Zeugin Jehovas. Mit Ihren Bekehrungsversuchen hatte sie bei Rottraut keine Chance, die „Besuche“ konnte sie aber im Himmel abrechnen. Denn die Besuche bei Ungläubigen führten zum Himmelreich, egal wie die reagierten. Dazu gab es schon mal einen oder auch zwei Eierlikör. Ihre Tochter war ein Jahr jünger als Ole, balancierte gerne auf dem begrenzenden Mäuerchen ohne Unterhosen, was alle sehen konnten – warum auch nicht.

Auch gab es einen Keller mit einer Waschküche, hier wurde Wäsche gekocht in einem Wäschezuber, der mit Holz beheizt wurde. Später gab es dann eine kleine Wäscheschleuder, die recht lebhaft ihre physikalischen Kräfte entfaltete und gehalten werden musste wegen mangelnder Standfestigkeit. Die beständige Warnung, dort nicht im laufenden Schleuderbetrieb rein zu fassen, weil sonst der Arm ausgerissen würde, war eine anhaltende Versuchung. Haushaltsalltag war damals körperliche Schwerstarbeit, niemand wäre als Erwachsener auf die Idee gekommen, in seiner Freizeit Sport zu machen. Die Wäsche wurde, wann immer möglich, auf Wäscheleinen im Garten getrocknet. Ole musste beim Aufhängen helfen, die Klammern reichen oder auch mal Bettwäsche langziehen. Es ergab sich eine gewisse optische Übersicht über die Wäsche bei allen in der Siedlung, die zu einer Art Vertrautheit miteinander führte.

Bei aller Begeisterung über die neue Lebenswelt, in der man gefahrlos auf die Straße gehen konnte um dort zu spielen, da kaum Autos fuhren und man diese von weitem sehen konnte, gab es für Ole eine große Irritation.

Die vielen Kinder auf der Straße sprachen eine völlig andere Sprache, es war wie im Ausland, Ole verstand kaum ein Wort und erlebte dies als Zumutung. Es hatte nichts mit der holländischen Grenze zu tun, die 8 Kilometer weiter in großen Grenzwäldern versteckt lag. Die ortsansässigen Menschen sprachen einen Dialekt, dem kölschen Sprachgebrauch ähnlich. Für seine Eltern die Rückkehr in ihre Heimat, für Ole Migration.

Anders als in Duisburg war man schnell im freien Feld oder im Wald, weite flache Ebenen, weite Sicht. Es gab reichlich Rinder auf den Weiden, damals störte sich noch keiner an deren Abgasen. Ole lernte Respekt vor den Rindern und Abstand halten. Am Wegesrand wuchs wilder Rhabarber, den man in Zucker tauchen konnte. Mehr als in der Stadt fand das Leben im Freien statt, sofern die Witterung es zuließ. Auch gab es eine bis dahin ungewohnte Ruhe. Straßen mit bescheidenem Durchgangsverkehr waren weiter weg gelegen. Die Gegend war durch die Grenzrandlage und kaum vorhandener Infrastruktur zu abgelegen für ernsthaften Durchgangsverkehr. Schnell kamen einem die meisten Bewohner dieser Region bekannt vor, nach und nach lernte man die Namen und familiären Zuordnungen.

Ole brauchte nur vor die Türe zu gehen und es waren immer Kinder zum Spielen da. Kam man aus der Haustüre, schaute man auf eine Serie von Garagen, eine davon war die von Oles Vater. Garagentore aus Metall sind auch als Fußballtor geeignet und zeigen jeden Treffer mit lautem Krach an. Sehr schön.

Ole wurde 6 Jahre alt, wollte Schulkind werden und erhoffte sich damit einen Bedeutungsgewinn innerhalb der Geschwisterhierarchie. Auch verband er damit ein Anrecht auf ein Fahrrad (denn damit konnte man zur Schule fahren), zumindest aber auf einen Roller mit schicken Ballonreifen. Ole war nicht der Größte, eher mager (satt war er nie) und wirkte deswegen auf Erwachsene noch nicht schulreif – eine tiefe Demütigung für sein Selbstgefüge. Zum Trost bekam er einen „Holländer“. Ein Holländer hatte 4 Reifen, ein Holzgerüst mit Sitzfläche, die Füße konnte man in Metallschienen an der Vorderachse stecken und damit lenken. Der Antrieb wurde durch ein System gestaltet, in dem man einen Riemen zu sich heranzog, dieser rollte sich durch eine Rückholfeder wieder auf. Anfangs war Ole begeistert, schnell hörte das Riemenantriebssystem auf, zu funktionieren, zumal seine älteren Geschwister es häufig zu hart rannahmen und überforderten. Ihr Angebot, ein Seil zwischen einem Fahrrad und dem Holländer zu spannen war für Ole kein Grund, seinen Ärger auf zu geben.

Er musste ein langes Jahr warten, auf seine kleinen Geschwister aufpassen und die gleichaltrigen Kinder aus dem Dorf und der Siedlung durften meist schon in die Schule, genannt Volksschule, also eine Schule für das Volk. Das Volk unterschied sich zu dieser Zeit in seiner religiösen Zughörigkeit. In Duisburg war Religion für Ole kein Thema. Er war dafür zu jung, seine Eltern hatten eine merkwürdige Ablehnung gegenüber religiösen Themen, die sie als Jugendliche aus ihrer Identifikation mit den Naziidealen beibehalten hatten, gleichzeitig waren sie in ihren familiären Wurzeln verhaftet, sein Vater als Katholik, die Mutter als Protestantin. Doch nun hatten diese Dinge im Alltag für Ole eine gravierende Bedeutung.