Buch lesen: «Freestyle Religion»
Uwe Habenicht
Freestyle Religion
Uwe Habenicht
Freestyle Religion
Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt – eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert
echter
Den Freundinnen und Freunden in Deutschland, Italien, der Schweiz und anderswo
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2020
© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: wunderlichundweigand.de (Foto: Shutterstock)
Gestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05494-6
978-3-429-05095-5 (PDF)
978-3-429-06487-7 (ePub)
Inhalt
Konturen des Neuen
I. Religion lebt – oder ist sie doch schon tot? Zur religiösen Gegenwart
1. Was kommt, ist schon da
2. „Freestyle Religion“ und „religious Freestyle“
3. Vom Zerbröseln institutionalisierter Religion
3.1 Individualisierung eins und zwei
3.2 Kosmopolitische Konstellation
3.3 Kulturalisierung
3.4 Entdogmatisierung
3.5 Enttraditionalisierung
4. Die Kirchen auf der Suche nach einer neuen Rolle
5. Sehnsucht und Notwendigkeit – „der eigene Gott“
6. „Urban mystix“
7. Von den Versuchungen der Spiritualität
II. Wunderbares Wirken über mich hinaus – Religion und Spiritualität
1. Tragfähig und gelungen spirituell sein – was braucht gute Spiritualität?
1.1 Trägt spirituell sein der Realität Rechnung?
1.2 Wird spirituell sein dem Einzelnen gerecht?
1.3 Entspricht diese Art, spirituell zu sein dem Transzendenten?
2. Was ist Religion?
3. Die drei Dimensionen der Religion
4. Das dritte Paradies als Modell
5. „Eyes open – eyes closed“
5.1 Die Augen schließen: Das Mystisch-Kontemplative
5.2 Mit offenen Augen agieren: Das weltzugewandte Handeln und Gestalten
5.3 Mit einem geöffneten und einem geschlossenen Auge die Gegenwart Gottes feiern – Das Liturgisch-Kultische
6. Wo das Dritte Paradies entsteht – Die Gemeinschaft Sant’Egidio
7. Die politische Mystik der Psalmen
III. Freestyle Religion für das 21. Jahrhundert
1. Nicht-doktrinär spirituell
2. Sinn und Sinnlichkeit – Leibbezogene Präsenzkultur
3. Offenporige Autonomie
4. Freestyle Religion – eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt
5. Teil der Kultur und Gegenkultur zugleich – die neue Rolle der Kirche im Zeitalter von Freestyle Religion
5.1 Das Eigene zum Glänzen bringen – Workshop-Kirche
5.2 Ort des Verdrängten und Misslungenen: gegenkulturelle Strömung
IV. Wie beginnen? – Hinweise zur spirituellen Praxis
1. Im Vorhof des Heiligen
1.1 Achtsam in der Natur
1.2 Körperübungen und Stressabbau – MBSR
1.3 Die eigene Stimme finden: grünes Schreiben und Speedwriting
2. Das Meditativ-Kontemplative gestalten
3. Das Liturgisch-Kultische gestalten
4. Gestaltendes Wirken
5. Straßenexerzitien und Alltagsexerzitien – vom Abschreiten aller drei Kreise
Anmerkungen
Literatur
Und dies ist der Grund, warum unsere Theologie gewiss ist: Weil sie uns von uns selbst wegreißt und uns außerhalb von uns versetzt, damit wir uns nicht auf unsere Kräfte, unser Wissen, unseren Sinn, unsere Werke und unsere Person stützen, sondern uns auf das verlassen, was außerhalb von uns ist, nämlich auf die Verheißung und auf die Wahrheit Gottes, die uns nicht täuschen.
Martin Luther (WA 40/I 589, 25–28; Übersetzung U. H.)
Konturen des Neuen
Oft ist der Nebel vor dem Fenster meines Arbeitszimmers so dicht, dass der Blick nach draußen nichts als eine weiße Wand zeigt. Wenn die Nebelschwaden allerdings in Bewegung geraten, lassen sie für kurze Augenblicke Umrisse von Bäumen, Häusern und Hügeln sichtbar werden. Manches lässt sich mehr erahnen als sehen. Der Stall auf dem Hügel gegenüber taucht kurz auf, dann ist er wieder verschwunden.
Bei solchen Wetterlagen blicke ich oft sehr lange hinaus. Lasse meinen Blick schweifen und halte Ausschau, ob sich die vertraute Umgebung mit ihren Umrissen und Konturen zeigt.
In den letzten zwei Jahren ist mir der Blick aus dem Fenster zum Inbegriff dessen geworden, was mir auch in meinem Nachdenken wichtig geworden ist.
Wer einmal angefangen hat, über Religion und Spiritualität nachzudenken, wird so schnell damit nicht aufhören können, hinzuschauen und zu warten, bis sich Konturen abzeichnen. Ermutigt durch den Wüstenvater Pior, von dem erzählt wurde, dass er jeden Tag einen Anfang machte, möchte ich nach meiner minimalistischen Spiritualität („Leben mit leichtem Gepäck“), die das Abwerfen von unnötigem Ballast ins Zentrum stellte, nun den Versuch unternehmen, das Ganze und Grundlegende christlicher Spiritualität in den Blick zu nehmen. Vor unseren Augen entstehen gerade neue Konturen des Religiösen, also freie Formen von Religion (Freestyle Religion) bzw. neue Formen des Umgangs mit Elementen traditioneller Religion (religious Freestyle), die diese grundlegend verändern. Diese Entwicklung wirft viele Fragen auf: Entsteht dadurch nicht eine religiöse Beliebigkeit, die oberflächlich, egoistisch, gemeinschaftsfeindlich, unkooperativ und politisch desinteressiert ist? Oder stecken diese neuen Formen spätmoderner Religiosität voller überraschender Möglichkeiten, die lange schon in unserem Glauben angelegt waren und erst jetzt zu Tage treten? Und, so möchte ich weiter fragen, ist es möglich, tragfähige Religiosität von oberflächlichen Scheinformen zu unterscheiden? Und anhand welcher Kriterien könnte eine solche Unterscheidung gelingen? Wer hat heute überhaupt noch das Recht und die Autorität, „echte“ und „richtige“ Religion von „unechter“ und „falscher“ zu unterscheiden?
Im Begriff „Freestyle Religion“ schlummert bereits ein verborgener Wunschtraum, der wohl allem religiösen Streben innewohnt: der Wunsch, aus dem ermüdenden Selbstgespräch mit uns selbst herausgerissen zu werden. Religion, wie immer wir diese verstehen, ist immer schon mit dem Wunsch, dass wir über uns hinausgelangen, unauflösbar verbunden.
So sucht Freestyle Religion den Punkt, an dem wunderbares Wirken erlebbar wird: hinausgeführt zu werden über die eigenen beschränkten Möglichkeiten und hineinzuspringen in die Weite des Göttlichen. Freestyle Religion erhofft wunderbares Wirken auch noch in einer anderen Hinsicht, nämlich selbst wirksam und aktiv zu werden, über die eigenen Interessen hinausgeführt zu werden und kooperativ mit anderen Wunderbares und Erstaunliches entstehen zu lassen. Freestyle Religion, so lässt sich das Folgende vielleicht in der kürzestmöglichen Form umreißen, sucht nach dem wunderbaren Wirken, das mich über mich hinausführt – zu anderen und zum Transzendenten.
Weil sich mein Nachdenken stets im Dialog entfaltet, im tagtäglichen mit meiner Familie und darüber hinaus mit meinen Freundinnen und Freunden in Deutschland, Italien, der Schweiz und wo immer sie gerade stecken, möchte ich ihnen dieses Buch widmen. Ihnen allen verdanke ich vielfältige Impulse und Fragestellungen, ohne die „Freestyle Religion“ undenkbar gewesen wäre.
Rehetobel/St. Gallen im Februar 2020
I.
Religion lebt – oder ist sie doch schon tot? Zur religiösen Gegenwart
1. Was kommt, ist schon da
Was ich in meinem Alltag als Pfarrer erlebe, ist kein großes, alles erschütterndes Erdbeben, sondern Schlimmeres als ein Erdbeben. Die alten Kirchenmauern, die jahrhundertelang das, was wir Religion nennen, umschlossen, beschützt und bewahrt haben, werden nicht von einem spürbaren heftigen Erdstoß in Schutt und Asche gelegt. Was sich hinter unserem Rücken, also irgendwie spürbar, aber eben nur schwer fassbar, vollzieht, ist ein inneres Zerbröseln und Bröckeln des alten Gefüges, als würden sich die Steine, die lange die Kirchenmauern getragen haben, von innen zersetzen, verfaulen wie Obst, das überreif ist und seine Zeit gehabt hat. Das Alte trägt nicht mehr, verliert an Plausibilität und Evidenz. Auf einmal verlieren die alten Überzeugungen ihre Kraft, die Netze lösen sich auf. Neue Lebensrhythmen, andere Gewohnheiten, veränderte Perspektiven rücken traditionelle und ererbte Kirchlichkeit in ein blasses, wenig anziehendes Licht. Religion und Glaube sind den Medien jenseits von Pädophilie und Kirchenaustrittsstatistiken lange schon keine Schlagzeile mehr wert, denn das kirchliche Siechtum ist wenig interessant. Einerseits.
Andererseits gibt es offenbar diese vage Sehnsucht nach Spiritualität, diese diffuse Rückkehr der Religion. Der Buchmarkt zu Spiritualität (und Esoterik) boomt und treibt immer neue und überraschendere Blüten. Doch bleibt diese Sehnsucht neblig, schwer zu fassen. An den Kirchen, den organisierten und institutionalisierten Strukturen, zieht sie jedenfalls vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Bankreihen am Sonntagmorgen bleiben zumeist leer.
Das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu dem, was ich als „Freestyle Religion“ beschreiben werde. Mit Absicht wähle ich einen Ausdruck, der im üblichen kirchlich-theologischen Sprachgebrauch eher ungewöhnlich, wenn nicht sogar ein wenig verwirrend ist. In jedem Fall ist „Freestyle Religion“ oder „religious Freestyle“ unbelastet von Vorurteilen und vorschnellen Einordnungen. Freestyle Religion ist das Kommende, das schon da ist, die Kontur des Neuen, das sich zeigt. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir diese Kontur bereits an vielen Orten als praktizierte und gelebte Religion. Zugleich enthält sie, wie ich meine, ein noch unentdecktes Potential, das es zu entwickeln und zu stärken gilt – um der Religion und der Menschen willen. Freestyle Religion kommt und ist schon da. Versuchen wir also zu verstehen, was in unserer Gegenwart religiös vor sich geht und was sich zukünftig immer deutlicher zeigen wird. Eine Beschreibung der Gegenwart kommt nicht umhin, auch zu beschreiben, wie es zu diesem Zustand der Gegenwart gekommen ist: Welche Wellen haben der Religion ihre derzeitige Gestalt gegeben, welche Stürme und Sturmfluten sind über sie hereingebrochen?
Und was lassen sich daraus für Schlüsse für ihre zukünftige Gestalt ziehen: Bleiben die Kirchen als Symbolgestalten institutionalisierter Religion ohnmächtige Opfer dieser Prozesse, oder vermögen sie diesen Veränderungsprozessen aktiv eine Richtung zu geben? Ist die Theologie mehr als ein hinterherdenkendes und dogmatisches Anhängsel der Kirche? Oder kann sie vorausdenken, konstruktiv Potenziale und Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft der Religion entwickeln und in Gang setzen? Kurz: Kommen die Kirchen aus ihrer jammernden und selbstzentrierten Opferrolle heraus und können sie etwas zur Lebensbewältigung, zur Heilung des Einzelnen und des Gemeinschaftlichen heute beitragen? Kritisch beitragen, indem sie Fehlentwicklungen benennen und im Gespräch mit anderen Wissenschaften Kriterien für gelungene Religiosität und Spiritualität so aufzeigen, dass der Einzelne in die Lage versetzt wird, eine eigene Spiritualität, einen eigenen Glaubensstil, seine und ihre Freestyle Religion so zu gestalten, dass sie nicht nur eine Privatsache bleibt, sondern auch aufs Gemeinschaftliche ausstrahlt?
In diesem Sinn versteht sich das Folgende als kritische und praktische Anleitung, die individuelle Art spirituell zu sein, so zu entwickeln, dass sie tragfähig, also eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt zugleich ist. Denn eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt muss eine Spiritualität sein, so meine Grundthese, wenn sie tragfähig und belastbar sein soll.
Im ersten Teil werde ich versuchen, die Kräfte, die unsere religiöse Gegenwart prägen, sichtbar zu machen. Im zweiten Teil wird es darum gehen, die drei grundlegenden Dimensionen des Religiösen zu beschreiben. Die wesentlichen Merkmale des Freestyle, also die Muster, die unseren Umgang mit religiösen Elementen bestimmen, werden im dritten Kapitel genauer bestimmt. Das vierte Kapitel schließt mit praktischen Übungen.
2. „Freestyle Religion“ und „religious Freestyle“
Um aus den religiösen Festlegungen und Vorurteilen herauszukommen, habe ich für meine Überlegungen einen Terminus gewählt, der ursprünglich aus dem jugendlich geprägten Bereich des Sports kommt, inzwischen aber eine existenzielle Grundhaltung beschreibt. „Freestyle“ bezeichnet seit den 1980er Jahren den individuellen Wunsch, dem Leben einen eigensinnigen und eigenwilligen, ganz persönlichen Stil zu geben. Was sich ursprünglich auf die sportliche Fähigkeit bezog, mit dem Snow- oder Skateboard etwas Eigenes zu kreieren und anderen zeigen zu können, einen eigenen Sprung oder eine neue Sprungkombination, ist inzwischen zum gesellschaftlichen Normalfall geworden: In den 1960er Jahren war jeder ein Künstler. Heute ist jeder ein Freestyler. Jede etwas Eigenes. So lautet der Imperativ des Heute: Arbeite das Besondere deines eigenen Selbst heraus.1
Wenn ich am Rand der Skipiste wackelig auf meinen Ski stehe und (etwas neidisch) zuschaue, wie andere einen spektakulären Sprung nach dem anderen über die Schneerampe hinlegen oder wie „Freerunner“ über Parkbänke und Mauern springen, wird mir deutlich, was Freestyle meint. Jahrelang habe ich in Italien meinen Kindern beim Parcours-Training zugeschaut, wie sie die Bewegungsfolgen für Backflips und Saltos geübt haben. Wer Jugendlichen beim Freestyle-Sport zuschaut, versteht sehr bald, dass sich im „Freestyle“ physisches Können, persönlicher Ausdruck, bewusste Gestaltung, Individualität und Gruppenzugehörigkeit auf einzigartige Weise verbinden.
Mit dem Begriff „Freestyle Religion“ übertrage ich nun das Bedürfnis nach etwas Eigenem auf den Bereich der Religion: Menschen beginnen, ihre Religiosität zunehmend bewusster und in Anpassung an ihre eigenen Lebenslagen und Bedürfnisse als etwas Eigenes zu gestalten. Kein Wunder also, dass auch in anderen Bereichen (und auch in der Theologie) Freestyle zunehmend in den Blick gerät.
So heißen Freestyler in der neueren Wirtschaftssprache „Lead User“. Das sind die Menschen von morgen, weil sie Bedürfnisse haben, die die breite Masse noch lange nicht hat und die darüber hinaus an Problemlösungen arbeiten, die kreativ auf solche Bedürfnisse antworten.2
In der theologischen Dogmatik wird so etwas nicht selten als Bastel-Mentalität und „Bastel-Religion“ abgewertet. Freilich ohne die Nöte und die Sehnsüchte zu verstehen, die einen solchen selbstverantworteten religiösen Gestaltungsprozess motivieren und notwendig machen. Um was es mir im Folgenden geht, ist deshalb mehr und substanzieller als eine solche Bastel-Religion. Seine wirkliche Sprengkraft zeigt der Begriff „Freestyle Religion“ erst, wenn wir ihn im Sinne von „religious Freestyle“ verstehen, also nicht nur als eine weitere Religion, sondern als eine grundlegend neue Haltung der Religion und dem Religiösen gegenüber. Eine Haltung, die das übliche monotheistische Entweder-oder zugunsten eines additiven Sowohl-als-auch übersteigt. Das Substantiv „Religion“ und die Substanz der Religion, der sich klare Zugehörigkeiten und Glaubensinhalte zuordnen ließen, lösen sich zunehmend in das Adjektiv „religiös“ auf, dem diese Klarheit und Eindeutigkeit fehlen. Religionen lassen sich voneinander abgrenzen, religiös sein nicht mehr. So tun wir gut daran, nicht nach Religion, sondern nach religiös sein zu fragen, nicht nach Mystik, sondern nach dem Mystischen, nicht nach Spiritualität als einem abgegrenzten Bereich, sondern nach spirituellen Dimensionen, die sich einem Subjekt erschließen können.
3. Vom Zerbröseln institutionalisierter Religion
Die großen Epochenzäsuren lassen sich in der Regel an einzelnen Ereignissen festmachen: Das Ende des Kalten Krieges lässt sich mit dem Fall der Berliner Mauer eindeutig datieren, die Reformation mit Luthers Thesenanschlag 1517. Ganz gleich, wie viel historisierende Phantasie beim krachenden Anschlagen der 95 Thesen von Martin Luther an die Kirchentür der Wittenberger Schlosskirche mit im Spiel ist – am Ende hat jeder Hammerschlag zum Einsturz der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung geführt. Die Situation, in der wir uns heute befinden, macht es uns da viel schwerer, ein aussagekräftiges Ereignis zu benennen, das uns das An-den-Rand-Drängen institutionalisierter Religion so veranschaulicht, wie es die Beschreibung des belgischen Theologen Bruno Latour tut: „Als man merkte, dass das Kirchenschiff zu weit war, zog man sich auf die Kapelle zurück und überließ den Touristen die heiligen Stätten, die der Verwaltung historischer Baudenkmäler zufielen; dann fand man die Kapelle zu groß und flüchtete in die Krypta; als ihnen die Krypta zu weitläufig erschien, drängten sich die wenigen Verbliebenen in der Sakristei zusammen. Und morgen? Man wird sich in einem Besenschrank verstecken und nicht mehr hinauswagen.“3
Es ist nicht nur ein stiller Exodus aus der Kirche, der sich seit den 1960er Jahren vollzieht. Es ist eben mehr als nur das allmähliche Abschmelzen einer Großinstitution. Es geht vielmehr um das innere Abreißen einer Verbindung zwischen den Menschen und der Kirche als Institution. Es ist wie ein inneres Abhandenkommen, das in den meisten Fällen die Kirchenmitgliedschaft sogar einschließt. Man gehört formell noch zur Kirche, aber man hört nicht mehr hin, fühlt sich bei jedem Kontakt eher fremd als heimisch und versteht die Sprache, die dort gesprochen wird, immer weniger. Wie bei einem alten Ehepaar, das zwar noch im gleichen Haushalt lebt, aber lange schon innerlich ausgezogen ist.
Auf dem Etikett, das diesen Prozess beschreibt, steht Entkirchlichung und Enttraditionalisierung. Was innerhalb der Kirchenmauern gilt, gilt lange schon nicht mehr außerhalb. Was im kirchlichen Inner-Circle Common Sense ist, stößt außerhalb nur noch auf Kopfschütteln: eine kleine Party an Karfreitag, warum nicht? Halloween zu feiern, ist doch cool, oder? Tischgebete sind peinlich, für die Kinder ohnehin und Gästen sowieso nicht zumutbar. Das Problem daran: Auch den Inner-Circle gibt es vielerorts schon nicht mehr. Die einzigen, die Halloween nicht feiern, sind die Pfarrerskinder, die nicht kommen durften.
Um unsere Gegenwart und die Rolle der Religion darin zu verstehen, müssen wir die Geschichte erzählen, die zu dieser Gegenwart geführt hat. Bis vor Kurzem wurde diese Geschichte unter dem Stichwort der „Säkularisierung“ erzählt. Ihre Kurzfassung besagt: In der ausdifferenzierten Moderne wird Religion überflüssig und verliert immer mehr an Bedeutung, bis sie schließlich gänzlich verschwindet. Betrachtet werden kann sie dann nur noch in den Glasvitrinen der historischen Museen. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass sich das Sterben des bereits totgesagten Patienten Religion nicht nur in die Länge zieht, dass dieser vielmehr erstaunlich vital erscheint. Die Geschichte der Säkularisierung, also das Vorrücken von Wissenschaft und Technik und die Inbesitznahme von einst religiösen Bereichen, muss offenbar differenzierter und anders erzählt werden4 – und zwar so, dass der Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion (Kirchen) einerseits und der breitgefächerte Boom des Spirituellen anderseits gleichermaßen in den Blick kommen. Ob dieser Prozess als Verlust beschrieben werden muss oder als Chance der Religion, endlich nichts anderes sein zu müssen als Religion, bleibt dabei zunächst offen: „Die Religion, die durch die Feuertaufe der Säkularisierung gegangen ist, weiß um die Grenzen der Religion, also um die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung. Die Gesetze des Himmels und der Erde mit den Mitteln der Religion zu ergründen und zu verkünden: Das geht nicht! … Die Kirche ist nun nicht mehr für alles zuständig, nur noch für Spiritualität und Religiosität.“5
Wie immer dieser Prozess bewertet wird – in jedem Fall kommt es zu erheblichen Verschiebungen und Verlagerungen. Und diese erdbebenartigen Verschiebungen sind es, die für die Großkirchen spürbar und immer deutlicher sichtbar werden.
Schauen wir diesen Prozess etwas genauer an, lassen sich mindestens fünf Aspekte ausmachen, die zu dieser Situation geführt haben und sie heute noch prägen.
3.1 Individualisierung eins und zwei
Zur Eigenart geschichtlicher Prozesse gehört es, dass in ihnen verborgene Spannungen und bisher zusammengehaltene Gegensätze erst im Laufe der Zeit deutlich hervortreten und möglicherweise auseinanderbrechen. Das spannungsvolle Beieinander von Religion und Individualität gehört zu diesen Phänomenen. Das Christentum hat sich, anders als das Judentum, zu dem es anfangs noch gehörte, immer an den Einzelnen gewandt. Ohne Ansehen von Herkunft, Sprache, religiöser Zugehörigkeit und Geschlecht galt die christliche Botschaft den Einzelnen, um aus diesen „Herausgerufenen“ die „ecclesia“, die Kirche, zu bilden. So war und ist noch immer die am Einzelnen vollzogene Taufe, die auf der individuellen Glaubensentscheidung (etwa bei der Konfirmation) beruht, zentrales Sakrament des christlichen Glaubens. In diesem Sinne ist christlicher Glaube Quelle von Individualisierung. Soziale und kulturelle Bindungen lässt der Einzelne hinter sich, um seiner individuellen Berufung zu folgen. Zugleich wird diese individuelle Entscheidung durch die Eingliederung in den Glauben der Glaubensgemeinschaft eindeutig begrenzt. Wer sich taufen lässt, bindet sich an den geteilten Glauben der anderen Getauften. So ist christliche Religion sowohl Quelle von Individualisierung als auch deren Gegenteil, nämlich die Beschränkung von Individualität. Der Soziologe Ulrich Beck nennt dieses Stadium Individualisierung eins: „Individualisierung Eins meint Individualisierung in der Religion.“6
Martin Luthers reformatorisches Denken radikalisierte diese individuelle Freiheit des Einzelnen gegenüber der katholischen Amtskirche nachhaltig. „Die ‚Erfindung‘ des eigenen Gottes bildet vielleicht das Herzstück der Revolution Luthers. Er ist es, dem das ‚Undenkbare‘, das ‚Ungeheuerliche‘, die ‚Häresie‘ gelingt, durch die Konstruktion der Gottunmittelbarkeit des Individuums in der Verbindung von dem ‚einen‘ und dem ‚eigenen Gott‘ die subjektive Glaubensfreiheit gegen die kirchliche Orthodoxie zu begründen.“7
Trotz der Loslösung des eigenen Gottes von der Amtskirche bleibt dieser jedoch an die christliche Überlieferung, sprich Bibel, gebunden: „Der eigene Gott Luthers ist also keineswegs der ‚Bastel-Gott‘ des 21. Jahrhunderts, sondern der wörtliche Bibelgott, der sich in der Schrift offenbarende, eigne und einzige Gott. So paradox es klingen mag, der ‚eigene Gott‘ Luthers fällt zusammen mit dem einen Gott der Bibel.“8
Auch wenn der Soziologe Beck hier das Schriftverständnis Luthers reichlich stark verkürzt und nicht sieht, wie gerade bei Luther das Ankommen Gottes beim Menschen ein lebendiges Geschehen ist, das über den bloßen Buchstaben der Bibel weit hinausgeht,9 bleibt festzuhalten: Die christliche Freiheit im Verständnis Luthers bewegt sich innerhalb der christlichen Überlieferung, vor allem in ihrem Bezug auf die Heilige Schrift.
Wie sich im Verlauf der weiteren Geschichte zeigen sollte, war damit aber noch nicht der letzte Schritt der Inanspruchnahme von Freiheit getan. Es folgte ein zweiter Individualisierungsschub: „Individualisierung Zwei“. In diesem zweiten Schritt nehmen die Einzelnen nicht nur die Freiheit in Anspruch, innerhalb der christlichen Religion frei zu wählen, sondern auch wählen zu können, frei von Religion zu sein. Damit wird Religion eine Option, die man ergreifen kann, aber nicht muss. Zur einzigen Autorität wird damit die individuelle Autonomie, vor der bestehen muss, was Gültigkeit haben soll.
3.2 Kosmopolitische Konstellation
Religiosität wird im 21. Jahrhundert – anders als noch vor 100 Jahren – unausweichlich in einer „kosmopolitischen Konstellation“ gelebt: immer ist man von Gläubigen anderer Religionen, von Nicht-Glaubenden und Anders-Religiösen umgeben. Religiöser Pluralismus wird somit zur Alltagserfahrung, die bis in die innersten Poren des Einzelnen eindringt. Denn allein die Präsenz der Anders-Glaubenden führt vor Augen, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, anders und anderes zu glauben und auf andere Weise religiös zu sein. Die selbstgewählte religiöse Option wird damit ein Stück fragiler, weil es offensichtlich auch Alternativen zur eigenen Religiosität gäbe. Wie wir später noch sehen werden, kann Kosmopolitisierung positiv durchaus als Bereicherung der eigenen Religiosität erlebt werden und eine Kultur der Anerkennung anderer mit sich bringen. Die kosmopolitische Konstellation wirft in jedem Fall die Frage auf, wie mit dem Fremden und der eigenen Unsicherheit im Umgang mit ihm umzugehen ist. Längst haben sich religiöse Kulturen aus ihren Ursprungsländern gelöst und sind vor der eigenen Haustür, ja mehr noch: im eigenen Herzen angekommen.
3.3 Kulturalisierung
Immer wieder versuchen Soziologen durch Schlagworte die die Gegenwart bestimmenden Muster und Logiken auf einen Nenner zu bringen: die Risikogesellschaft, die Erlebnisgesellschaft usw. In der derzeitigen soziologischen Diskussion ist es nun Andreas Reckwitz, der mit seinem Versuch, Singularität als das Merkmal der Gegenwart zu beschreiben, viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. In seiner Gesellschaft der Singularitäten untersucht er das Streben spätmoderner Subjekte nach Selbstverwirklichung, Authentizität und Besonderheit. „Sei etwas Besonderes“ ist nach Reckwitz der singularistische Imperativ der Spätmoderne Obwohl die Suche nach Selbstentfaltung ja bereits seit den 1960er Jahren zum Inventar moderner Subjekte gehört, hat sich der Vorgang der Kulturalisierung, wie Reckwitz ihn nennt, nochmals intensiviert und auf praktisch alle Lebensbereiche ausgedehnt. War die Moderne zunächst durch Rationalisierungen geprägt,10 die unter dem Gesichtspunkt der Effizienz das Problem der Knappheit behoben, so tritt in der Spätmoderne neben die Rationalisierung, die genormte Standardprodukte hervorbrachte, das Prinzip der Kulturalisierung. Kulturalisierung meint einen Bewertungsprozess (Valorisierung), in dem Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive auf bestimmte Weise in ein soziales Raster eingeordnet werden; mit anderen Worten geht es darum, wie Dinge, Menschen, Zeiten und Orte mit einem kulturellen Wert versehen werden. Von Kultur können wir dort sprechen, wo etwas oder jemandem gesellschaftlicher Wert zu- oder abgeschrieben wird. Die einzelnen Subjekte sind dabei ständig auf der Suche nach etwas Besonderem, das sie emotional berührt. Was emotional berührt, gilt als wertvoll und authentisch und unterscheidet sich so von allem Standardmäßigem. „Ein Nahrungsmittel oder eine Mahlzeit beispielsweise kann zum Gegenstand der Kulturalisierung werden, indem es über seinen Nutzen hinaus als Träger von Wert valorisiert wird (‚gesund‘, ‚originell‘, ‚heilig‘ etc.) und affizierend wirkt (‚erhebend‘, ‚geschmackvoll‘, ‚außergewöhnlich‘) … Die Mahlzeit wird aus dem allgemeinen Katalog der Ernährungsweisen herausgehoben, sie entwickelt eine Eigenkomplexität und innere Dichte …“11
Nahrung dient so nicht nur dem Stillen eines Grundbedürfnisses, sondern wird geradezu sakral aufgeladen.12 In fünf verschiedenen Hinsichten lassen sich Objekte, Subjekte, Orte, Zeiten und Kollektive als wertvoll qualifizieren. Sie können eine ästhetische, narrativ-hermeneutische, ethische, gestalterische oder ludische (spielerische) Qualität erhalten, wobei sie entweder einer Sinndimension oder einer sinnlichen Dimension zugeordnet werden können. Damit nun das einzelne Subjekt selbst zu etwas Besonderem werden kann, muss es sich möglichst viele dieser als dicht und eigenkomplex zu verstehenden Objekte durch Erfahrung aneignen. Verbunden ist damit die Hoffnung, dass durch den Umgang mit diesen einzigartigen Objekten deren Einzigartigkeit auf das Selbst abfärbt. „Etwas gilt (nur dann) in der Welt, wenn es interessant und wertvoll ist, und das heißt: wenn es singulär ist, wenn es affektiv anspricht und authentisch scheint. Konsequenterweise erwartet das spätmoderne Subjekt diese Einzigartigkeit auch von den anderen Subjekten – und von sich selbst.“13
Nun sucht der Einzelne, der selbst einzigartig sein will, ja nicht allein nach dem Besonderen, das er sich aneignen könnte, vielmehr vollziehen sich diese Prozesse, angefeuert durch den Selbstverwirklichungsimperativ, auf einem ganzen Markt, auf dem um Sichtbarkeit und Anerkennung vor einem Publikum gekämpft wird: Singularität ist kompetitiv, geht es doch darum, von einem launischen und zerstreuten Publikum als einzigartig und authentisch bewertet und „gelikt“ zu werden. Die digitalen Medien und Portale zwingen so zur Selbstinszenierung und Performance.
Obwohl nicht alle sozialen Schichten von diesem Phänomen betroffen sind – die sozial Schwachen kämpfen mit anderen Problemen wie unbezahlten Rechnungen und Lebensmittelbeschaffung –, erzeugen die hier beschriebenen Prozesse einen enormen Druck auf den Einzelnen, von dem auch sein Verhältnis zum Religiösen nicht unberührt bleiben kann. Wir werden darauf zurückkommen.
3.4 Entdogmatisierung
Darf man den regelmäßig durchgeführten Umfragen trauen, in denen nach der Zustimmung zu inhaltlichen Aussagen des christlichen Glaubens gefragt wird, nimmt der Abstand der Europäer zu den Lehren der Kirchen immer mehr zu. Einmal mehr zeigt sich, dass institutionalisierte Religion und individueller Glaube immer weiter auseinandertreten. „Die individualisierten Gläubigen laufen wortwörtlich den alten Kirchenvätern und ihren Dogmen davon …“14