Buch lesen: «Bauern, Land», Seite 2

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2. KAPITEL
DAMALS
Warum ein Bauer aus der Stadt einen Hofsuchte. Ankunft am Ende der Welt. Das Gesetz der Moorbauern.

MEIN VATER HAT EINE ERKUNDUNGSFAHRT GEMACHT, fuhr mit dem Zug vom Niederrhein nach Norden, in den 1950er-Jahren. Es ist eine Fahrt, bei der man lange vor der Ankunft denkt, man müsste gleich schon die Küste erreicht haben. Denn die Flachheit des Landes scheint immer dringlicher in etwas anderes überzugehen, das Grün der Felder sich in die Bläue des Meeres verwandeln zu wollen, der weite Himmel sich schon über ein großes Wasser zu erstrecken.

Ob er schon vorbeigefahren ist an der kleinen Bahnstation, hat er sich vielleicht gefragt. Und wenn er ein echter Reisender gewesen wäre, hätte er sich dann in dem Hafenstädtchen am Ende der Strecke einen Imbiss gesucht, frischen Fisch gegessen, aufs Meer geblickt, zu den Möwen hochgesehen und die Seeluft geatmet und dabei vielleicht ein Stück Zuhause empfunden? Denn er war einmal an der Ostsee zu Hause gewesen. Hier wäre es ohnehin nur die Nordsee gewesen und er war kein Reisender. Er war ein Bauer ohne Hof, der wieder ein Bauer mit Hof sein wollte und möglichst nahe am Meer. Er hatte die Bahnstation noch nicht verpasst. An den Zugfenstern zogen die Roggen-, Hafer- und Gerstenfelder vorüber, wurden immer mehr zu Wiesen und Weiden, auf denen Kühe, Pferde und Schafe grasten. Um die tief geduckten strohgedeckten Bauernhäuser mit ihren Ställen und Scheunen standen Erlen und Eichen, nebenan auf einer Wiese Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume, vielleicht war auch einmal ein Kirschbaum dabei. Dazu passend große Scharen weißer Gänse, die mit ruckenden Bewegungen Gras rupften, Pferdeweiden in Sichtweite des Hauses, Schweine, die um die Ställe herum im Boden wühlten. Männer und Frauen und Kinder fuhren mit Treckern oder Pferden von den Höfen auf die Felder.

Inmitten der Felder einsame Baumgruppen, deren Kronen zu einem Schopf zusammengewachsen schienen, durch stetigen Wind ostwärts gekämmt. Vielleicht konnte mein Vater sogar vom Zug aus sehen, dass die Baumstämme auf der Wetterseite von dem dort anhaftenden Schleier aus Moosen und Flechten grün waren. Die Kopfweiden entlang der Gräben stehen seltsam still – als wären sie Menschen, die sich plötzlich in Bewegung setzen könnten.

Immer wieder tief liegende Gräben, viele schmal, einige sehr breit, grenzen sie die Höfe und Felder voneinander ab. Manchmal kann man die Höfe nur ahnen durch die an ihren Rändern wachsenden dichten Erlen oder Eichen. Die Felder liegen hier weit unterhalb des Straßenniveaus und erst recht unter dem der Bahntrasse. Sodass man als Betrachter über alles hinwegsehen, hinwegsegeln oder -schweben könnte.

Aber genau das konnte mein Vater nicht. Er musste sich, im Gegenteil, alles sehr genau ansehen und zu Hause berichten. Und eine Entscheidung treffen.

Dann war er endlich doch im Dorf angekommen, dem Dorf mit der schnurgeraden Straße, an der fast zwanzig gleich große Hofstellen lagen, in dem keine Kirche, aber eine Schule, ein Gasthaus und ein eigener Friedhof existierten. Der Makler hatte ihn vom Bahnhof abgeholt. Einer der Höfe steht zum Verkauf, der Hoferbe war im Krieg gefallen. Er ist heruntergekommen und billig zu haben, aber auch das Billige ging für meine Eltern nur mit einem staatlichen Kredit.

Immerhin gibt es eine Straße. Der Schotterweg, den sie ersetzt und der bei Regenwetter für Mensch und Vieh kaum zu begehen war, ist seit einem halben Jahr Vergangenheit. In den Gräben und Kanälen liegt manchmal noch ein flacher, breiter Kahn. Mein Vater lässt sich erklären, dass damit die Milch zur Molkerei und, wenn es schlimm kam, selbst die Bullen zum Verkauf und die Särge zum Friedhof gebracht werden mussten.

Die neue Straße ist auf eine hochgeschüttete Sandschneise gesetzt, große Betonplatten sind aneinandergelegt und mit schmalen Teerstreifen verbunden worden. Schnurgerade zieht sie sich zur Wettern hin, dem breiten Hauptgraben aus der Anfangszeit der Moorkolonisation. Dass ein Graben so heißt, bedeutet etwas. ›Wetter‹, das ist, wenn Regen die Felder und Weiden und Wege durchnässt und tagelang nicht aufhört, wenn starke Winde die Wolken von der Nordsee her in die Elbmündung und weiter ins flache Land treiben. Die Wettern sind Auffangbecken für das ständige Zuviel an Wasser.

Es ist Mai, als wir ankommen. Mein Vater ist wieder vorgefahren und empfängt uns, seine drei kleinen Kinder, Frau und Schwiegermutter. Eine lange Bahnfahrt, vorher das Packen und Einladen der wenigen Möbel aus einem dreijährigen Leben in der Stadt, einem Leben in der kleinen Mietwohnung eines Chemiehilfsarbeiters, als der mein Vater damals im Einwohnermeldeamt der niederrheinischen Stadt geführt wurde. Seinem eigenen Verständnis nach war er Bauer, einer von jenen, die den ›Arbeiter- und Bauernstaat‹ verließen und über die innerdeutsche Grenze gegangen sind, weil ein Leben als Landwirt nach der Kollektivierung, wie er fand, dort nicht mehr möglich sein würde. Rügens Schönheit würde er sein Leben lang vermissen, mehr noch den schweren Ackerboden, den er von zu Hause gewöhnt war. Auf dem hatte man Weizen und Zuckerrüben anbauen können und Kühe fast nur wie nebenbei gehalten. Es war ein großer Hof, von dem er stammte, aber noch bevor er sein Erbe antreten konnte, war die Familie 1945 enteignet worden. In der Stadt am Niederrhein wollte man ihm dann nicht einmal mehr ein Fahrrad auf Kredit verkaufen. Das verblüffte ihn mehr, als dass es ihn ärgerte. Jetzt, in diesem Dorf an der Niederelbe, kommt es für ihn und seine Frau wieder auf etwas an. Sich als Bauern zu beweisen – im Moor, ohne gutes Ackerland, auf Grünland, in der Milchwirtschaft.

Die Familienerzählung berichtet vom Einzug. Meine eigene Erinnerung bringt nur eine Schubkarre voller kleiner Katzen hervor, ein unglaublicher Anblick für das vierjährige Stadtkind, dieses Kribbelkrabbel von getigerten, schwarz-weißen Fellchen mit niedlichen Mäulchen, aus denen es allerdings erschreckend spuckt, als ich sie anfassen möchte, und aus deren Pfötchen sehr spitze Krallen fahren. Überliefert ist, dass der erste Schritt meiner Mutter in die Wohnstube des Hauses begleitet wird von einem gefährlichen Knacken des Holzfußbodens, der dann beim zweiten oder dritten Schritt tatsächlich durchgebrochen ist – und meine Mutter hat natürlich das Gleichgewicht verloren, als der eine Fuß durch den morschen Boden im Nichts verschwand.

Feuchtigkeit, marode Mauern, Moder und Schimmel beherrschten das Haus – an dem von Anfang an bis heute immer wieder herumgebaut und -gebessert worden ist.

Der Anfang war im Mai 1957.

Wenn die Sonne schien, war es schön hier im Moor. Im Frühling wurden die Tage länger. Vor allem aber hatten wir Kinder, die wir an eine Zweizimmer-Neubauwohnung in der Stadt und einen Vater im Schichtdienst gewöhnt waren, plötzlich sehr viel Platz. Nicht mehr die Wohnung zählte, das Drinnen, sondern das Draußen, der Hof, die Scheune, der Stall.

Allerdings löste sich in dem winzigen Kinderzimmer, das keinen Ofen hatte und in dem ich mit meinen beiden Geschwistern schlief, vor Feuchtigkeit bald die Tapete von den Wänden. Es machte uns ein gewisses Vergnügen, in die von der Wand abstehenden Blasen zu stechen und an den dadurch entstehenden Fetzen noch ein wenig zu ziehen. Unter den sich verengenden oder verbreiternden Spuren der reißenden Tapete kamen viele Lagen Farbe und manchmal Muster zum Vorschein, die noch mit Rollen direkt auf die Wände gemalt worden sind.

Unsere Verwandtschaft fand, dass wir hier am Ende der Welt gelandet waren. Unser Vater sagte gerne lachend zu seinen Geschwistern, wenn sie uns besuchten: »Bei uns ist die Welt nicht mit Brettern vernagelt. Wir liegen schon auf der anderen Seite der Bretterwand, auf der die Nägel umgehämmert sind.«

Einmal besuchten uns Vater und Onkel meines Vaters, beides ehemals Bauern auf Rügen. Mein Vater nahm sie an einem regnerischen Vormittag mit zu einer Feldbegehung, wollte ihnen Dorf und Hof und Felder zeigen. Die schwarzen Gummistiefel, die sie dafür brauchten, standen bei uns im Flur. Für unsere Verwandten hatten wir sie in allen möglichen Größen griffbereit, denn ohne sie waren die verloren, versanken meist schon beim ersten Schritt aus dem Auto bis zu den Knöcheln im Matsch.

Nach Stunden kamen die Männer erschöpft und nass zurück. Während mein Vater noch die Milchkannen von der Straße holte, kamen die beiden Alten gleich ins Haus. Langsam zogen sie ihre Stiefel, die großen Mäntel und Jacken aus. Schweigend gingen sie in der Küche an meiner Mutter vorbei, die das Mittagessen warm hielt. Im Esszimmer stellten sie sich mit den Rücken an den mannshohen Kachelofen und wärmten sich. Dann sagte einer von ihnen kopfschüttelnd zum anderen: »Wi möten em ihrst noch dröchleggen.« Wir müssen ihn erst noch trockenlegen – die alten Männer den jungen Mann, wie ein Wickelkind. Nur dass es hier um die Entwässerung aller Ländereien ging. Durch ihren Pfeifen- und Zigarrenrauch hindurch lachten sie leise über ihren grimmigen Scherz.

Onkel Edu ist unser Nachbar zur Linken. Ich sehe ihn an einem frühen Sommerabend mit der hölzernen Trage – de Dracht – über der Schulter, rechts und links ist je eine Milchkanne eingehängt. Er geht zum Melken, seine vier oder fünf Kühe stehen auf der Weide vor dem Hof. Er trägt eine helle, sehr ausgebeulte Manchesterhose, eine ausgebleichte, hellgraue Drillichjacke und einen Hut. Ich laufe rüber zu ihm.

Darf ich zugucken?

Vielleicht habe ich auch gar nichts gesagt und bin nur stumm und ein paar Schritte Abstand haltend mit ihm zur Weide gegangen, wie Kinder auf dem Land das damals taten. Die Kannen sind noch leer und baumeln ein bisschen, und sie würden ihm gegen die Hüften schlagen, wenn er sie nicht mit seinen großen Händen an den Haken, mit denen sie an den Ketten hängen, ein wenig festhalten würde.

Na, min Deern.

Er trägt helle Holzschuhe. Es sind die normalen, nicht die schwarz lackierten mit dem üppigen weißen Schaffell, das sich von innen nach außen über den Span zieht. Die sind für gut. Diese hier, die er alltags anhat, sind reichlich ausgetreten, die Holzsohlen dünn geworden, sie klingen hell, vor allem auf der Betonstraße, die wir überqueren, um zu seinen Kühen zu gehen. Da weiß ich noch nicht, dass er selbst als Bürgermeister viele Jahre um den Bau dieser Straße gekämpft hat.

Am Rande der Weide hängt er die Kannen aus und legt die Trage ab, leise klirren dabei die dünnen Ketten. Dann legt er ein frisches, weißes Tuch zwischen zwei feine, runde Siebe und drückt sie zusammen in den Ausfluss des bauchigen, schüsselartigen Behälters, durch das die frische Milch in die Kannen gegossen wird. Ich muss mir alles genau angucken, denn bei uns ist es anders, wir melken mit der Melkmaschine und unsere Kühe werden zum Melken in den Stall geholt. Inzwischen habe ich keine Angst mehr vor ihnen, aber als die ersten beiden eigenen Kühe im Stall gestanden hatten und nach ihrer alten Herde brüllten, hatten meine Schwester und ich laut geschrien und waren rausgerannt.

Onkel Edu setzt das Sieb auf eine Kanne, nimmt einen umgestülpten Eimer, der zusammen mit dem Sieb unter einem weißen Tuch im Gras gelegen hat, er packt sich den Melkschemel, der nur ein Bein hat – unsere haben drei Beine –, und geht mit einem freundlichen Brummen auf eine der vier oder fünf Kühe zu. Dann setzt er sich mit seinem großen Erwachsenenhintern auf den kleinen Schemel sehr nahe an die erste Kuh, legt seinen Kopf in ihre Flanke, der Hut rutscht ihm dabei ein wenig in den Nacken, und beginnt zu melken. Zuerst klingt der Milchstrahl in dem noch leeren Eimer hell auf, aber bald ist genug Milch unten im Eimer und der Klang wird immer voller und dunkler, die Milch schäumt im Eimer auf.

Ich habe mich ein paar Schritte entfernt ins Gras gesetzt und einen Halm in den Mund genommen. Das habe ich mir bei Onkel Edu abgeguckt.

Er spricht anders mit den Kühen als unsere Eltern, wie sie hier sowieso ein anderes Platt sprechen, und ich lausche, um das Wort zu hören, das er sagt. Aber nur selten murmelt er beruhigend sein »Kischi, kischi, kischi«, wenn die Kuh ein Bein hebt oder sogar einfach weggeht. Dann erhebt er sich von seinem Schemel, den er im Aufstehen geschickt greift und aufnimmt, geht der Kuh nach, setzt sich wieder zu ihr, sagt ein bisschen vorwurfsvoll: »Wi sünd noch nich fardich«, und melkt weiter.

Aber meistens ist es dann nicht mehr viel Milch, die noch kommt, die Kuh hat schon gemerkt, dass er jetzt gleich fertig ist. Am Ende erhebt er sich, nimmt Melkeimer und Schemel in der Bewegung auf und gibt ihr einen leichten Klaps.

So, nu sünd wi fardich.

Ich stehe auch auf, vielleicht weil es sich so gehört, wenn ein Erwachsener aufsteht, vielleicht will ich auch nur genauer sehen, was als Nächstes passiert. Er gießt die Milch durch das Sieb in die Kanne und sieht mich belustigt an.

Na, kannst du auch schon melken?

Ich schüttele verlegen den Kopf.

Na, denn komm mal her.

Und er zeigt es mir bei der nächsten Kuh.

Das ist eine Ruhige, sagt er, die schlägt nicht – und er hält ihr leichthin den Schwanz fest, damit sie mir den nicht um die Ohren haut.

Drücken und ziehen gleichzeitig, sagt er. Mach man. Keine Angst, es tut ihr nicht weh. Nach einer Weile, in der ich mich erfolglos abmühe, sagt er: Mehr drücken als ziehen.

Endlich kommen ein paar Tropfen – aber den breiten Milchstrahl, den er gemolken hat, kriege ich mit meiner kleinen Hand nicht hin.

Na, lot mi man weller.

Er streicht der Kuh beruhigend über den Rücken, die jetzt doch ein paar Schritte weitergegangen ist und sich irritiert nach mir umgesehen hat.

Dann melkt er weiter.

Langsam drifte ich weg, gehe zurück zu unserem Hof.

Am Ende sehe ich ihn, inzwischen wieder von unserem Haus aus, wie er langsam mit der Last der beiden vollen Milchkannen an der Trage zurück zu seinem Hof geht.

Das Wichtigste hier sind die Nachbarn. Im Moor kam es darauf an, einander beizustehen. Kein Siedler erhob sich über den anderen, fast alle waren gleich arm.

»Was für ein Glück, dass wir hier gelandet sind«, sagte unser Vater immer.

Onkel Edu hatte beim Verkauf des Hofs an unsere Eltern mitgeholfen, er war hier der Bürgermeister. Zusammen mit dem Makler war er mit unserem Vater über den Hof und die Felder gegangen und hatte ihm alles gezeigt, die Gräben und Zäune, Kanäle, Wege und Deiche. Gesagt hat er dabei sicher nicht viel, das war nicht seine Art.

»Du müsst hölpen«, hat er vielleicht gesagt. Hier duzte man sich umstandslos. Und einander zu helfen, das war nicht ein irgendwie und manchmal und vielleicht Zur-Hand-Gehen. Vielmehr war es die Verpflichtung zur gegenseitigen Nachbarschaftshilfe. Das Gesetz der Moorbauern.

3. KAPITEL
MITTE 18. JAHRHUNDERT
Was die Schulchronik sagt und was sie verschweigt. Wem gehört das Moor? Als Torfstecher nach Holland.

WIR BEFINDEN UNS UNGEFÄHR IM JAHR 1750.

»Zigeuner« lebten in einer Erdhütte am nördlichen Rande unseres späteren Dorfs, so heißt es in der »Geschichte des Dorfs«, wie sie 1899 der Dorfschullehrer Offermann in seiner Schulchronik aufschrieb. Was seine Quelle war, verrät er uns nicht. Ich nehme an, es war das Hörensagen. Wie groß diese Gruppe angeblicher Zigeuner war, aus wie vielen Familien sie bestand, wie lange sie hier lebten – so nahe der Nordsee im Nirgendwo – und woher sie kamen, solche Fragen fallen nicht in die Zuständigkeit des Dorfchronisten. Vielleicht hatten sie beschlossen, sesshaft zu werden. Oder die Erdhütte inmitten eines weitläufigen, unbesiedelten Moores war nur ein Art Rückzugsort für sie, eine halbwegs feste Bleibe, von der aus sie ihren Geschäften nachgehen konnten, dem Pferdehandel, Messerschleifen, Kesselflicken, Korbflechten, vielleicht auch dem Warzenbesprechen und Wahrsagen.

Der Dorfchronist von damals hat sich zufriedengegeben mit dem, was amtliche Quellen über sie verzeichnet haben, und vermerkt, dass sie »wegen der Räubereien und Umtriebe« schließlich »zur Anzeige gebracht und amtsseitig vertrieben« wurden.

Jedenfalls begannen Besiedelung und Urbarmachung des Moores erst nach dieser Vertreibung. Der erste dokumentierte Bewohner war ein Däne namens Peter Wolderich – und ein Däne war er vielleicht nur, weil er von jenseits der Elbe kam, aus Holstein; alles nördlich von Pinneberg und gen Osten rüber zur Insel Fehmarn war dänisch. Peter Wolderich hatte die Fischereirechte des nahe gelegenen Stinstedter Sees gepachtet. Seine Moorhütte, Stall und Scheune sind auf der ersten Generalkarte der Gegend, nämlich die »Kurhannoversche Landesaufnahme von 1768«, eingezeichnet – als erste Feuerstelle und Anfang unseres Dorfs. Erst seit 1754 war überhaupt gerichtlich festgestellt worden, dass »die wilden Moore, soweit sie noch in heiler Haut liegen, der Landesherrschaft gebühren«. Zuvor hatten Bauern aus umliegenden Dörfern die Moore im Sommer, wenn es trocken genug war, als Viehweide genutzt.

Die Landesherrschaft, die sich jetzt hier im Norden die Moore sicherte, war das Kurfürstentum Hannover. In den Jahren der Moorkolonisation standen Fürsten an der Spitze, die gleichzeitig in Personalunion als Könige das britische Königreich regierten. Als noch absolutistische, aber doch schon aufgeklärte Monarchen dehnten sie ihre Macht aus und kolonisierten neues Land – draußen in der Welt waren es Nordamerika, Afrika und Asien, im Inneren des angestammten Fürstentums die Moore, Sümpfe und Heiden.

Als man Peter Wolderich den Kauf der gesamten Moorfläche anbot, konnte der den Kaufpreis nicht aufbringen, heißt es in den Dokumenten. Daraufhin habe die Obrigkeit die Urbarmachung durch eine Dorfgründung verfügt. Zwanzig Anbauern* sollten auf ebenso vielen, auf zwölf Hektar bemessenen Hofstellen angesetzt werden.

So wurde das Dorf ab 1783 zu einem Teil der seit zwanzig Jahren betriebenen Kolonisation der Moore nordöstlich von Bremen. Wolderich war im hiesigen Bachenbrucher1* Moor der Vorläufer aller Anbauer und schließlich selbst der erste von ihnen.

Auf seiner ursprünglichen Hofstelle werden durchgängig und bis in meine Kindheit hinein seine Nachfahren wirtschaften, sein Hof wird viele Jahre die größte, weil doppelte Siedlerstelle und reichste Landwirtschaft sein. Bis es am Ende das am stärksten heruntergekommene Anwesen ist, mit einem geizigen und streitsüchtigen alten Mann und seiner Schwester als letzten Bewohnern. Für uns Kinder war es nur noch ein unheimlicher Ort, ein einsames und unbelebtes Geisterhaus am Ende des Dorfs.

Warum aber sind die Heiden und Moore des Landes im 18. Jahrhundert mit so großem staatlichem Aufwand und über viele Jahrzehnte hin überhaupt besiedelt worden?

Warum sollte die ›heile Haut‹ der Moore angetastet werden, die Soden entfernt, das Land entwässert werden, warum der Torf gestochen und genügsame Getreidesorten angebaut, Vieh und Bienen gehalten, Bäume gepflanzt und, wo es möglich war, das Land sogar zu Ackerland gemacht werden?

Schon 1745 hatte Friedrich II. in seinem »Antimachiavell« geschrieben: »Die Stärke eines Staates beruht also nicht auf der Ausdehnung seiner Landesgrenzen, nicht auf dem Besitz einer weiten Einöde oder einer ungeheuren Wüste, sondern im Reichtum seiner Einwohner und ihrer Anzahl; darum liegt es im Interesse eines Herrschers, die Bevölkerungszahl zu heben und das Land zur Blüte zu bringen.« In seinem »Politischen Testament« fügte er zwanzig Jahre später hinzu: »Der erste Grundsatz, der allgemeinste und der wahrste ist der, dass die wahre Kraft des Staates in einer hohen Volkszahl liegt.«

Der Staat wollte mehr Menschen – als Steuerzahler und Soldaten. Und tatsächlich wuchs die Bevölkerung ständig. Aber ernähren konnte sie sich häufig nicht.

Besonders traf das auf die Landbevölkerung zu, denn weder das Land noch die Ernte gehörte den Bauern. Die grundbesitzenden Herrschaften forderten Abgaben, die teils noch in Naturalien, meist aber in barem Geld zu zahlen waren. Deshalb gingen im 18. Jahrhundert, sobald es Sommer wurde, immer mehr Männer aus Nordhannover als Wanderarbeiter nach Holland. Die Hollandgänger, wie man sie nannte, arbeiteten als Torfstecher2 und Deichbauern und als Mäher in der Heu- und Getreideernte. Die Arbeiten aber, die man Fremden überlässt, sind immer und überall die schwersten und schmutzigsten. Zu Hunderten und Tausenden zogen nordhannoversche Untertanen im späten Frühjahr los und kehrten erst im September, Oktober zurück. Sie machten das jahre- und jahrzehntelang. Und sie wurden nicht alt dabei. Denn nicht nur die schwersten Arbeiten hob man für sie auf, sondern auch die primitivsten Unterkünfte und das kärglichste Essen. Am Ende aber gab es Bargeld, und davon lebten sie, die Brinksitzer, Häuslinge und Heuerlinge, die nicht-erbenden Bauernsöhne, die sich als Knechte verdingen mussten. So ernährten sie ihre Frauen und Kinder, die, während die Männer fort waren, Hand- und Spanndienste auf den Höfen der Grundherren verrichteten und bei Erntearbeiten der größeren Bauern halfen. Andere Männer arbeiteten in den Häfen, fuhren zur See, gingen in der Saison auf Walfang nach Grönland – viele kamen nicht wieder. Bald wanderten viele nach Amerika aus.

Es war jedenfalls aus diesem Reservoir einer immer kurz vor dem Verhungern stehenden Bevölkerung, aus der sich die »Anbauer im Moor« rekrutierten. In den Akten dieser Zeit votierten die Räte und Amtsmänner für immer mehr Dorfgründungen. Sie schrieben, man wolle doch die Menschen lieber im eigenen Lande halten und ihre Arbeitskraft nutzen, auf dass der heimischen Wirtschaft aufgeholfen und die neuen Dörfer ihre Abgaben an die nordhannoversche Obrigkeit zahlen würden.

Das Projekt der Binnenkolonisation nannte man zu jener Zeit gut französisch die Peuplierung, was mit Ansiedlung ganz gut übersetzt ist. Das Wort Melioration stand für die Kultivierung des Bodens. Aber warum konnte sich die wachsende Bevölkerung nicht ernähren?

Was war der Stand des landwirtschaftlichen Wissens, der Theorie und der Praxis?

* Anmerkungen ab S. 463

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