Licht zwischen den Bäumen

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Licht zwischen den Bäumen
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UNA MANNION

LICHT ZWISCHEN DEN BÄUMEN

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Roman

Steidl

Für meine Mutter

1

An dem Abend, als wir Ellen am Straßenrand zurückließen, fuhren wir die 252 in nördlicher Richtung entlang, ungefähr dort, wo sie auf die 202 trifft und den Pennsylvania Turnpike überquert. Im Westen offene Felder, endlose Weiten aus goldenem Präriegras und Seidenpflanzen, durch die der letzte Streifen Sonne sein splitterndes Licht schickte. Im Osten King of Prussia – graue Industriegelände in der Abenddämmerung, Betonmischer, Kräne und ein Labyrinth aus Fern- und Schnellstraßen. Irgendwo da drüben lag, wie ein abgetrennter Körperteil, auch die Blue Route, die Interstate 476, 1967 begonnen, aber vierzehn Jahre später noch immer nicht fertig: am Ende der Asphaltdecke plötzlich Bäume und hohes Gras – weiter hatte das Geld nicht gereicht. Jugendliche ließen sich dort das Autofahren beibringen oder feierten bis spät in die Nacht. Bei uns hieß sie nur die Straße ins Nichts. So fuhren wir. Die ersten Autos schalteten ihre Scheinwerfer ein, die Anhöhen von Valley Forge direkt vor uns waren nur noch Schatten, die Bäume verwandelten sich in dunkle Umrisse.

Wir waren zu sechst im Auto, Marie saß vorn auf dem Beifahrersitz, Ellen zwischen mir und Thomas auf der Rückbank, und hintendrin, zwischen unseren Taschen und den gesammelten Arbeitsmappen des kompletten Schuljahrs, lag Beatrice. Es war der letzte Schultag, die Sommerferien hatten offiziell begonnen. Unsere Mutter fuhr. Ruppig. Sie trat auf die Bremse, beschleunigte, ließ den Motor im ersten Gang aufheulen und schaltete dann erst hoch. Sie war wütend. Das schreckliche Geruckel des Wagens sprach Bände, und außerdem konnte ich von meinem Platz hinter ihr sehen, wie ihr Kiefer unter der Haut mahlte und zuckte, obwohl sie gar nichts sagte. Ellen und sie hatten gestritten, weil Ellen ihr mit einem Kunstcamp in den Ohren lag, in das sie unbedingt wollte.

»Ich habe nein gesagt.« Die Kinder einfach mit Broschüren im Schulranzen nach Hause zu schicken, grenzte für unsere Mutter an Erpressung. Es machte sie zornig. »Ich habe so schon genug um die Ohren.«

Mir graute vor dem Sommer, der vor uns lag.

Ich drückte die Stirn an die Scheibe und sah hinüber zu dem letzten Faden Sonnenlicht. Sage war jetzt schon bei der Arbeit in der Mall, wo sie im Diner des J.C. Penney kellnerte. Während der Ferien hatte sie dort eine Vollzeitstelle. Es gab kaum einen Sommer, den ich nicht mit ihr verbracht hatte. Vielleicht sollte ich die Unterschrift meiner Mutter fälschen, um an eine Arbeitserlaubnis zu kommen. Mit fünfzehn hätte ich zwar offiziell arbeiten dürfen, aber mir war klar, dass sie mir das nie erlauben würde, weil sie mich brauchte, um auf die Kleinen aufzupassen, während sie im Krankenhaus war. Sie arbeitete am Empfang der Notaufnahme im Paoli Memorial Hospital. Sage meinte, ich solle doch froh sein. Sie beklagte sich ständig über ihre Kolleginnen, die Stützstrümpfe und Gesundheitsschuhe trugen und den Kaffee für andere alte Schachteln verschütteten, die ihrerseits um sieben Uhr morgens ihre Spiegeleier auf Toast mit Parfümpröbchen besprühten. Aber ich beneidete sie trotzdem um ihren richtigen Job mit Stammgästen und Trinkgeld und Zechprellern, beneidete sie um die Geschichten, die sie zu erzählen hatte. Eine Kundin um die neunzig trank jeden Morgen die Kaffeesahne direkt aus dem weißen Porzellankännchen, das auf der Theke stand, und hinterließ einen verschmierten, leuchtend orangefarbenen Lippenstiftabdruck darauf. Mir ging es weder um das Geld noch um die Arbeit – ich war ja jeden Freitagabend zum Babysitten bei den Bouchers. Aber ich hatte Angst vor den vielen einsamen Tagen, die vor mir lagen.

Rechts neben Ellen sagte Thomas flüsternd das Periodensystem auf. »Holmium, Hafnium, Erbium …«

»Lass es«, sagte sie.

»… Phosphor, Franzium, Fluor, Terbium.«

»Sei still. Sei einfach still!« Ellen ließ den Kopf auf die Knie sinken und schlang die verschränkten Arme um die Schienbeine. Sie weinte. Ein pochender Schmerz, der in meinem Nacken begonnen hatte, war über den Schädel bis zur Stirn gewandert. Wenn sie doch beide still wären!

»Du nervst uns alle, Thomas«, sagte ich. »Lass es einfach.«

»Habt ihr gewusst, dass Tränen Glukose, Natrium und Kalium enthalten?«

»Halt’s Maul, du blöder Wissenschaftsfreak!« Ellen trat ihm zwei Mal mit der Ferse gegen das Schienbein und ruckelte dabei am Fahrersitz, an dem sie sich festgehalten hatte.

»Schluss jetzt, sofort! Wollt ihr, dass ich einen Unfall baue?« Unsere Mutter war fuchsteufelswild.

»Außerdem enthalten Tränen ein natürliches Schmerzmittel, Enkephalin«, murmelte Thomas. »Hinterher geht’s dir also sicher besser.«

»Er soll aufhören!« Ellens Stimme klang dumpf.

Ihr Gejammer und sein Gemurmel weckten den Drang in mir, ihm oder sonst wem eine zu kleben. Ellen hatte den Kopf wieder auf den Knien. Ich reckte mich über sie hinweg und bohrte ihm unsanft die Fingerknöchel in die Schulter.

»Sei still, Thomas. Was weißt du schon von Tränen?«

Noch während ich es aussprach, wünschte ich mir schon, ich hätte es nicht getan, denn irgendwas stimmte ja nicht mit ihm, schließlich hatte er, trotz allem, was uns passiert war, nie geweint, hatte sich einfach nur in sein Zimmer und in sich selbst zurückgezogen. Wenn er Ellen ärgerte, war er wenigstens wieder ein bisschen der alte Thomas.

Er erwiderte nichts, drehte sich nur zum Fenster. Lieber wäre mir gewesen, er wäre richtig wütend geworden. Ich wollte es wiedergutmachen, und zum Glück fiel mir ein Witz ein. »Hey, Thomas, was ist ein Chemiker, der sich nichts sagen lassen will?«

Er drehte sich zu mir, sah mich abwartend an. »Was?«

»BOR-niert.«

»Sehr witzig, Libby, aber du weißt ja gar nicht, was Bor ist. Du hast mich gerade zum Element einer Supernova erklärt und damit für nicht von dieser Welt.«

»Jetzt hört ihr alle aber mal auf«, sagte Marie und drehte sich auf ihrem Sitz zu uns herum. Ihr Haar war auf der einen Seite schwarz gefärbt und stand stachlig ab wie bei Siouxsie Sioux. Kurz vor der Abschlussmesse an der Schule hatte sie sich die Wange durchstechen lassen und sich die andere Kopfseite kahl rasiert, dort wuchs das Haar jetzt in blonden Stoppeln nach. Thomas und ich waren sofort still. Marie war fast achtzehn, nur ein Jahr älter als Thomas, aber wir hörten auf sie, vor allem, seit sie angefangen hatte, die Rockplatten zu verschenken, aus denen sie sich nichts mehr machte. Mir hatte sie Who’s Next? aufs Kopfkissen gelegt, nachdem ich einmal zu Hause geblieben war, um auf Beatrice aufzupassen, während sie sich zu einer Party fortschlich, und Thomas hatte Quadrophenia bekommen, weil er Klassenbester geworden war. Jetzt waren wir beide scharf auf Tommy. Thomas fand, die Platte stehe ihm zu, schon wegen des Namens und so. Ich verkniff mir den Hinweis auf weitere Ähnlichkeiten, den toten Vater, die Mutter mit dem heimlichen Liebhaber, das Verbot, über diese Dinge zu reden. Wir beide hatten ja nicht mal einen Plattenspieler. Marie besaß einen tragbaren, den wir alle benutzten.

Draußen, wo der Wald in die Felder überging, säumten Hartriegelbüsche das Unterholz, und sogar im schwindenden Licht sah ich, dass sie all ihre Blüten verloren hatten. Cornus Florida. Ovale Blätter mit ausgeprägten Adern, die sich entlang der sanft gewellten Ränder zur Spitze hin biegen. Kugelige Blüten, von weißen Hochblättern umringt, die viele fälschlich für die Blüten halten. Am letzten Weihnachten vor seinem Tod hatte unser Vater mir das Brevier der Bäume Nordamerikas geschenkt. Ich hatte das Buch immer und immer wieder gelesen, mir so viel über die einzelnen Bäume eingeprägt, wie ich nur konnte. Auch ein Baum-Notizbuch hatte ich mir angelegt, in das ich alle Bäume eintrug, die ich sah, sie bestimmte und zu den verschiedenen Jahreszeiten beschrieb; ich zeichnete sie, pauste ihre Rinde ab, trocknete ihre Blüten.

Das Geschenk kam in einem großen Päckchen, aufgegeben in New York, wo er damals lebte und für seinen Cousin arbeitete, der wie er aus Irland eingewandert war. Er hatte für jeden von uns eine persönliche Karte ausgesucht. Meine zeigte einen Fichtenwald, und ganz vorne stand ein einzelner Baum mit einem Stern auf der Spitze. Dads Handschrift war klein und ungelenk, als wäre er es nicht gewohnt, Karten zu schreiben, was wahrscheinlich auch so war.

Für Libby, die immer unter Bäumen ist. Frohe Weihnachten! Alles Liebe, Dad

Ich kann gar nicht sagen, ob ich so viel Zeit mit Bäumen verbracht habe, weil ich sie liebte, oder weil es ihn so freute, dass ich sie liebte, das kann ich nicht voneinander trennen. Als ich vielleicht sechs war, und er noch hin und wieder bei uns wohnte, kam ich nach einem Tag im Wald abends immer barfuß und verdreckt nach Hause. Einmal setzte er mich auf die Waschmaschine, drehte den Wasserhahn am Becken daneben auf und wusch mir die Füße. Er schäumte sie mit Seife ein, schrubbte sie und bearbeitete meine Fersen, wo sich der Schmutz tief in die Hornhaut gegraben hatte, mit der Nagelbürste.

»Im Wald gibt’s Mokassinschlangen, Libby – du musst dir Turnschuhe anziehen. Du kannst nicht immer barfuß herumlaufen.« Meine Schienbeine waren mit rissigem Schorf verziert, weil ich auf Bäume geklettert und im Dickicht aus Lorbeer- und Rhododendronbüschen herumgekrochen war.

Er nahm meine Hand und führte meinen Zeigefinger über eine besonders dicke Kruste.

»Fühl mal! Du wirst schon ein richtiger Baum. Deine Beine entwickeln Rinde.«

 

Der furchige Schorf war dunkel und erhaben. Ich ertastete seine Form und Beschaffenheit, ließ die Hände an beiden Schienbeinen hinaufwandern, strich über die Krusten.

»Stimmt«, sagte ich und sah glücklich zu ihm auf, und er lachte und trocknete mir sorgsam Beine und Füße ab, auch zwischen den Zehen. Dann zog er mir Strümpfe über die sauberen Füße.

»Jetzt kannst du rauf zu Ihrer Ladyschaft, ohne Ärger zu kriegen. Und halt gefälligst deine Füße sauber!« Aber ich wusste, er liebte meine dreckigen Füße.

An seinem letzten Weihnachten hatte er für uns alle ein Buch ausgesucht. Noch heute stelle ich ihn mir vor, wie er dort in dem New Yorker Buchladen steht und die Bücher aussucht, die uns gefallen könnten, die Karten auswählt und das Geschenkpapier, und wie er die Geschenke dann schließlich einpackt: das Papier faltet, den Tesafilm abreißt und Schleifen bindet, mit seinen dicken Fingern, die sich eher dafür eignen, Maschinen zu bedienen und Betonblöcke zu schleppen. Für Marie hatte er den zweiten Band von Rock On! gekauft, einem illustrierten Lexikon der Rockmusik. Ich brachte Stunden damit zu, mir die Bilder darin anzusehen. Es deckte die Jahre 1964-1978 ab und damit praktisch alle meine Lieblingsbands. Thomas bekam Sterne und Planeten: Die Geheimnisse des Nachthimmels, das er auch weiterhin im Geschenkpapier eingeschlagen ließ – keine von uns durfte es auch nur berühren. Ellens Buch handelte von Kunstgeschichte und war mit einem Aquarellkasten und Pinseln versehen; für Beatrice hatte er ein Buch über die verschiedenen Hunderassen mit Aufklebern besorgt. Mir schoss auf einmal die Frage durch den Kopf, ob er an der Kasse wohl erzählt hatte, dass die Bücher für seine Kinder waren. Ich stellte mir vor, wie er mit seiner Tüte voller Geschenke in der U-Bahn zurück in die Bronx saß, zwischen all den anderen Weihnachtseinkäufern, und plötzlich war mir dort im Auto, als bekäme ich keine Luft mehr. Wenn ich ihm bloß erzählen könnte, dass jedes dieser Bücher inzwischen für uns stand, dass wir das Bild, das er jeweils von uns hatte, nicht mehr abstreifen konnten, nicht aufhören konnten, ihm zu entsprechen.

Neben mir saß Ellen immer noch vorgebeugt, die Knubbel ihres knochigen Rückgrats zeichneten sich unter dem Oberteil ihrer Schuluniform ab. »Was für ein spilleriges Dingelchen«, hatte Tante Rosie über sie gesagt, als sie zur Beisetzung unseres Vaters aus Irland gekommen war. Sie schickte uns Lebensmittelpakete und zu Weihnachten eine Flasche Sherry, um Ellens Appetit anzuregen; sie »gedeihe« nicht gut, meinte sie, ein Ausdruck, über den wir alle lachen mussten, weil es klang, als spräche sie über ein Stück Vieh auf dem Bauernhof. Aber sie hatte natürlich recht, Ellen war schmächtig. Mit ihren zwölf Jahren maß sie gerade einmal einen Meter zwanzig und wog keine dreißig Kilo. Sie sah so schmal und unglücklich aus, und ich wollte ihr den Rücken tätscheln.

»Lass mich«, knurrte sie, versuchte, mich abzuwehren und ruckelte dabei wieder am Fahrersitz.

Mom machte einen Schlenker Richtung Böschung und fuhr dann wieder zurück auf die Fahrbahn, bauschte die Heftigkeit von Ellens Geruckel an ihrer Rückenlehne künstlich auf. »Damit bringst du uns noch alle um! Ist dir das klar? Es reicht jetzt wirklich. Wenn wir zu Hause sind, kannst du erstmal unten staubsaugen und die Wäsche zusammenlegen.«

»Nein, mach ich nicht«, gab Ellen zurück. »Beatrice kann zur Abwechslung auch mal was tun.«

»Halt Beatrice da raus.« Ich sah Moms dicken Haarknoten, ein Auge im Rückspiegel, mit dem sie Ellen musterte.

»Schon gut. Klar kann ich das machen.« Beatrice beugte sich von ganz hinten vor, voller Sorge, sie könnte irgendwie schuld an dem sein, was da gerade passierte.

»Danke, Beatrice. Wenn Ellen nur auch mal so nett zu anderen wäre.«

»Du hasst uns doch sowieso alle, nur sie hast du lieb. Und deinen fetten Freund.« Ellen überspannte den Bogen. Ich stieß sie in die Seite, damit sie den Mund hielt.

»Noch ein Wort, und du kannst zu Fuß gehen.«

»Ist doch wahr. Du hasst uns!« Ellen brüllte jetzt. »Dad hast du auch gehasst, und ich hasse dich!«

Bei der Erwähnung unseres Vaters blieb uns allen die Luft weg. Vor unserer Mutter sprachen wir nie über ihn. Das Auto kam schlitternd auf dem Seitenstreifen zum Stehen, genau an der Stelle, wo die 252 über den Turnpike führt.

»Raus. Steig aus.« Mom sagte es mit ihrer leisen Stimme, woran wir merkten, dass sie es ernst meinte. Ellen griff über Thomas hinweg, öffnete die Autotür und kletterte hinaus.

»Du kannst sie hier doch nicht einfach raussetzen«, sagte Marie. »Es wird schon dunkel. Ich gehe mit.« Sie griff nach ihrer Schultasche, die vorne im Fußraum stand.

»Das wirst du schön bleiben lassen.«

»Warte mal«, sagte Thomas. Er sah erschrocken aus, machte sich Vorwürfe wegen seiner Sticheleien. Ellen stand auf dem Kiesstreifen am Rand der Überführung, in Schulkleid, Polohemd und Kniestrümpfen. Marie hatte die Beifahrertür schon halb offen, aber unsere Mutter legte den Gang ein und trat aufs Gas.

Ich schaute zurück. Ellen stand von uns abgewandt, sie blickte über das Brückengeländer nach unten, wo die Autoschlangen auf den Turnpike drängten.

»Mom, mach das nicht. Bitte!«, sagte Thomas, aber sie reagierte nicht. Wir sausten die 252 entlang bis zum Nationalpark und bogen dann nach links ab, Richtung Valley Forge Mountain, wo wir wohnten. Vor uns war die Sonne hinter den Feldern verschwunden.

»Du kannst sie nicht einfach da stehen lassen. Es ist dunkel«, sagte Marie.

Wir waren noch mindestens acht oder neun Kilometer von zu Hause weg. Ich hatte nichts gesagt, um unsere Mutter aufzuhalten. Wir rasten die Straße entlang, über die Brücke mit dem Dach hinweg, vorbei an Äckern und Zäunen. Meine Mutter fuhr weiter und neben uns flossen die Schatten der Hartriegelbüsche im Dunkeln ineinander, jeder Strauch umgeben von einem weißen Heiligenschein aus herabgefallenen Hochblättern.

2

Valley Forge war vor allem dafür bekannt, dass George Washington, zusammen mit den zwölftausend Soldaten seiner Kontinentalarmee, einen Winter hier verbracht und in improvisierten Holzhütten ums nackte Überleben gekämpft hatte. Die Soldaten waren unterernährt, zerlumpt und barfuß gewesen. Mehr als zweitausend starben an Unterkühlung, an Krankheiten oder Verletzungen, weitere dreitausend wurden dienstuntauglich. In der neunten Klasse hatte unsere Geschichtslehrerin, Miss Esposito, uns erklärt, Valley Forge sei der Wendepunkt des Unabhängigkeitskriegs gewesen, ein Symbol für den revolutionären Geist und das amerikanische Selbstverständnis. Ich war die Einzige in der Klasse, die tatsächlich dort lebte. Wenn ich durch die Wälder am Berg streifte, dachte ich an die halb erforenen Männer, die hier heraufgekommen waren, um ganze Stämme oder abgebrochene Äste hinunter ins Lager zu schleifen, an die Männer, die sich als Deserteure zwischen die Bäume geflüchtet hatten, oder an die, die vielleicht gerade noch hierher gekrochen waren, um sich zum Sterben hinzulegen. Einige waren nicht einmal Männer gewesen, sondern Jungen, so alt wie Thomas.

Das Armeelazarett lag in Yellow Springs, auf der anderen Seite des Bergs, die Kranken und Sterbenden mussten also durch unsere Wälder gekommen sein, wenn sie vom Lager dorthin wollten, über diese Wege. Kranke Männer, die ohne Schuhe durch den Schnee stapften, durch dieselben Wälder wie ich gingen oder getragen wurden. Was hatten sie von der Krankenbahre aus gesehen, wenn sie nach oben schauten, im Winter, ohne Blätterdach? Nichts als schwarze, nackte Äste vor einem grauen Himmel, dazu der Gedanke, dass sie diese Welt vielleicht gerade zum letzten Mal sahen und die Sonne es nicht für nötig hielt, sich zu zeigen. Vielleicht hatten sie nicht einmal Bäume gesehen; irgendwo hatte ich gelesen, dass die Soldaten fast alles abgeholzt hatten, um es warm zu haben und ihre Hütten zu bauen.

Der Valley Forge Mountain war weniger ein Berg als ein Hügel. Wenn man die Abkürzung durch den Wald nahm, war Washingtons Hauptquartier keine drei Kilometer von unserem Haus entfernt. In den Fünfzigerjahren war der Berg zum Wohngebiet umgewidmet worden, der Wald allerdings blieb als Teil des Nationalparks erhalten. Hinter unserem Haus führte der Horseshoe Trail entlang, ein Wander- und Reitweg, der im Nationalpark begann und dann über zweihundert Kilometer weiterging, bis er in Harrisburg auf den Appalachian Trail traf.

Der Weg zerschnitt den Berg in zwei Verwaltungsbezirke: Tredyffrin, wo Sage wohnte, und Schuylkill auf unserer Seite. Sages Teil des Bergs wirkte damals wohlhabender – die Häuser waren größer und besser in Schuss. Die größte Ortschaft in Schuylkill war Phoenixville, ein altes Eisen- und Stahlarbeiterstädtchen am Fuß des Bergs. Im Lauf unserer Kindheit wurden die Stahlwerke verkleinert, bauten Personal ab, schlossen. Phoenixville litt. Marie meinte, die Stadt hänge in einer Zeitschleife fest: Die Achtziger hatten begonnen, aber in Phoenixville herrschten immer noch die Sechziger und für junge Leute gab es kaum Perspektiven dort. Kinder, die am Berg wohnten und aus Schuylkill kamen, gingen auf die Phoenixville High School und die aus Tredyffrin auf die Conestoga, eine der besten staatlichen Schulen in ganz Pennsylvania. Wir besuchten keine von beiden. Wir gingen auf katholische Schulen, die näher an Philadelphia lagen.

Ich verbrachte meine Zeit am Berg meistens damit, durch die Wälder zu streifen oder zu Washingtons Hauptquartier hinunterzuwandern. Thomas und ich hatten auch mal versucht, im Schuylkill River zu angeln, der gleich daneben entlangfloss. Er meinte, wir könnten vielleicht Welse oder Barsche erwischen. Aber wir fingen nie etwas, am Flussufer roch es nach Abwasser und an den seichteren Stellen sahen wir Radkappen, kaputte Toaster und anderen Müll herumliegen. Oben am Berg, abseits des Weges, konnte man im Wald noch die Überreste alter Steinbrüche ausmachen, und am Ende unserer Straße, knapp einen halben Kilometer entfernt, lag eine tiefe Schlucht, die einmal zu einer Quarzmine gehört hatte. Dort wurden Quarz-Erze abgebaut und irgendwo zu Sand verarbeitet. Überall am Berg fand sich Quarz – riesige glitzernde Steine, die einfach so auf der Erde lagen, oder schimmernde Quarzkanten, die aus dem Boden ragten, als würden sie dort wachsen. Dad hatte mir erzählt, im prähistorischen Irland habe der Quarz als heiliger Stein gegolten und sei mit den sterblichen Überresten der Toten begraben worden.

Nachdem wir Ellen an der Straße zurückgelassen hatten, fuhren wir schweigend den Berg hinauf. Ich sah, wie das Scheinwerferlicht des Wagens auf die Bäume traf, wenn wir um eine Kurve bogen. Jedes Mal, wenn unsere Mutter runterschaltete und langsamer wurde, hoffte ich, sie würde sich besinnen, würde wenden, zurückfahren und Ellen von der Straße holen, und keiner von uns würde mehr wütend sein, weil wir alle so dankbar wären, sie wieder sicher bei uns im Auto zu haben. Aber wir fuhren weiter. Beatrice hintendrin war die Einzige, die etwas sagte.

»Da sind keine Straßenlaternen. Wie soll sie denn nach Hause finden?« Niemand gab eine Antwort.

Wir hielten in unserer Einfahrt, und Marie stieg aus, um das Garagentor zu öffnen. Auf der anderen Straßenseite hatten die Walkers ihre Gartenbeleuchtung eingeschaltet; in ihrem Licht sah ich das wuchernde Gras unseres Vorgartens, kniehoch und ganz verwildert. Alles fühlte sich falsch an. Das Haus, das ungemähte Gras, Ellen draußen auf der Straße, Dad nicht mehr da. Vor ein paar Monaten hatte Mr Walker uns einen Brief geschrieben, eine kaum verhohlene Beschwerde darüber, wie unser Haus aussah. Außen auf der Karte stand Von Herzen, innen sprach er uns sein Beileid aus für alles, was wir im vergangenen Jahr durchgemacht hätten, er habe viel an uns gedacht. Seine Frau Minnie und er hätten für uns gebetet, schrieb er und schloss mit den Worten: »Wir haben uns überlegt, es könnte Ihre Last vielleicht ein wenig lindern, wenn Sie diesen Sommer jemanden hätten, der Ihren Rasen mäht und kleinere Instandhaltungsarbeiten für Sie erledigt. Soviel ich weiß, ist einer der De Martino-Söhne gerade auf der Suche nach genau dieser Art von Arbeit. Geben Sie uns doch Bescheid, wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können.« Unterschrieben hatte er mit: »Ihr Nachbar und Freund, Harry Walker«.

Marie hatte gedroht, ihn höchstpersönlich aufzusuchen. »Ich werde ihn ganz direkt fragen: Wenn er so ein toller Christ ist und sich solche Sorgen wegen unserem hohen Gras macht, warum kommt er dann nicht selbst rüber, schwingt seinen fetten Elmer-Fudd-Hintern auf den Echtledersitz von seinem verdammten Rasentraktor-Cadillac und mäht für uns?«

 

Wir mussten alle lachen, sogar unsere Mutter. Mit seinen knallbunten, gestärkten Karohemden und den viel zu hoch sitzenden Freizeithosen sah Mr Walker tatsächlich ein bisschen aus wie Elmer Fudd. Marie parodierte Minnie Walker im Die Frauen von Stepford-Stil. Sie drehte sich altmodische Lockenwickler in die Haare, stopfte sich Fußbälle unter den Pullover, so dass sie fast vornüber kippte, band sich eine bodenlange Schürze um und bemalte sich den Mund mit knallrotem Lippenstift, weit über die Konturen hinaus. So trug sie dann ein unsichtbares Tablett mit einem Glas Limonade durch unser Wohnzimmer: »Ach, liebster Harry Walker, ich bin ja so beschäftigt mit meiner christlichen Nächstenliebe und meiner Barmherzigkeit, dass ich fast vergessen hätte, dir deine Erfrischung zu servieren. Du bist doch sicher ganz müde davon, dir den Arsch platt zu sitzen und die paar Grashalme zu mähen. Und wie aufreibend es doch für dich sein muss, mein armer Harry, die ganze Zeit auf dieses schändliche Haus und diese schändlichen Leute gegenüber zu schauen.« Sie brachte uns alle hemmungslos zum Lachen. Thomas lachte so sehr, dass er gar keinen Ton mehr herausbekam. Ich wusste, ihn belastete das mit dem Gras am meisten, weil er das Gefühl hatte, eigentlich für das Mähen zuständig zu sein. Aber wir besaßen keinen Rasenmäher und hatten auch die anderen Geräte unseres Vaters nie von seinem Cousin aus der Bronx zurückbekommen. Wir hatten ihn nie danach gefragt, und von sich aus hatte er auch nichts gesagt. Wir hatten überhaupt nichts von Dad zurückbekommen, nur den Transporter, den Mom dann verkauft hatte, und seine Leiche. Ich fragte mich, was wohl aus den vielen Karten und Geschenken geworden war, die wir ihm geschickt hatten. Aus all den Dingen, die wir in der Schule für ihn gebastelt hatten. Ich war mir sicher, er hatte sie aufgehoben. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass sein Cousin all seine Sachen einfach weggeworfen hatte.

Im Scheinwerferlicht sah ich, wie Marie das Garagentor nach oben schob. Jetzt, wo sie den Kopf auf einer Seite rasiert hatte, konnte sie kaum noch die Minnie Walker mit Lockenwicklern geben. Marie trat zur Seite, und unsere Mutter fuhr in die Garage, zog die Handbremse an, stellte den Motor ab, griff sich ihre Handtasche vom Boden vor dem Fahrersitz und verschwand sofort im Haus und in ihrem Zimmer.

Ich hievte meine Schultasche und meine Mappen aus dem Wagen, nahm auch die von Ellen mit und schleppte sie ins Haus. Ellen hatte ihre großformatige Kunstmappe mit ihren Arbeiten aus dem Schuljahr dabei. In Schreibschrift hatte sie groß Ellen darauf geschrieben und die einzelnen Buchstaben mit verschiedenen Farben umrandet, die sich nach außen hin psychedelisch zu Blumen und Mustern verzweigten, wie auf einem Plattencover von Cream. Ich öffnete die Mappe und breitete die Bilder auf dem unteren Teil des Ausziehbetts aus, wo sie schlief. Es waren Farbräder und Bleistiftzeichnungen dabei, Stillleben mit Früchten und Blumen. Auch ein Familienportrait war darunter, mit nur fünf Figuren; sie hatte Mom und Dad nicht mitgezeichnet, nur uns. Auf dem Bild war Marie die Größte, obwohl Thomas und ich sie beide überragten. Mitten im Stapel steckte auch ein Selbstportrait, mit Wachs- und Ölkreiden. Ellen hatte nur Blau, Lila und Schwarz dafür verwendet. Es wollte gar nicht realistisch sein, und doch fing es viel von ihr ein, ihre großen blauen Augen, die mit den leichten, lila-bläulichen Schatten darunter immer etwas eingesunken aussahen, die dunklen Wimpern und Brauen, den Seitenscheitel. Das Gesicht war nicht klar umrissen; es schien aus den dunklen Formen aufzutauchen. Hinten auf der Mappe stand eine Nachricht, mit grünem Filzstift geschrieben.

Eine sehr schöne, ausdrucksstarke Mappe, Ellen. Großartige Arbeit über das ganze Jahr hinweg, und so kunstvoll. Ich habe Dir ein paar Ölkreiden in die Mappe gesteckt, dazu die Informationen über das Kunst-Sommercamp und ein Empfehlungsschreiben. Die Arbeiten, von denen ich glaube, dass Du sie mit der Anmeldung einschicken solltest, haben einen grünen Kreis auf der Rückseite. Du bist zwar noch sehr jung, aber ich bin völlig überzeugt, dass sie Dich nehmen werden. Herzlich, Miss LeBlanc.

Ich griff wieder in die Mappe und zog einen großen Umschlag hervor. Er enthielt eine Broschüre des Sommercamps der Chestnut Grove Art Academy sowie einen kleineren, verschlossenen Umschlag, auf dem mit Schreibmaschine die Worte Empfehlungsschreiben für Ellen Gallagher getippt waren. Vorhin im Auto hatte Ellen weder das Geschenk erwähnt noch den Brief oder das Empfehlungsschreiben. Ich steckte alle Bilder wieder in die Mappe zurück, den Umschlag ließ ich auf meinem Bett liegen. Ich musste mich fürs Babysitten umziehen.

Jeden Freitag passte ich auf die beiden kleinen Söhne von Mrs Boucher auf. Außer meiner Mutter war sie der einzige geschiedene Mensch, den ich kannte, aber bei ihr wirkte es glamourös. Marie meinte, da zeige sich eben der Klassenunterschied. Solange man Geld und gesellschaftliches Ansehen habe, sei es völlig in Ordnung, die Regeln zu brechen. Mrs Boucher trug schmale schwarze Kleider, türkisfarbene Ketten und große Kreolen an den Ohren. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, das sie immer offen ließ, wenn sie ausging. Mir hatte sie erzählt, sie sei Halbindianerin, und die Haare habe sie von den Shawnee, dem Volk ihrer Großmutter. Sie war Anwältin und lebte in einem Haus, das meine Mutter wohl als »modern« bezeichnet hätte, tief im Wald, mit großen Fensterfronten, in denen sich die Bäume ringsum spiegelten. Ihr Baumhaus, nannte sie es immer.

Ich zog meine Schuluniform aus und schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Meine großen Zehen bohrten sich durch den Leinenstoff. Ich hatte schon genug Geld vom Babysitten gespart, um mir neue zu kaufen. Mrs Boucher zahlte mir zehn Dollar pro Abend, im Wesentlichen fürs Fernsehen, was für mich ein ganz besonderes Vergnügen war, weil wir zu Hause keinen Apparat hatten. Eigentlich wollte ich nicht weg, solange Ellen noch irgendwo da draußen herumirrte, aber so kurzfristig konnte ich Mrs Boucher nicht anrufen und absagen. Ich spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, die Hände rechts und links vom Gesicht, um das Licht im Zimmer auszusperren. Jemand, wahrscheinlich Marie, hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Ich konnte die großen Quarzsteine vorne in unserer Einfahrt erkennen, das hohe Gras, die leere Straße.

Marie kam ins Zimmer und ließ sich auf ihr Bett plumpsen, das schräg gegenüber von dem Ausziehbett stand, wo Ellen und ich schliefen. »Lass nicht immer dein Zeug auf meinem Bett liegen.« Sie warf mir meinen Schottenrock zu. »Du brauchst gar nicht zu gucken: Das dauert noch Stunden. Es kann zehn oder elf werden, bis sie wieder hier ist.«

»Sie hätte Dad nicht erwähnen sollen.«

»Wieso denn nicht?«, fragte Marie. »Wieso müssen wir hier eigentlich immer diesen Eiertanz aufführen? Wir dürfen über nichts reden, und wenn es doch mal einer tut, ist es gleich eine Riesenkatastrophe.« Marie hatte den Rock und die Bluse ihrer Schuluniform ausgezogen. Sie streifte ein schwarzes T-Shirt über, mit brennenden Autos darauf. »Und sie schließt sich natürlich gleich wieder in ihrem Zimmer ein.« Sie schob den Fuß in einen schwarzen Stiefel. Es stimmte schon, Mom würde sich den ganzen Abend nicht mehr blicken lassen. »Außerdem war es gar nicht der Dad-Kommentar, über den sie sich so aufgeregt hat.« Marie setzte sich aufs Bett und machte sich daran, sich die Augen mit schwarzem Eyeliner zu umranden. »Sondern der über den fetten Freund.«

Nach Dads Tod waren wir zwei Mal bei der Familienberatung gewesen. Beim ersten Besuch hatten wir uns alle einzeln mit Gwen, der Therapeutin, unterhalten. Ich hatte ihr von Bill erzählt, dem Freund unserer Mutter, dass sie ihn vor uns allen versteckte, außer vor Beatrice, dass wir anderen ihn nicht mal kannten, obwohl es ihn schon seit Jahren gab. Dass er offensichtlich Beatrices Vater war und ich die ganze Zeit wütend auf meine Mutter. Ich hatte die anderen nie gefragt, worüber sie gesprochen hatten.