Buch lesen: «Seidenstadt-Schweigen», Seite 2

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4. Kapitel

Siegfried Brüx stand im Flur vor dem großen Besprechungsraum.

»Hast du etwas finden können?« Fischer blieb stehen, tastete nach seinen Zigaretten, nahm die Packung aber nicht aus der Tasche.

»Jede Menge Fingerabdrücke auf dem Umschlag, nichts auf der Postkarte. Sie ist von einem Foto gemacht worden. Es gibt da so Dienste im Internet, da kann man seine Bilder hinschicken und diese werden auf Karton gedruckt. Keine wirklich gute Qualität. Jemand hat die Karte aber sorgfältig abgewischt und gesäubert, sie wurde sogar mit Bleiche eingesprüht. Das war ein Fachmann, der wusste, wie man DNA-Spuren vernichtet.«

»Was?« Fischer schüttelte verblüfft den Kopf. »Bleiche?«

»Ja. Bleiche, sie zerstört organische Spuren. Wir machen noch weitere Tests, aber ich kann dir nicht viel Hoffnung machen.«

Fischer biss sich auf die Unterlippe.

»Hast du denn etwas herausfinden können? Wer könnte dir so eine Karte schicken und warum?«, fragte Brüx.

»Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung. Jemand, der die Geschichte von damals kennt. Solange nichts weiter passiert, sehe ich es als dummen Streich.« Jürgen nickte dem Kollegen zu und betrat das Besprechungszimmer. Obwohl er die Angelegenheit so abgetan hatte, blieb ein ungutes Gefühl zurück.

»Ermter ist noch zwei Tage auf einer Tagung.« Fischer zog den Stuhl an den großen Resopaltisch im Besprechungsraum und blickte in die Runde. »Das ist aber nicht weiter schlimm, wir haben nichts Großartiges vorliegen.«

»Bis auf die Bombe im Zoo«, sagte Sabine Thelen und lächelte.

»Ja, damit haben wir aber nicht viel zu tun. Das Ordnungsamt weiß schon Bescheid. Die Grotenburgschule muss geschlossen bleiben, der Parkplatz wird abgesperrt und der Zoo wird morgen früh nicht öffnen. Eventuell müssen wir die Schutzpolizei unterstützen.«

»Ist der Fundort gesichert?«, fragte Hauptkommissar Roland Kaiser.

»Ja, die Schutzpolizei ist dort. Meldungen an die Presse und Welle Niederrhein sind raus, es werden noch Handzettel gedruckt. Das Ordnungsamt hat einen Sammelplatz für die Anwohner in der Gesamtschule am Kaiserplatz eingerichtet. Es wird einen Fahrdienst für die älteren Leute geben.« Fischer räusperte sich. »Eventuell müssen wir die Kollegen unterstützen. Wenn alles glatt geht, soll die Bombe morgen Nachmittag entschärft werden.«

»Morgen schon?«, fragte Sabine Thelen.

Fischer nickte. »Die Männer vom Kampfmittelräumdienst meinten, dass sie einen Roboter einsetzen können. Sie sagten, es sei unspektakulär. Der Zünder ist nicht großartig verrostet oder eingedrückt. Mag an dem sandigen Boden dort liegen.«

»Und was ist mit der Leiche?« Oliver Brackhausen verschränkte die Arme vor der Brust. Ein wenig sah er so aus, als würde er schmollen. Fischer grinste.

»Ob da tatsächlich eine Leiche im Bombenkrater liegt, klären wir morgen. Liegt sonst noch etwas an?«

»Die übliche Einbruchsserie in den Landschaftsbaubetrieben in Traar. Jedes Jahr wieder. Keine brauchbaren Spuren.«

»Die Spurensicherung war vor Ort?«

»Ja.« Roland Kaiser zog eine Mappe heran und schlug sie auf. »Es sind endlos viele Spuren gefunden worden, aber nichts, was man eindeutig einem Täter zuordnen könnte. Die Betriebe werden gut besucht, und jeder Besucher hinterlässt DNA-Material und Fingerabdrücke. Relativ aussichtslos, dort etwas Relevantes zu finden. Hilft uns auch nicht, solange wir keine Fingerabdrücke der Täter in unserer Kartei haben. Wieder wurden große Geräte entwendet.«

»Das geht schon ins vierte Jahr.« Ulla Klemenz seufzte. »Immer die gleichen Betriebe, die gleiche Ware. Schwere Geräte, sie müssen mit dem LKW kommen und das Diebesgut wegfahren.«

»Diesmal ist auch die Elfrather Mühle betroffen. Die Täter haben das Schloss ausgebohrt und ein anderes eingesetzt. Das wurde zum Glück rechtzeitig erkannt.« Roland Kaiser schloss die Mappe. »Wir stehen mit der Polizei in Wesel und im Kreis Viersen in Kontakt. Auch da kam es zu Einbrüchen ähnlicher Art.«

»Sonst noch etwas?« Wieder schaute Fischer in die Runde. Keiner reagierte. »Gut, dann machen wir Feierabend. Ich werde morgen schon früher hier sein und dann zum Zoo fahren.«

»Darf ich mitkommen?« Oliver Brackhausen sah ihn erwartungsvoll an.

»Klar. Halb sieben hier.« Fischer nickte Brackhausen zu.

Eine halbe Stunde später saß Fischer in seinem Wagen auf dem Weg nach Hause. Er hatte überlegt, Unterlagen mitzunehmen und zu Hause durchzugehen, aber in dem Chaos, in dem sich seine Wohnung momentan befand, würde er nicht zum Arbeiten kommen.

Morgen ist auch noch ein Tag, dachte er.

Er parkte den Wagen auf der Rheinstraße, schloss die Haustür auf und stieg die Treppe nach oben. Vor der Wohnungstür blieb er einen Moment stehen. Fast zwei Jahre hatte er hier mehr gehaust als gelebt. Dabei hatte das kleine Appartement eigentlich nur eine Übergangslösung sein sollen. So lange, bis sein jüngster Sohn das Abitur geschafft hatte und seine Frau Susanne von Münster nach Krefeld ziehen konnte. Dazu war es nie gekommen. Sie hatten sich voneinander entfernt und sich schließlich getrennt.

Der Gedanke daran tat Jürgen Fischer immer noch weh. Über 20 Jahre Ehe, zwei Söhne und ein gemeinsames Haus konnte er nicht so von einem Tag auf den anderen abschreiben. Aber jeder Versuch, die Beziehung wieder zu beleben, war gescheitert.

In der Staatsanwältin Martina Becker hatte er eine neue Partnerin gefunden. Auch diese Beziehung war nicht einfach, doch Fischer glaubte, durch die gescheiterte Ehe einiges gelernt zu haben. Früher war er vollständig in seinem Beruf aufgegangen, hatte Familientermine verpasst, die Wünsche und Bedürfnisse seiner Frau an die zweite Stelle gedrängt.

Martina war verwitwet. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die Stelle in der Staatsanwaltschaft in Krefeld angetreten und wohnte in ihrem Haus in Moers.

»Ich möchte nicht in der Stadt wohnen, in der ich arbeite. Die Gefahr, beim Einkaufen meine Klienten zu treffen, ist zu groß«, sagte sie am Anfang der Beziehung.

Jürgen mochte nicht in das Haus ziehen, das sie mit ihrem verstorbenen Mann bewohnt hatte. Zu viele Dinge dort zeugten von der Beziehung, die die beiden geführt hatten. Er kam sich immer wie ein Eindringling vor.

Nur kurz schaute er sich in der kleinen Wohnung um. Egal, wie oft er lüftete, es roch immer leicht muffig. Auf dem Tresen, der die Küchenzeile von dem Wohnzimmer abtrennte, standen zwei vollgepackte Kartons. Er lud sie in seinen Wagen, füllte einen weiteren Karton mit Geschirr. Eigentlich wollten sie die Sachen gemeinsam in Ruhe aussortieren, aber die Zeit war viel zu schnell vergangen und Ende der Woche musste Fischer die Wohnung geräumt haben.

Wir haben noch genug Zeit, dachte Fischer und wusste, dass er sich damit belog.

5. Kapitel

Er fuhr die Moerser Straße entlang, bog auf die Moerser Landstraße ein. Am Ende von Traar, fast schon in Kapellen, hatten sie ein kleines Haus gefunden, das ihnen beiden gefiel. Sie mieteten das Haus mit der Option, es später zu kaufen.

Martinas BMW stand auf dem Stellplatz vor der Garage, Fischer parkte seinen Wagen dahinter.

Fischer holte einen Karton aus dem Wagen und schloss die Haustür auf.

Martina stand in der Mitte des zukünftigen Wohnzimmers. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, bekleidet war sie mit einem ausgeleierten Sweatshirt und einer alten Jogginghose. Die Hände hatte sie in den Rücken gestemmt. Langsam drehte sie sich um ihre Achse, betrachtete die frischgestrichenen Wände. Die Farbauswahl war ein Problem gewesen. Ihr Haus in Moers hatte Martina in sanften Pastellfarben gestrichen. Jürgen wollte keine Kopie davon bewohnen. Nur weiße Wände, so wie in seiner bisherigen Behausung, fand sie zu langweilig. Sie einigten sich darauf, jeweils eine Wand pro Raum in einer kräftigen Farbe zu streichen. Da Martina schon seit gestern Urlaub hatte, übernahm sie diese Aufgabe.

»Na, was sagst du?« Martina strahlte Jürgen an. »Gefällt es dir?«

Fischer stellte den Karton ab und schaute sich um. Die Stirnseite des Raumes hatte seine Freundin in einem tiefen Rot gestrichen.

»Ochsenblutrot. Es ist genauso geworden, wie ich es haben wollte.« Sie kam auf ihn zu, küsste ihn, vorsichtig darum bemüht, mit ihren farbbeklecksten Händen und Armen seinen Anzug nicht zu berühren.

»Es sieht toll aus. Doch, es gefällt mir.« Jürgen Fischer war zuerst skeptisch gewesen. Nun nickte er. »Ich zieh mich um, dann kann ich dir helfen.«

Martina folgte ihm nach oben in das zukünftige Schlafzimmer. Sie hatten ein neues Bett und Matratzen gekauft.

»Eigentlich bin ich mit dem Streichen fertig für heute. Lass mich schnell duschen, dann schauen wir, was wir noch machen können.«

Fischer zog seinen Anzug aus, hängte ihn in den Schrank, den sie aus Martinas Haus mitgenommen hatten. Es sah komisch aus, fand er. Nur der eine Anzug und ansonsten leere Bügel.

Er schlüpfte in eine Jeans und ein T-Shirt, schaute sich um. Das Bett war noch nicht bezogen, der Karton mit der Bettwäsche stand in der Ecke. Grinsend holte er Bezüge und Laken hervor. Wenn es nach ihm ginge, würden sie erst einmal das Bett einweihen.

Martina schien ähnliche Gedanken zu haben. Sie kam, nur in ein großes Badelaken gewickelt und mit nassen Haaren aus dem Badezimmer.

»Du hast das Bett bezogen? Gute Idee. Im Kühlschrank steht eine Flasche Sekt.«

»Eigentlich sollten wir noch etwas tun, Kartons auspacken, Sachen einräumen.«

Draußen war die Dämmerung hereingebrochen, während sie sich geliebt hatten. Jürgens Hand fand ihre, sie verschlangen die Finger ineinander. Für einen Moment überlegte er die Lampe einzuschalten, aber bisher hing nur die nackte Glühbirne von der Decke, ein kaltes Licht.

»Keine Lust. Wie war dein Tag?«

»Bis auf einen Blindgängerfund am Zoo war alles ruhig. Hast du Hunger?«

»Wie ein Wolf.« Martina lachte.

Sie beschlossen sich anzuziehen und Essen zu gehen.

Am nächsten Morgen stand Jürgen früh auf. Es war ungewohnt, in dem halbleeren und noch fremden Haus aufzuwachen. Er duschte, küsste Martina, die sich murmelnd umdrehte, um weiterzuschlafen. Der Weg von Traar zum Präsidium am Ostwall war um einiges länger, daran würde er sich erst noch gewöhnen müssen.

Oliver Brackhausen wartete schon auf ihn.

»Guten Morgen. Gibt es etwas Neues?« Fischer überflog die Notizen, die auf seinem Schreibtisch lagen.

»Nein«, brummte Brackhausen.

»Noch nicht ausgeschlafen?« Fischer lachte.

»Scheißnacht gehabt.«

»Vollmond?«

»Nein, Streit mit Vera.«

Brackhausen sah nicht so aus, als würde er darüber reden wollen, deshalb fragte Fischer nicht weiter nach.

Das Schweigen hielt auch während der Fahrt an. Fischer parkte den Wagen am Grotenburg-Stadion. Als sie den Zoo betraten, kam ihnen ein Mitarbeiter entgegen.

»Guten Morgen. Friedel Schmitz, stellvertretender Zooleiter. Sie sind Hauptkommissar Fischer, richtig? So wie es aussieht, dauert es noch.«

»Gibt es Probleme?«, fragte Fischer.

»Wir können das Regenwaldhaus nicht räumen. Die Gefahr, dass das Haus beschädigt wird, wenn die Bombe hochgehen sollte, ist sehr groß. Es gibt aber ein Spezialzelt, das man über derartige Blindgänger aufstellen kann. Ein besonderes Gewebe, das die Druckwelle abfängt. Es wurde speziell für Bombenfunde in U-Bahnen und auf großen Plätzen entwickelt. Das Zelt muss aber erst noch organisiert werden. Ich bin froh, dass es so etwas gibt. Nicht auszudenken, was mit den Tieren passieren würde, sollte doch etwas schiefgehen.«

»Sind die Kollegen aus Düsseldorf schon da?«

»Ja, sie warten dort hinten. Bleiben Sie hier? Ich habe jemanden geschickt, um Kaffee zu holen.«

Wenn es hier nichts weiter für ihn zu tun gab, wollte Fischer lieber wieder fahren und seinen Schreibtisch in Ordnung bringen. »Danke, nein.«

Brackhausen war schon vorgegangen und hatte die Kollegen vom Kampfmittelräumdienst in ein Gespräch verwickelt. Fischer lächelte. Er konnte sich noch gut an seinen ersten Bombenfund erinnern.

»Ich fahre wieder zum Präsidium. Wenn die Bombe beseitigt ist und dort in der Grube tatsächlich eine Leiche liegt, werden wir die nötigen Maßnahmen ergreifen und uns darum kümmern.«

»Die Leiche – falls da eine ist – ist aber alt, nicht wahr? Das gibt keinen Skandal?«, fragte der stellvertretende Zoodirektor.

»Ich gehe davon aus, dass es jemand aus dem Krieg sein könnte. Machen Sie sich keine Sorgen, für mich sieht es bisher nur aus wie ein Kleiderbündel.«

Fischer ging zurück zum Eingang. Dort stand Lutz Rosen, ein Schutzpolizist, und diskutierte mit einem älteren Mann. Der Mann trug einen feinen hellbraunen Anzug. Er stützte sich auf einen Rollator.

»Ich habe es Ihnen doch schon erklärt.« Lutz seufzte. »Sie können vorläufig nicht hier rein.«

»Ich habe eine Jahreskarte. Ich bin jeden Tag hier. Sie ist gültig, schauen Sie.« Der Mann zog seine Brieftasche aus dem Jackett und nahm eine Karte hervor.

»Guten Morgen, Herr van Treek, gibt es ein Problem?« Friedel Schmitz trat zu den beiden.

»Dieser Mann will mich nicht einlassen.« Der alte Mann fuchtelte entrüstet mit seiner Jahreskarte herum. »Dabei ist die Karte gültig. Sagen Sie ihm das, Herr Schmitz.«

»Sie können jetzt tatsächlich nicht in den Zoo. Es ist eine Bombe gefunden worden, die muss entschärft werden. Ich hoffe, heute Nachmittag ist alles behoben und geklärt, dann werden wir wieder öffnen.«

»Eine Bombe? Wer macht denn so etwas?«

»Das ist eine Bombe aus dem Krieg. Ein Blindgänger.«

Van Treek zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Wo denn?«

»Hinten am Regenwaldhaus.«

»Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht nach Hause gehen und dann wiederkommen. Was, wenn ich dann immer noch nicht rein darf? Das können Sie doch mit mir nicht machen.« Van Treek schien in sich zusammenzusacken.

»Kann ich Sie nach Hause bringen?«, bot Fischer dem alten Mann an. Dieser schüttelte unwillig den Kopf, drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter.

»Er kommt fast jeden Tag. Muss schon an die 90 sein. Als er einen Schlaganfall hatte und einige Zeit nicht kommen konnte, haben wir ihn regelrecht vermisst.« Schmitz schaute dem Mann hinterher. »Er spendet immer und hat auch schon Tierpatenschaften übernommen.«

»Wahrscheinlich wird morgen alles wieder seinen gewohnten Gang gehen und er kann wiederkommen.« Fischer verabschiedete sich und ging zum Wagen.

6. Kapitel

1939

»Antreten!« Der Ruf des Ausbilders hallte durch die Gänge.

»Was denn? Es ist doch gleich Essenszeit. Elender Schinder. Wenn der uns wieder durchs Gelände jagt …« Fritz stöhnte auf.

»Was dann?« Alfred lachte. Beide waren aufgesprungen und griffen nach ihrer Ausrüstung.

»Wir sind hier nicht auf Urlaub. Los, los Ihr Säcke!«, brüllte der Ausbilder.

Innerhalb weniger Minuten war die Kompanie zugweise im Hof angetreten, der Kompaniechef äußerte sich kurz zu den soldatischen Tugenden und sprach von der zu jeder Zeit notwendigen Härte gegen sich selbst. Dann übernahmen die Zugführer.

»Geländedienst, Männer. Fertig werden!« Der Feldwebel ließ den Blick die Reihe entlangwandern. »Stillgestanden, Gruppenführer übernehmen!« Fritz kontrollierte unauffällig, ob die Gasmaske ordentlich befestigt war. Sein Gruppenführer, Unteroffizier Heff, hatte ihn schon wegen kleinerer Vergehen zur Schnecke gemacht.

Im Gleichschritt marschierten die Gruppen vom Kasernenhof. Nach zwei Kilometern strammen Marsches erreichten sie die Heide. Dort scherte ihre Gruppe aus und ging in Linie vor.

»Stellung!«

Fritz ließ sich auf den Bauch fallen, nahm die Hacken herunter und schob das Gewehr feindwärts. So manches Mal hatte er vergessen die Hacken herunterzunehmen. Diesbezüglich gab Heff kein Pardon, immer wieder schnauzte er, dass die Hacken ein gutes Ziel bildeten, und dass man mit angeschossenen Fersen nur eine Belastung und Gefahr für seine Kameraden darstelle. Mitunter ließ er sich dazu hinreißen, hochstehende Fersen einfach um zu treten.

»Deckung!«

Fritz drückte sein Gesicht in die kalte Erde, legte die Arme um den Helm, die vereiste Pfütze unter seinem Bauch brach, er spürte das eisige Wasser durch die Kleidung dringen.

»Sprung auf! Marsch, Marsch!«

Sie erhoben sich und stürzten in die befohlene Richtung. Der Klappspaten hatte sich aus dem Futteral gelöst, Fritz griff im letzten Moment danach, bekam ihn mit der Linken zu fassen. Die Gasmaskendose schlug gegen seine rechte Hüfte, das Sturmgepäck lastete schwer auf seinem Rücken.

»Fliegerangriff, neun Uhr!«

Wieder nahmen sie Deckung. Fritz kam dabei so unglücklich zu Fall, dass er sich die kugelige Verdickung am Ende des Holzstiels seines Klappspatens genau zwischen die Beine schlug. Stöhnend richtete er sich auf, zog den Spatenstiel aus dem Schritt.

»Sie da!« Der Unteroffizier zeigte auf ihn. »Soll das volle Deckung sein? Sie sind tot. Weiß Ihr Vater, was für einen Blindgänger er da gezeugt hat? Wollen wir doch mal schauen, ob Sie wenigstens 20 Liegestützen zusammenbringen und zwar hier.« Er wies auf eine ausgedehnte Pfütze. Fritz sank in den Schlamm und führte den Befehl aus.

Immer wieder gingen sie in Stellung, stürmten im Sprung, nahmen Deckung vor imaginären Maschinengewehren und unablässig feuernden Schlachtfliegern. Sie stürmten, ließen sich fallen, gingen ins Ziel, stürmten erneut und nahmen Deckung. Etliche weitere Kameraden seiner Gruppe kamen in den Genuss zusätzlicher Bewegungsübungen. Ihr Uffz war heute wieder in Geberlaune.

Als sie wieder auf dem Kasernenhof eintrafen, trieften sie vor Schlamm und Schweiß.

»Wegtreten zum Waffenreinigen!«

Im Flur vor den Stuben saßen sie einander gegenüber, während die Ausbilder in der Gangmitte das Waffenreinigen überwachten.

»Da sind ja noch Elefanten im Lauf!« Diesmal nahm der Unteroffizier Adolf aufs Korn. Adolf zog den Gewehrlauf nochmals durch, hielt ihn dem Unteroffizier hin. Ihre Mägen knurrten, aber bevor sie ihre Uniformen und Stiefel nicht gesäubert hatten, würde es kein Essen geben.

Es war nur die Grundausbildung, da mussten sie durch, sagte sich Fritz, als er abends todmüde ins Bett fiel.

7. Kapitel

Der Tag blieb ruhig. Gegen 15 Uhr bekam Fischer den Anruf, dass die Bombe entschärft war.

Kurze Zeit später klingelte wieder Fischers Diensttelefon.

»Ich habe es gewusst!« Oliver Brackhausen klang aufgeregt.

Fischer wechselte den Telefonhörer in die andere Hand, nahm einen Stift und einen Zettel. »Was hast du gewusst?«

»Es ist ein Toter in der Grube. Eingewickelt in eine Plane. Ich hab nur vorsichtig nachgeschaut.«

»Welchen Eindruck hast du denn? Wie lange ist er schon tot?«

»Das ist ein Soldat aus dem Krieg.«

»Ich werde den Staatsanwalt informieren. Bleib vor Ort, ich melde mich gleich wieder bei dir.«

Staatsanwalt Altmann ging sofort ans Telefon.

»Fischer, KK 11. Im Zoo wurde eine Leiche gefunden.«

»Ich dachte eine Bombe? Davon hab ich jedenfalls gehört.«

»In dem Bombenkrater liegt ein Toter. Gut möglich, dass er dort schon so lange liegt wie der Blindgänger. Brackhausen hält ihn für einen Soldaten aus dem Krieg.«

»Ist da überhaupt noch etwas zu identifizieren? Außer Knochen? Nach über 60 Jahren?« Altmann klang verwundert. »Der große Angriff auf Krefeld war doch 1943.«

»Der Leichnam war wohl in eine Plane gewickelt. Ich habe ihn selbst noch nicht gesehen, kann auch nichts über eine vermutliche Todesursache sagen. Dass er in eine Plane gewickelt war und in einem Bombenkrater lag, spricht nicht für einen natürlichen Tod.« Fischer nahm die Schachtel Zigaretten aus der Jacke, legte sie auf den Schreibtisch.

»Nicht unbedingt. Aber ob wir da jemals etwas herausbekommen werden?«

»Also keine Spurensicherung? Da sind so viele Leute vom Räumdienst gewesen, Spuren gibt es sicherlich nicht mehr.«

»Nein. Lassen Sie ihn abholen und nach Duisburg zur Rechtsmedizin bringen. Alles Weitere sehen wir dann.«

Für einen Moment war Fischer versucht in den Zoo zu fahren und beim Abtransport der Leiche anwesend zu sein. Irgendetwas an der Sache berührte ihn, obwohl es vermutlich kein Fall werden würde. Doch dann schaute er auf den Stapel Unterlagen, die er noch abzuheften hatte und rief Brackhausen an.

Die abendliche Besprechung verlief ruhig. Im Moment gab es keine dringenden Fälle und Fischer verabschiedete sich für die nächsten zwei Wochen in den Urlaub.

»Ich hab noch drei Akten, die ich durchgehen muss«, sagte er der Sekretärin Christiane Suttrop. »Die nehme ich mit und reiche sie im Laufe der Woche ein.«

»Kein Problem. Wann ist denn dein Umzug?«, fragte sie.

»Wir machen das so häppchenweise. Martina hat für Freitag einen Wagen bestellt, sie hat mehr Möbel als ich. Aber ich muss meine Wohnung noch streichen. Und die Übergabe ist schon in wenigen Tagen.«

»Streichen? Eine elende Arbeit, abkleben, abdecken, du hast mein Mitleid.«

»Wohl wahr. Die Wände sind gelb vom Nikotin. Ich hoffe, die Farbe deckt gut.«

»Selbst schuld. Falls etwas ist, unter welcher Nummer kann ich dich erreichen?«

Fischer überlegte einen Augenblick. Am liebsten hätte er gesagt: gar nicht. Wenn er mit Martina weggefahren wäre, könnte ihn auch niemand erreichen.

»Über mein Handy. Zur Not musst du auf die Mailbox sprechen.«

»Der Chef kommt ja übermorgen wieder und im Moment ist nichts los. So ruhig war es schon lange nicht mehr. Schönen Urlaub … ähm … Umzug, Jürgen. Ich freue mich für euch.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Hoffen wir, dass es so ruhig bleibt.«

Jürgen Fischer fuhr zu seiner Wohnung an der Rheinstraße. Wieder belud er ein paar Kartons. Er hatte nun fast alles eingepackt. Sein Bett und die Matratze kamen übermorgen auf den Sperrmüll, zusammen mit einigen anderen Sachen, die er nicht mehr brauchte. Morgen wollte er streichen. Die Farbeimer standen schon im Flur sowie Abdeckfolie, Kreppband und Pinsel. Streichen und sauber machen, dann war er fertig. Zufrieden belud er den Wagen und fuhr nach Traar.

Diesmal scholl ihm keine Musik entgegen, als er aus dem Wagen stieg. Das Haus war nicht beleuchtet und auch Martinas Wagen stand nicht auf dem Stellplatz.

»Martina?« Er rief ihren Namen in das dunkle Haus, obwohl ihm klar war, dass sie nicht da sein konnte. »Martina?«

Es roch intensiv nach frischer Farbe und Allzweckreiniger. Langsam ging er durch die Räume, schaltete die Lampen an. Die nackten Glühbirnen verbreiteten ein kaltes Licht. Im Wohnzimmer hatte sie die Abdeckplanen zusammengerollt und in die Ecke gelegt. Das Kreppband klebte noch um die Fenster- und Türrahmen.

Er stieg die Treppe hoch, ging ins Schlafzimmer. Martina hatte einige Kartons mit Kleidungsstücken ausgeräumt und in den Schrank geräumt. Das Bett war gemacht, sogar eine Tagesdecke, die er nicht kannte, lag dort.

Sein Handy klingelte. Es war in seiner Jackentasche und die Jacke hing im Flur. Fischer lief die Treppe hinunter, doch er kam zu spät. Das Display zeigte Martinas Nummer, er betätigte den Rückruf.

»Wo bist du?«

»Hallo.« Sie klang irgendwie anders, aufgelöst oder verzweifelt.

»Ist etwas passiert?«

»Nein.« Martina zögerte. »Doch.«

»Wo bist du denn?«, fragte Fischer besorgt und fühlte sich hilflos.

»In Moers.«

»Was ist denn passiert?« Er hasste es, wenn er jemandem Informationen aus der Nase ziehen musste. »Verdammt, nun antworte mir doch.«

»Eigentlich ist nichts passiert. Ich packe nur noch einiges ein.« Sie klang, als würde sie weinen.

»Ich komme.«

»Nein …«

Fischer hatte schon aufgelegt. Er nahm sich seine Jacke und die Autoschlüssel, ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen, ohne abzuschließen. Auch das Licht ließ er brennen. Um die Geschwindigkeitsbegrenzung kümmerte er sich nicht. So schnell war er noch nie nach Moers gefahren. Was mochte ihr zugestoßen sein? Hatte sie sich verletzt?

Er parkte vor dem Haus, lief zur Tür und schellte.

Martina öffnete die Haustür. Ihre Augen waren verquollen. Jürgen nahm sie in die Arme, drückte sie an sich.

»Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Hast du dich verletzt? Bist du gestürzt?«

»Nein, nichts von alledem. Komm …« Sie zog ihn in den Flur, schloss die Tür.

»Was ist es dann?« Fischer stieß die Luft aus und rieb sich über das Kinn.

»Möchtest du einen Kaffee?«

»Kaffee? Martina! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, bin fast hierhergeflogen. Du hast geweint, warum?« Auf einmal verspürte er die unbezwingbare Lust auf eine Zigarette. Martina war in die Küche gegangen und betätigte die Kaffeemaschine. Auch hier war schon vieles eingepackt. Überall lag Zeitungspapier und Klebeband. Fischer ging durch das Wohnzimmer, es war ein Slalom zwischen Kartons und Kisten. Er öffnete die Terrassentür, nahm die Zigaretten hervor, steckte sich eine an und inhalierte tief.

Martina trat hinter ihn. Er konnte den würzigen Duft des Kaffees riechen. Sie legte ihm eine Hand auf den Rücken.

»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Das ist dir nicht gelungen.«

»Das tut mir leid. Ich hatte es nicht so gemeint. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich noch hier bin und später komme.«

Jürgen drehte sich zu ihr um. »Weshalb?«

»Ich habe gepackt und aussortiert. Dabei sind mir die alten Fotoalben in die Hände gefallen. Bilder von früher …« In ihren Augen glitzerte es verdächtig.

Fischer biss sich auf die Unterlippe. Martinas Mann war vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Martina war lange Zeit nicht über seinen Tod hinweggekommen. Immer noch gab es Momente, in denen Jürgen das Gefühl hatte, dass sie in die Vergangenheit abtauchte. Gegen einen Toten anzukommen, war für ihn unmöglich. Die schlechten Erinnerungen vergaß man und die guten wurden übermächtig. Er seufzte.

»Soll ich dir beim Packen helfen?«

Martina schüttelte den Kopf.

»Was kann ich dann tun?«

Sie schwieg.

»Martina?« Fischer zog noch einmal an seiner Zigarette, warf sie dann zu Boden und trat sie aus. »Sollen wir essen gehen? Ich lade dich ein.«

»Ich glaube, ich möchte noch ein wenig alleine sein.« Ihre Stimme klang hoch und unsicher.

Fischer schloss die Augen, dann nickte er. »Okay. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«

Er fuhr langsam über die Dörfer zurück, wählte Umwege, verfuhr sich beinahe. In Neukirchen-Vluyn hielt er bei McDonald’s und gönnte sich einen Hamburger Royal TS. Fischer hatte kein gutes Gefühl, was Martina anging. Ob sie ihren Entschluss zusammenzuziehen schon bereute? Zweifelte sie an der Beziehung, an ihrer Liebe? Oder hat sie festgestellt, dass Fischer nie so wie ihr verstorbener Mann sein würde?

Es roch immer noch intensiv nach Farbe, als er die Haustür zu ihrem Haus aufschloss. Diesmal hatte der Geruch etwas Chemisches, es roch nicht wie die Vorankündigung von neuem Glück.

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Altersbeschränkung:
18+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
243 S. 6 Illustrationen
ISBN:
9783734994326
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
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