Vor dem Erben kommt das Sterben

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Aus der Reihe: Lindemanns #272
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Um es kurz zu machen: Ich hatte bereits das volle Programm an Todesqualen hinter mir. Dennoch machte mir die Vorstellung zu verdursten mehr Angst als der Scheiterhaufen. Also suchte ich an diesen langen, einsamen Nachmittagen unermüdlich nach einem Schlupfloch. Was, wenn Blanche eines Tages nicht zurückkäme? Sie neigte zu impulsiven Entscheidungen und hatte schon mehr als einmal in ihrem Leben alle Brücken hinter sich abgebrochen. Was würde dann aus mir? Müsste ich dann jämmerlich verhungern und verdursten? Ich war doch diesmal endlich als Katze und nicht mehr als elender Mensch wiedergeboren worden.

Eine Existenz als Katze ist eine große Ehre. Es bedeutet, dass man in den Zyklen der Wiedergeburt ein extrem hohes Niveau erreicht hat. Offensichtlich bedeutete es auch, dass nun vollkommen neue Prüfungen auf mich zukamen. Ich war immer ein starker und unabhängiger Charakter gewesen. In Blanches Sturkopf hatte ich mich auf gewisse Weise wiedererkannt. Deshalb hatte ich sie zum Objekt erkoren. Wir wiedergeborenen Katzen haben nämlich eine wichtige Aufgabe im neu geschenkten Leben: Wir begleiten Menschen. Wir bauen zwar keine persönlichen Bindungen auf. Aber wir suchen Menschen, die uns ähnlich sind. Solche, deren Schwächen und Fehler wir aus unseren früheren Existenzen nur allzu gut kennen. Unsere Aufgabe ist es zu vermeiden, dass dieselben Fehler immer wieder neu geschehen. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende dieses steten Bemühens geläuterter Seelen, sollen das Gute in der Welt gestärkt werden, die Kräfte der Vernunft die Überhand gewinnen und sich insgesamt die Waage des Schicksals auf die helle Seite der Erleuchtung neigen. Ein schönes Konzept. Nur leider wenig praxistauglich. In Blanche erkannte ich viele Charakterzüge einer ehrgeizigen und skrupellosen Cleopatra wieder. Aber – hätte sich Cleopatra belehren lassen? Gar von einer Katze? Lächerlich. Cleopatra hörte ja noch nicht einmal auf die Weisungen Cäsars. Und Blanche? Na, eben ... das konnte nicht gutgehen. Ich schweife schon wieder ab. Kommen wir wieder zurück zu der Person, die stets im Mittelpunkt meines Interesses stand: ich selbst. Jedenfalls war ich damals nicht im Geringsten darauf vorbereitet, von jemandem abhängig zu sein. Das war vollkommen neu für mich. Offenbar stand mir eine weitere Stufe der Erkenntnis bevor. Aber wann würde dieser ermüdende Zyklus der Wiedergeburten das ersehnte Ende finden? Das Leben an sich hatte durchaus seinen Reiz, aber ich war dieser ewigen Anstrengungen mittlerweile reichlich überdrüssig.

Zunächst blieb jedoch nur die magere Hoffnung, dass Blanche sich besser um mich kümmern würde, sobald sie erst einmal richtig Fuß gefasst hatte. Zugegeben, das große Wohnzimmer war mittlerweile komplett entrümpelt, die Wände mit Raufaser tapeziert und alles in blendendem Weiß gestrichen. Auch der Flur strahlte reinweiß. Einziger Wandschmuck war ein riesiger, silbern gerahmter Spiegel, um den Blanche auf dem Flohmarkt lange gefeilscht hatte. Wenn ich mit meinem weißen Fell an den Wänden entlangstrich, wurde ich fast unsichtbar. Nur noch meine grünen Augen waren dann zu sehen. Ich habe es mehrfach vor dem Spiegel ausprobiert, machte einen weißfelligen Buckel vor weißer Raufaser: nichts – nur meine grünen Funkelaugen, die geisterhaft vor dem weißen Hintergrund entlangwanderten wie zwei kristallene Gestirne.

Strahlten auch Wohnzimmer und Gang in frischem, reinem Weiß, so hatte sich in Küche und Schlafzimmer rein gar nichts verändert. Die Resopal-Linoleum-Frankfurter-Küchenzeile mit wegklappbarem Küchentisch sah immer noch genauso aus wie 1976. An der Fliesenwand pappten sogar noch die verblichenen Pril-Blumen, um die jahrelang drumherum geputzt worden war, sodass jede einzelne von ihnen einen schmalen Dreckrand zeigte, nur bei genauem Hinsehen sichtbar, so wie indiskretes Schmuddelgrau unterm Fingernagel. Das Schlafzimmer prangte in Birkenholz-Hochglanz-Furnier; rosa Satin-Tagesdecke und eine billig gerahmte Maria Magdalena als Büßerin inklusive, deren milchweiße Brüste sich lasziv durch dunkle Haarfluten hindurcharbeiteten, um sich im Spiegeltürenschrank kokett zu vervielfältigen. Auf der Frisierkommode stand noch der Zerstäuber mit einem gelblichen Rest 4711, der umhäkelte Gummiballon war ebenfalls mit diesem undefinierbaren Schmuddel überzogen.

Die Küche benutzte Blanche so gut wie nie, und auch das Schlafzimmer betrat sie offenbar nur mit allergrößtem Widerwillen. Ich dagegen liebte es, mich auf der rosafarbenen seidigen Tagesdecke zu fläzen. Blanche hatte nur eine Bettseite aufgedeckt, in die sie abends mit verkniffenen Mundwinkeln und halb geschlossenen Augen hineinschlüpfte wie in einen flohverseuchten Schlafsack. Stocksteif lag sie dann in weißem Leinen in Aussteuerqualität. Ob sie nachts überhaupt schlief? Ob sie gegen Geister kämpfte? Ich weiß es nicht, denn sie litt meine Nähe nicht. Jeden Abend vertrieb sie mich aus der rosafarbenen, seidigen Kuhle, die ich mir zurechtgetrampelt hatte. Ich solle mich nur beizeiten dran gewöhnen, grollte sie und scheuchte mich ins Wohnzimmer. Dort stand ein weißer Weidenkorb mit weißen Kissen, die scheußlich nach Chemie rochen. Das sei mein Platz. Übrigens nannte sie den Raum nun nicht mehr Wohnzimmer, sondern Praxis.

Kapitel 13

Montag, 13. Oktober 2008

Blanche hatte auch als Kind immer allein geschlafen. Nie, auch nicht nach schlimmsten Alpträumen, hatte sie als Kind im Bett der Mutter Zuflucht gesucht. Und wenn sie bei der Omma übernachtete, schlief sie auf dem Sofa. Die verschnörkelte Barocktapete in Ommas Wohnzimmer kannte sie in- und auswendig. Die Schlafzimmer der Erwachsenen jedoch waren tabu. Blanche konnte sich noch nicht einmal erinnern, dass sie den Kleiderschrank der Mutter nach abgelegten Klamotten durchstöbert hätte, obwohl andere Teenager-Töchter dies offenbar mit großer Regelmäßigkeit machten. Aber schon mit dreizehn hatte Blanche alle Verbindungen zur Mutter gekappt – zumindest verkündete sie das lautstark und ungefragt. Außerdem fand sie Lisbeths Kleidungsstil unter aller Sau, wie sie ebenfalls nicht müde wurde zu beteuern.

Nun also Ommas Bett. Das Bett, in dem diese zähe, alte Frau sämtliche Alpträume ihres Lebens ausgebrütet hatte. Wer Omma kannte, der schätzte ihren überragenden Geschmackssinn in puncto Wurstgewürze, und man achtete sie als knallharte Geschäftsfrau, die sich auch gegen die überwältigende Konkurrenz der Supermärkte durchsetzen konnte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass diese bis auf die Knochen nüchterne Frau Träume hatte. Aber Blanche wusste es besser. In diesem Bett hatten sich die Kriegsbilder mit den Wiedergängern der Kölner Sagenwelt zu einer unbekömmlichen Melange vermischt, die Omma dann an ihren gemeinsamen Sonntagnachmittagen bei Blanche ablud. Und zuletzt hatte sich wohl auch der Horror der Demenz dazugesellt und die wenigen schönen Erinnerungen ausgewischt, sodass nur noch Verwirrung und Angst blieben, neben einigen nebelhaften Fetzen, die sich nicht mehr zu einem Bild zusammenfügen wollten.

Vielleicht gab es auch eine natürliche Erklärung für die allnächtlichen Alpträume? Stand das Bett etwa an einem falschen Platz? Vielleicht verlief drei Stockwerke tiefer, unter dem Keller, eine Wasserader, die Blanches empfindlichen Schlaf störte?

Blanche räumte das ganze Zimmer um, schob das Bett mal in die eine, dann wieder in die andere Ecke. Nichts half. Zuletzt versuchte Blanche, ihre Schlafenszeit immer weiter hinauszuzögern, so lange, bis sie sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Dann schlüpfte sie rasch und verstohlen zwischen die Laken, in der Hoffnung, dass der Schlaf sie schnell und schmerzlos übermanne. Sie zwang hinter geschlossenen Augenlidern die Bilder schöner Landschaften herbei, visualisierte einen Südseestrand und atmete so, wie sie es beim Entspannungstraining gelernt hatte. Sie tat all das, was ihr schon beim letzten Drogenentzug nicht mehr geholfen hatte. Niemals jedoch nahm sie Schlaftabletten. Mit dem Thema Tabletten war sie endgültig durch. Genauso wie mit Alkohol. Blanche blieb nur die Hoffnung, dass sie sich an dieses Zimmer gewöhnen würde. Noch konnte sie sich keine neuen Möbel leisten. Sie hatte alles, was sie besaß, in die Praxis gesteckt. Und so begann sie jeden Abend mutig aufs Neue ihre Reise in die Nacht. Das Bett trug sie wie ein Boot über unergründliche Gewässer. Jeden Abend stach sie aufs Neue in See und wusste nicht, ob sie am nächsten Morgen das rettende Ufer erreichen würde.

So stark und selbstbewusst, ja ruppig Blanche tagsüber auftrat, so verletzlich und bis auf die Knochen von Angst zerfressen war sie nachts. Einige Male hatte sie überlegt, ob die Katze ihr nicht Trost spenden könnte. Sie hatte doch früher, als sie noch unter Brücken schlief, jahrelang mit einem Hund ihren Schlafsack geteilt. Aber sie litt das Tier nicht im Bett. Jede andere Katze, aber nicht dieses Tier mit dem rätselhaften Blick einer Sphinx. Cleo war ihr unheimlich. Sie schien alles zu wissen. Alles. Es war so, als würden sie sich schon ewig kennen. Blanche wusste, das war hirnrissige Spinnerei, dennoch kam sie nicht an gegen diese Gefühle. Und auf unerklärliche Weise, mit einer Mischung aus Faszination und Grauen, fühlte sie sich an Cleo gebunden.

So nahm das Boot mit Blanche als wehrlosem, blindem Passagier jeden Abend seine allnächtliche Fahrt in immer dunkleres Wasser auf.

Manchmal wusste Blanche im Traum, dass sie träumte. Trotz dieses Wissens gelang es ihr nicht, sich zur Regisseurin des eigenen Kopfkinos zu machen. Und so vermischten sich Traumbilder mit realen Erinnerungen, sodass Blanche, wenn sie nachts hochschreckte, oft nicht mehr wusste, wie alt sie war. In einer dieser Nächte traf sie sich mit Andreas, diesem hochaufgeschossenen blonden Jungen, der sie heimlich verehrte, aber niemals gewagt hätte, irgendetwas zu sagen. Im Traum waren sie wieder zwölf Jahre alt oder vielleicht auch dreizehn. Sie lebten in einer seltsamen Zwischenexistenz. Die Umwelt sah sie noch als Kinder, aber das war eine Täuschung. Sie hatten es so unglaublich eilig, erwachsen zu werden. Erwachsen sein hatte etwas mit Zigaretten zu tun und mit Alkohol. Es hatte mit Rock-Konzerten in der Sporthalle zu tun und damit, dass man nachts lange unterwegs war. Und mit Sex. Dies alles war noch ein fremder Kontinent, für den es keine Landkarten gab. Eva-Marias Bruder war schon siebzehn. Sozusagen unterwegs als Pionier in der neuen Welt. Und Eva-Maria wusste immer was zu erzählen.

 

„Wo können wir uns treffen, ohne dass uns jemand sieht?“, hatte Andreas gefragt, und Lara hatte geantwortet: „Bei uns im Keller“, und den Schlüsselbund vom Haken genommen.

„Du darfst mich jetzt aber nicht auslachen“, sagte Andreas wenig später und schaute auf einen imaginären Punkt neben der Kartoffelkiste. „Ich habe gehört, du weißt, wie man so was wegkriegt.“

„Dann lass mal sehen“, forderte ihn Lara auf, und Andreas errötete, als er sein T-Shirt hochrollte.

Die Warze prangte dick und runzlig direkt neben seinem Nabel. Die Haut an Andreas’ Bauch war milchig weiß und von hellbraunen Sommersprossen übersät, die ebenfalls erröteten, als sich Lara nun interessiert darüber beugte. Eine blonde Strähne fiel nach vorne und kitzelte den Jungen. Der hielt die Luft an. Lara richtete sich rasch wieder auf und sagte: „Das ist einfach. Du nimmst eine Erbse und streichst über die Warze. Die Erbse wickelst du dann in ein Stück Zauberpapier. Und dann lässt du das Päckchen irgendwo fallen, wo viele Leute vorbeigehen. Der Erste, der draufsteht, hat dann am nächsten Tag deine Warze.“

Andreas wirkte enttäuscht, als er das gelbliche Papier befingerte, das Lara fest in ihrer Hand hielt. „Das soll ein Zauberpapier sein?“, fragte er und stopfte sich das T-Shirt in die Hose. „Das sieht aber aus wie ganz normales Löschpapier.“

Lara merkte, dass sie noch etwas am magischen Drumherum arbeiten musste, und ergänzte ihre Anweisungen: „Ganz so einfach, wie du es dir vorstellst, ist es dann aber doch nicht. Wenn du die Erbse eingepackt hast, darfst du nämlich kein einziges Wort mehr sprechen.“

„Wie lange?“, erkundigte sich Andreas und strich mit dem Fingernagel über das Löschpapier.

„Bis die Erbse dort liegt, wo du es für richtig hältst. Das klingt einfacher, als es ist. Stell dir vor, du gehst raus und deine Mutter will wissen, wohin. Oder du begegnest jemandem auf der Straße, den du kennst. Das kann ganz schön kompliziert werden.“ Lara hob warnend den Zeigefinger zu den Lippen. Andreas wirkte inzwischen doch ziemlich beeindruckt.

„Kostet 10 Pfennige“, ergänzte Lara. „Spezialpreis für dich. Du kannst auch zum Arzt gehen. Das kostet zwar nichts. Der operiert die Warze allerdings mit dem Messer raus. Das tut schweinemäßig weh. Und rausgeschnittene Warzen kommen immer wieder. Die kriegt man nämlich nur mit Magie weg. Wenn du mir nicht traust, kannst du es gerne ausprobieren. Aber bald ist Sommer, und ich kann mir gut vorstellen, wie das aussieht, wenn du mit so einem Geschwür in der Badehose ...“

„Gib her“, fast grob entriss ihr Andreas das Papierchen. „Aber ich krieg mein Geld zurück, wenn es nicht klappt“, rief er, schon halb auf der Kellertreppe.

„Wenn es nicht klappt“, rief ihm Lara hinterher, „dann bedeutet das nur, dass du deine Klappe nicht halten konntest. Ich verkaufe meinen Freunden doch keinen Mist.“

Blanche drehte sich auf die rechte Seite und lächelte im Schlaf. Sie war sich bewusst, dass sie träumte. Aber diesmal war es ein angenehmer Traum. Es gab keinen Grund aufzuwachen. Und das Schönste war: Der Traum entsprach exakt der Realität. Zwei Tage später war die Warze weg. Dort, wo sie gesessen hatte, war nur noch makellose, milchweiße Haut. Und so etwas sprach sich herum. Lara gehörte jetzt zu den wichtigen Persönlichkeiten auf dem Schulhof. Man betrachtete sie mit Ehrfurcht.

Der nächste Auftrag ließ nicht lange auf sich warten. Andreas gehörte zu den Fußballspielern. Was bedeutete, dass er jedes Wochenende wichtige Qualifikationsspiele hatte. Oft auswärts. Das bedeutete auch, dass er kaum Zeit zum Lernen hatte. In den meisten Fächern mogelte er sich irgendwie durch. In Mathe jedoch wollte ihm das einfach nicht gelingen.

„Kriegst du das auch hin?“, fragte er hoffnungsvoll in der großen Pause. „Dass ich eine Zwei in Mathe schreibe? Am Wochenende ist Turnier, und wenn ich Montag noch einen Fünfer schreibe, dann ist erst mal Schluss mit Fußball, haben meine Eltern gesagt.“

„Ja, schon“, hatte Lara geantwortet und die Worte künstlich in die Länge gezogen.

„Klar kann ich das. Mit meiner Zaubertinte – aber ich weiß nicht, ob du dir das leisten kannst.“

Sie hatte ihm dann eine der türkisfarbenen Pelikan-Tintenpatronen für 2 Mark verkauft. Ein Wahnsinn, wenn man bedachte, dass es das ganze Päckchen im Schreibwarengeschäft „Eselsöhrchen“ bereits für 90 Pfennige gab. Wenn Andreas nur fest an die Kraft der Tinte glaubte, dann würde es gelingen, davon war Lara überzeugt. Dumm war Andreas nämlich nicht.

Und träumend sah Blanche, wie Andreas seine Mathearbeit schrieb. Allerdings spürte sie nun, wie sich Realität und Traumbild mischten. Es war ihr, als schaue Blanche Lara über die Schulter, die wiederum Andreas beobachtete. Sie spürte eine seltsame Entfremdung mit sich selbst. Sie konnte nicht mehr unterscheiden, ob sie nun Lara war, die blondbezopfte Schülerin, oder die träumende Blanche. Sie steckte in beiden Personen und nahm deren Gefühle gleichzeitig wahr. Sie sah, wie Andreas mit der kostbaren türkisfarbenen Tinte eine Gleichung löste, und ärgerte sich, als er einen Flüchtigkeitsfehler machte. Wenn er keine Zwei schrieb, dann wäre Lara erledigt. Wie stünde sie dann da? Als aufgeblasene Heuchlerin, deren Erfolge lediglich Zufallstreffer waren. Nein, das konnte sie nicht zulassen, ganz egal, ob sie nun Lara hieß oder Blanche.

Und im Traum griff sie nach der Feder, um Andreas’ Hand zu führen. Im Traum war alles möglich, wusste sie, während sie sich schlafend selbst beobachtete. Ihr Lächeln jedoch verschwand, und um ihren Mund entstand ein harter Zug. „Durchstreichen und neu anfangen“, flüsterte sie im Schlaf, zog die Schultern hoch, krümmte den Rücken und bohrte die rechte Faust ins Kissen.

Nun wäre sie gern erwacht und hätte die Traumbilder verscheucht. Aber es war unmöglich. Hilflos und wie erstarrt musste Blanche mit ansehen, wie sie mit ihrem plumpen Rettungsversuch alles nur noch schlimmer machte. Im Widerstreit ihrer beider Hände setzte Andreas einen Riesenklecks auf das Papier, die Füllerfeder bohrte sich in die Heftseite wie ein tödlicher Indianerpfeil in die Flanke eines flüchtenden Rehs. Die Tinte lief aus, und aus der Wunde im Papier quoll ein türkisfarbener Strom. Es schien unmöglich, dass in einer einzigen Füllerpatrone so viel Tinte war. Die türkisfarbene Pfütze bedeckte nun bereits das Pult und begann, zu Boden zu tropfen. Wie paralysiert starrte Blanche auf die schillernde Pfütze, die sich langsam auf dem Boden ausbreitete.

Sie befand sich nun nicht mehr im Schulzimmer, und auch Andreas war verschwunden. Nur die Pfütze war noch da. Je mehr sie sich vergrößerte, desto dunkler wurde ihre Farbe. Blanche kniete nieder und betrachtete fasziniert das Farbenspiel. Sie musste sich unbedingt zum Aufwachen zwingen, sonst nahm das hier ein böses Ende, ahnte sie. Immer noch changierte die Farbe. Nun war es ein dunkles Lila, das innerlich zu pulsieren schien und immer neue Töne ausbrütete.

„Nur noch ein wenig“, flüsterte Blanche, die nicht mehr wusste, wer sie war. War sie Blanche oder war sie Lara? „Lass mich nur noch ein wenig zuschauen“, wisperte sie, und eine unbändige Neugierde erfüllte sie. Sie wollte unbedingt wissen, welche Farbe zum Schluss kam. Und während sie dabei zusah, wie die Flüssigkeit allmählich zur Ruhe kam und an den Rändern krustig erstarrte, blieben ihre Augen fest geschlossen. Die letzte Farbe, die sich langsam und in Schlieren über die Pfütze ausbreitete, war ein tiefes, sattes Rot.

Blut. So viel Blut!

Woher kam denn nur dieses viele Blut? Kein Löschpapier dieser Welt konnte das je wieder aufsaugen.

Mit einem Ruck erkannte Blanche, wo sie sich befand: Sie kniete auf uraltem Kopfsteinpflaster. Inmitten einer riesigen Blutlache lag Schneewittchen. Den verkrümmten Leib mit den verrenkten Gliedern beachtete Lara nicht. Sie betrachtete nur den Kopf der Freundin. Das glatte Haar ausgebreitet wie ein Strahlenkranz. Schwarz wie Ebenholz. Befremdlich, dass der Pony immer noch eine exakte Linie bildete. So, als sei alles wie immer. Das Gesicht weiß wie Schnee. Sogar die Lippen. Weiß wie Schnee. Die Augen mit den langen, seidigen Wimpern geschlossen. Und drum herum alles rot, so rot. Rot wie Blut.

„Schneewittchen“, flüsterte Lara, und die schlafende Blanche bewegte ihre Lippen: „Schneewittchen, wach auf!“

Und Schneewittchen schaffte es tatsächlich. Ihre Lider flatterten wie zwei flüchtende Schmetterlinge, und sie öffnete die Augen. Seltsam groß und fremd ihre Pupillen, zwei tiefe Brunnenschächte, auf deren Grund wie ein verglimmendes Fünkchen ein Rest von Leben flackerte. Fern und fremd der Blick.

„Du darfst nicht sterben“, wimmerte Blanche und krallte ihre Hand ins Kissen. „Wenn du stirbst, kann ich auch nicht mehr weiterleben.“

Schneewittchen wollte noch etwas sagen. Ihre blutleeren Lippen zitterten, aber wenn sie etwas geflüstert hatte, dann war es im Straßenlärm untergegangen.

„Schnell“, rief einer. „Ruft den Rettungswagen. Sie stirbt!“

Füße rund um die Blutpfütze herum. Schuhe, geputzte und ungeputzte. Hosenbeine und schlanke Damenbeine in Seidenstrümpfen und unförmig dicke in mokkafarbenen Stützstrümpfen. Ein Paar Frauenfüße quoll wie Hefeteig über die Schuhränder, und Lara dachte einen flüchtigen Augenblick, wie sehr diese eingezwängten Füße doch schmerzen müssten. Keiner bückte sich. Niemand kniete nieder. Keiner half.

„Es ist sowieso zu spät“, hörte Lara. „Dreißig Meter im freien Fall. Das überlebt niemand.“ Das Zucken eines Blaulichtes, das sich im Rot der Blutpfütze spiegelte. Lara griff in das Haar so schwarz wie Ebenholz, hob Schneewittchens Gesicht nah, ganz nah an ihres. Spürte es wie die Scherben in der Hand, die Scherben von Schneewittchens Schädel, der beim Aufprall zersprungen war wie eine Porzellanschüssel. Ihr Flüstern, kaum wahrnehmbar, nur ein Hauch: „Ich wollte ...“

„Du darfst nicht sterben“, flehte Lara und wusste doch, dass es hier nicht wie im Märchen war, wo das Wünschen noch etwas half. „ ... wollte doch ... nur ...“

„Lassen Sie mich durch. Ich bin Arzt.“ Eine forsche Stimme.

Die Pupillen starr nun und seltsam schief verzogen.

Ein Griff an Laras Schulter. „Lass sie los, Kleine. Du kannst hier nicht helfen.“ Schweigend und starr stand Lara daneben, als die Sanitäter noch verschiedene Dinge mit Schneewittchens Körper anstellten. Sie stand dort, als müsse sie die Freundin bewachen. Ihre blutbesudelte rechte Hand verbarg sie in der linken Achselhöhle. Aber da war nichts mehr zu machen. Lara hatte genau gesehen, wie Schneewittchens Augen brachen. Als der Funke tief unten in den Brunnenschächten ihrer Pupillen verglomm und die Seele sich auf ihre Reise machte. Von einem Moment auf den anderen waren die Pupillen keine Fenster mehr zur Seele gewesen. Nun waren sie nur noch leere schwarze Löcher, und einen entsetzlichen Augenblick lang hatte Lara gemeint, sie könne hindurchschauen durch Laras Augen, quer durch das Innere ihres Kopfes hindurch, bis auf die Bruchlinien der Schädelscherben, die selbst die Ärzte mit ihren geschickten Händen nicht mehr zusammenfügen konnten.

„Schneewittchen, wo bist du?“, flüsterte Lara.

„Hast du gesehen, wie es passiert ist?“, fragte sie einer der Sanitäter. Mit schreckweiten Augen schüttelte Lara den Kopf. Sie wollte doch nur fliegen, dachte sie. Sie dachte doch, sie kann fliegen. Aber das sagte sie nicht. Niemand hätte sie verstanden.

„Sie kam da einfach runtergeflogen“, presste sie hervor. „Einfach so ...“, und deutete nach hinten über die Schulter, wo die steinerne Masse der Severinstorburg im Abenddämmer drohte. „Da hast du aber ganz schön Glück gehabt, Kleine, dass sie nicht auf dich draufgefallen ist“, meinte der Sanitäter, und Erleichterung schwang in seiner Stimme mit.

Ich habe kein Glück gehabt, dachte Lara, aber sie sagte es nicht. Niemals mehr im Leben werde ich glücklich sein.

Und sie wusste, dass hinter ihrem Rücken das Tor stand. Das geduldige Tor mit seinem gefräßigen Maul. Es konnte warten. Wenn Lara nach Hause wollte, dann musste sie durch dieses Tor. Nirgends mehr auf dieser Welt würde Lara zu Hause sein. Und mit einem Schrei rannte sie davon. Kopfschüttelnd sah der Sanitäter dem flüchtenden Mädchen nach.

 

Mit einer müden Handbewegung schloss der Arzt Eva-Marias Augen. „Schade“, sagte er. „So ein hübsches Mädchen. Wie kann man in diesem Alter sein Leben einfach so wegwerfen.“

Blanche wusste, dass sie träumte. Mit aller Gewalt wollte sie die Augen öffnen und aufwachen. Aber es ging nicht. Irgendetwas zwang sie, genau hinzusehen. Sie erkannte jedes einzelne entsetzliche Detail.

Und das Grauenhafteste war: Es entsprach exakt der Realität. Schneewittchen starb, und Lara konnte nicht mehr weiterleben. Nur noch rennen.

Kapitel 14

Dienstag, 14. Oktober 2008

Am nächsten Morgen starrte ihr aus dem Spiegel mit umschatteten Augen und hohlen Wangen wieder die heruntergekommene Junkie-Braut entgegen. Oder war es das tödlich verwundete Kind? Jedenfalls beschloss Blanche, ihr Aussehen radikal zu ändern.

Eine neue Lebensphase hatte bei Blanche immer bedeutet: neuer Haarschnitt, neue Haarfarbe. Es wurde wieder einmal Zeit. Dringend.

Die Wirkung stundenlanger Farb-Manipulationen war dann auch tatsächlich durchschlagend – wenn auch komplett anders als geplant. Und am Dienstag kam es dann zu einer miesen Slapstick-Situation, als Blanche mit schlecht sitzendem, buntem Kunstseide-Turban durchs Treppenhaus tappte und fast in diese junge Frau hineinlief, die gerade ein über und über pink gerüschtes Kleinkind in einem Buggy verstaute. Auf dem Briefkasten über ihrem Kopf stand der Name Yilmaz und eine beneidenswerte Lockenpracht reichte ihr bis über die Hüften. Blanche tat, als sei sie unsichtbar, und versuchte sich möglichst unauffällig an dieser Frau Yilmaz vorbeizudrücken. Zwei gut definierte, in engen Jeansstoff verpackte Pobacken waren ihr jedoch im Weg. Der Kinderwagen stand schräg, und die verbleibende Rest-Diagonale des engen Treppenhauses wurde von der jungen Türkin nahezu ausgefüllt. Da war kein Vorbeikommen. Blanche räusperte sich diskret, und ihre Hände flatterten schon wieder zum Turban, um ihn zurechtzuzuppeln. Übrigens entsprach die junge Frau keinesfalls dem Dresscode türkischer Muttis, wie ihn Blanche schon seit Jahrzehnten genau kannte. Hatten doch teilverschleierte, weibliche Gestalten in den Straßen des Veedels eine lange Tradition. Während Blanches Kindheit waren es die Nonnen aus dem Klösterchen der Augustinerinnen gewesen, die in formlosen, dunklen Gewändern über die Straße wallten. Das Klösterchen hatte sich mittlerweile zwar zu einem veritablen Klinikum gemausert, aber die Zahl der Nonnen sank dennoch unaufhörlich. Der Zeitgeist war offenbar gegen sie, wie auch gegen eine traditionelle katholische Kleiderordnung. Wie zum Ausgleich gab es nun die türkischen Muttis, deren Optik denen der Nonnen verblüffend ähnelte. Die Frau im Treppenhaus trug jedoch hautenge Jeans und eine kurze Lederjacke. Wie in einer stummen Geste des Befremdens flogen die schmalen Schwingen ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch in die Stirn, als sie Blanche nun betrachtete. Wie sie nur wieder aussah! Ungeschminkt, und statt des coolen Cowboyhutes zur schwarzen Lederkluft hatte sie nun diesen peinlichen, knallbunten Kunstseide-Turban, der auf ihrem Kopf thronte wie ein zusammengefallenes Soufflé. Blanche fühlte sich wie ein einziger wandelnder Stilbruch. Das rosa gerüschte Kind schaute gleichgültig und steckte Zeige- und Mittelfingerchen in den Mund.

„Hallo“, lächelte Blanche einen vagen Gruß in Richtung der Briefkästen. Frau Yilmaz schaute skeptisch. Wirkte Blanche etwa verdächtig? Oder irre? Schlimmstenfalls beides. Wahrscheinlich machte der Turban sowieso alles nur noch schlimmer. Nach dem ersten Blondierungsversuch hatten die Haare knallorange geleuchtet. Damit hätte sich Blanche eventuell sogar noch aus dem Haus gewagt. Ihr Kopf sah mit ein bisschen gutem Willen irgendwie nach Henna aus. Der zweite Versuch war dann aber definitiv in einer völligen Katastrophe geendet. Färbeunfall total – Blondierungs-Super-GAU. Nie hätte Blanche gedacht, dass Haare ein so fieses Chlorgrün annehmen könnten. Der Farbton wirkte absolut außerirdisch und hätte eher zu einem Alien als zu einem Menschen gepasst. Dabei wollte Blanche doch nur die Haarfarbe ihrer Kindheit zurückhaben. Wie hatte die Voss gesagt: „Du hast doch früher immer so schöne blonde Haare jehabt ...“ Die Farbe der Unschuld. Sozusagen.

Aber von wegen blond. Während am Ansatz immer noch grelles Orange aufblitzte und die Längen wie eine extraterrestrische Karnevalsperücke wirkten, changierten die spröde gewordenen Spitzen in den missfarbenen Tönen eines Chemiegift-Unfalls. So konnte Blanche nicht vor die Tür treten. Man kannte sie allmählich in dieser Straße, und inzwischen wurde ihr der eine oder andere Gruß zugerufen, wenn sie einkaufen ging. Blanche wollte nicht, dass man begann, über sie zu tratschen, sondern sich ein solides Image aufbauen. Und dieses Image vertrug sich nicht mit dem einer regenbogenhaarigen Punkgöre.

Deshalb nahm sie in Kauf, dass diese türkische Mutti im Outfit einer Catwalk-Casting-Show sie musterte, als sei sie eine religiöse Spinnerin, eine Neu-Islamistin oder die fehlgeleitete Angehörige einer osteuropäischen Freikirche.

Blanche griff sich an den Kopf, grinste schief und murmelte etwas von Bad Hair Day. Da rutschten die Züge der Türkin ins Verständnisvolle. Eilig machte sie Platz, und noch bevor die Haustür ins Schloss fiel, hörte Blanche den Halbsatz: „... wenn ich irgendwie helfen kann ...“

Erst an der Straßenbahnhaltestelle wurde ihr klar, dass die junge Frau sie vermutlich für das bedauernswerte Opfer einer Chemotherapie hielt.

Kapitel 15

Mittwoch, 20. Mai 1981

„In Amerika benutzen sie es sogar als Medikament“, hatte Eva-Maria gesagt, und Lara hatte wie zufällig den Pickel berührt.

An dem Tag, an dem es passieren sollte, war sie nämlich aufgewacht und hatte gespürt, dass ihr über Nacht am linken Nasenflügel ein riesiger Pickel gewachsen war. Zuerst erschrak sie furchtbar, dachte, sie habe auf mysteriöse Weise Andreas’ abgelegte Warze erwischt. Vor dem Spiegel zeigte sich dann, dass der Pickel so gut wie unsichtbar war, lediglich eine leichte Wölbung, die sich in der Hautfalte versteckte, ein Hauch von Rot, den Lara mit etwas getönter Tagescreme der Mutter mühelos abdeckte.

Es hieß, wenn man Pickel bekam, dann bedeutete das den Beginn der Pubertät. Der Anfang aller Verheißungen.

Typisch, dass gerade ihr als Erstes ein Pickel wuchs und nicht der Busen.

Nach der Schule hatten sich Eva-Maria und Lara zum Mittagessen in Ommas Metzgerei verabredet. Dort balancierten sie auf hohen Stühlen an Bistro-Tischen mit rot karierten Tischdecken, schlugen die Beine affektiert übereinander und versuchten, sich so zu geben, als säßen sie regelmäßig in verrauchten Etablissements auf hohen Barhockern.

Normalerweise tat Lara mittags in der Metzgerei unscheinbar. Sie vermied jedes Lächeln, ja schlug peinlich berührt die Augen nieder, wenn bei den mittagessenden Handwerkern Ärmel hochgekrempelt wurden und Muskulatur, Behaarung oder tätowierte Anker oder gar halb nackte Frauen ins Blickfeld rutschten.

Aber heute war alles anders. Heute saß die schneewittchengleiche Eva-Maria neben ihr. Außerdem hatte Lara ihren ersten Pickel, der eine neue Lebensphase ihrer Weiblichkeit einläutete. Geziert handhabte sie Messer und Gabel, und es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn der Rock ein wenig verrutscht wäre. Leider trug sie einen über-knielangen Faltenrock mit Schottenkaro. Da verrutschte nichts.