Vor dem Erben kommt das Sterben

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Aus der Reihe: Lindemanns #272
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Das verstand Lara. Und sie erkannte mittlerweile auch die Aussichtslosigkeit ihrer Suche nach dem Grab der Richmodis. Denn die mittelalterlichen Friedhöfe gab es nicht mehr. Die Toten mussten inzwischen draußen vor den Stadtgrenzen bleiben. Und mit den Toten das unaussprechlich Böse.

Eines Tages erkannte sie jedoch, dass sie etwas übersehen hatte. Es war nur ein Zufall, dass sie die Gräber in der direkten Nachbarschaft fand. Direkt am Waidmarkt. Neben dem Polizeipräsidium. Tausendmal war sie an der unscheinbaren Kirche vorbeigegangen. An einem trüben Novembernachmittag schaute sie zum ersten Mal durch das Tor und erschrak. Im Innenhof der Georgskirche lagen schlichte Steinplatten im Kies. Und alle trugen dasselbe Sterbedatum: 2.3.1945. „Der Krieg“, seufzte Omma und wollte nicht darüber sprechen. Aber Lara hatte erkannt, dass das Böse direkt aus der Nachbarschaft kam. Und sie beschloss, wachsam zu bleiben. Denn die Toten kamen zurück. Manchmal stieg ein Leichnam nachts herab vom Pestkreuz der Severinskirche und schlurfte halb nackt, mit zerfetzter Haut und Armen, die seltsam verdreht in den Schultergelenken baumelten, durch die Gassen. Manchmal irrte die totenbleiche Kaufmannsfrau Richmodis durchs nächtliche Köln. Manchmal kollerten Schädel, an denen noch Reste der behaarten Kopfhaut klebten, aus ihren goldumrandeten Altarbildern und wisperten in der Gosse, wenn die Betrunkenen sich auf den Heimweg machten. Manchmal thronte das Tote auch in Gestalt zweier abgeschlagener Pferdeköpfe hoch oben über dem alltäglichen Gewimmel und wieherte hämisch. Damals entdeckte Blanche, dass es eine Welt hinter den Dingen gibt. Abends, wenn sie im Bett lag und nicht einschlafen konnte, spürte sie die Kraft, die diesen Geschichten innewohnte. Die Monster unter ihrem Bett, im Keller und auf dem Speicher warteten nur darauf, dass sie die Kontrolle verlor. Damals, als sie aussah wie ein blondes, unschuldiges Kind, balancierte sie jeden Tag auf Messers Schneide. Täte sie auch nur einen falschen Schritt, fiele sie auf die Feuerseite, dorthin, wo die Mäuler der gefräßigen Monster gähnten. Oder sie fiele auf die andere Seite und fiel und fiel und fiel ... Es war nicht auszudenken. Damals wurde Lara zu einem unzufriedenen, launischen Kind, und niemand verstand, warum. Aber wer Nacht für Nacht ins Bodenlose stürzt und dabei lediglich die Alternative hat, zerschmettert oder im Rachen eines Höllenmonsters zermalmt zu werden, dem war es doch nicht zu verdenken, dass er am Tage unausgeschlafen und grantig über die Messerschneide balancierte, die das Leben nun einmal war. Es wurde erst besser, als Lara in die Schule kam. Zunächst war sie auch dort eine Außenseiterin. Als sie jedoch erkannte, dass sie sich mit ihren Geschichten Menschen gefügig machen konnte, wendete sich das Blatt. Und all dies begann, als sie die Pferde der Richmodis entdeckte.

Blanche ließ das vergilbte Blatt mit der Richmodis-Sage zu Boden segeln, fegte alles zusammen und stopfte es unbesehen wieder in die Umzugskiste. Ein ganzer Pappkarton, vollgestopft mit alten Geschichten. Nutzloser Kram. Ballast. Wozu, um Himmels willen, sollte man dieses vergilbte, stockfleckige Zeug aufbewahren? Die Kiste kam in den Keller. Später würde sie handliche Bündel zum Altpapiercontainer tragen. Und während sie den Deckel des Kartons zuklebte, sang Blanche laut und trotzig und völlig schief: „Ich mach mir die Welt – widewide – wie sie mir gefällt ...“

Die Kehle wurde ihr eng und der Gesang brach ab. Hier stand sie, Blanche alias Lara, vierzig Jahre alt, bis jetzt noch keinen einzigen Tag in ihrem Leben sozialversicherungspflichtig beschäftigt und schaufelte tonnenweise alte Geschichten aus ihrem Leben heraus. Sie holte tief Luft. Es gab keinen Grund für Selbstmitleid. Blanche räusperte sich, grinste schief und blinzelte ein paar Tränen weg. „Heissa – widewitt“, murmelte sie. „Und jetzt komme ich!“ Sie öffnete die Tür und hievte den schweren Karton über die Schwelle.

Auf einer Teppichrolle saß die weiße Katze und blinzelte zurück.

Kapitel 6

3. März 2009, 17 Uhr

Noch spüre ich weder Hunger noch Durst. Das liegt an den Erinnerungen. Wenn ich mich diesem Strom der bunten Bilder hingebe, verschwindet die unerträgliche Realität. Manchmal braucht es einen Auslöser, damit der Film beginnt. Zum Beispiel Teppiche, um genauer zu sein: zusammengerollte Teppiche. Sicher wunderte sich Blanche, als ich damals die Rollen mit muffiger Auslegeware im Treppenhaus so intensiv untersuchte. Aber auch jetzt, wenn ich nur daran denke, überkommt mich die Erinnerung. Sie ist noch ganz frisch, und die Bilder wirken so lebendig, als sei es erst gestern geschehen. Zweitausendsechsundfünfzig Jahre. Für mich ist das ein Klacks.

*

Ich erinnere mich, dass die Dienerinnen den schweren Webteppich mit Rosenwasser besprengt hatten. Trotzdem kitzelte penetranter Staubgeruch meine Nase, als sie begannen, mich einzuwickeln. Um und um drehten sie mich, und ich spürte, wie meine festen kleinen Brüste zusammengepresst wurden und sich das zarte, plissierte Gewand fester an meine Hüften und Schenkel schmiegte. Ich wurde unsichtbar. Was schließlich auf dem Marmorboden lag, war lediglich ein Gastgeschenk für den Imperator. Nubische Sklaven beförderten die kostbare Fracht in einer Sänfte durch die Straßen von Alexandria. Ich lag in staubigem Dunkel und hatte Zeit, mir viele Gedanken zu machen. Das Tageslicht würde ich erst dann wieder sehen, wenn ich am Ziel wäre. Ob die Wachen den Teppich kontrollieren würden? Mussten die Sklaven das Bündel auseinanderrollen, oder würden die Soldaten gar mit ihren Lanzen darin herumstochern? Nein, das würden sie nicht wagen! Außer ... wenn sie Verdacht schöpften. Ich durfte keinen Laut von mir geben. Immer noch kitzelte dieser verdammte Staub meine Nase, und ich hatte Angst zu niesen. Natürlich kannte ich dieses Getuschel, dass meine Nase zu groß sei. Was allerdings ein ausgemachter Unsinn war. Denn ich war perfekt. Aber zugegeben – mein Körper war nicht geschaffen für die Niederungen dieser Welt. Die Überfeinerung meiner Sinne machte mir den Alltag zur Plage. Kein Normalsterblicher hat eine Vorstellung davon, welche Qual es für einen großen Geist bedeutet, in einer solchen Hülle zu stecken wie in einem Gefängnis. Wehrlos war ich den Zumutungen von Sehen, Hören, Schmecken und Fühlen ausgesetzt. Da half auch kein Vorkoster: An den meisten Tagen schmeckte mir der Wein wie Gift, und selbst das weiße Fladenbrot lag mir wie ein Stein im Magen. Und dann diese Nase – wenn doch nur diese überempfindliche Nase nicht gewesen wäre! Ich versuchte, mich auf den Duft des Rosenwassers zu konzentrieren, unterdrückte ein Niesen, und vor Anstrengung stiegen mir Tränen in die Augen. Vor mir lag eine schwere Aufgabe. Nur für sie war ich geboren und erzogen worden. Ich musste stark sein. Mein Volk brauchte mich.

Ich weiß es noch wie heute. Seine Hände schlugen den Teppich auseinander, und ich richtete mich auf. Die Perücke zerzaust und das transparente Gewand zerknittert, blinzelte ich ins Tageslicht.

Und dann musste ich laut niesen. „Salve“, grinste er, und sein scharf geschnittenes Gesicht mit der markanten Nase zersprang in tausend Lachfältchen.

„Ave, Cäsar“, schniefte ich und versuchte die feixenden Legionäre zu übersehen, die mich mit gesenkten Lanzen im Halbkreis umstanden.

„Ave, Cleopatra“, antwortete er und reichte mir galant die Hand.

Kapitel 7

Oktober 2008, erste Woche

„Ich werde dich Cleo nennen.“

Blanche hatte die Katze mit energischem Griff am Nackenfell gepackt und hielt sie mit ausgestrecktem Arm vor sich hin. Das Tier kniff die Augen zusammen und machte sich schlaff und schwer.

„Jetzt tust du harmlos, aber ich spüre es genau – du bist ein ganz ausgekochtes Biest“, flüsterte Blanche und verstärkte den Druck ihrer Finger auf diese magische Stelle, diesen Knotenpunkt aller Empfindungen, dessen Berührung bei einer Katze sofortige Wehrlosigkeit auslöst. Jede Katzenmutter weiß das und trägt ihre Jungen auf diese Weise. Die Kleinen fallen dann in eine Art Trance und sind unfähig zur Gegenwehr.

„Schau dich nur in aller Ruhe um.“ Blanche trug die Katze durch den langen Flur ins Wohnzimmer. „Das hier wird nämlich dein neues Zuhause.“ Die Katze blinzelte. Es gab fast nichts zu sehen. Der Raum war bis auf zwei große rosafarbene Ohrensessel, die sich gegenüberstanden, komplett leer geräumt.

„Hier, sieh mal.“ Blanche drehte sich um die eigene Achse und intonierte in monotonem Singsang: „Und schau mal hier ... und hier ... und hier!“ Die Katze betrachtete die vorübergleitenden Wände und erinnerte sich dunkel an ähnliche Ornamente in den Palazzi Venedigs. Allerdings hatte Blanche in blinder Wut einzelne Bahnen der rosenholzfarbenen Brokattapete heruntergefetzt, und die Plüschornamente wirkten nun nicht länger prunkvoll und barock, sondern wie aus dem Zusammenhang gerissene Goldbänder, garniert mit verkrüppelten, muschelförmigen Ohren. „Weg mit diesem verdammten Spießer-Plunder“, flüsterte Blanche mit einer Intensität in der Stimme, dass sich der Katze die Rückenhaare aufstellten. „Morgen kaufe ich Farbe. Alles soll schön hell werden. Die Wände werde ich weiß streichen, die Möbel werden weiß und alles andere auch. Und du, mein Schatz ...“ Wieder hielt sie das weiße, nun heftig zwinkernde Fellbündel auf Armeslänge von sich: „Mein Schatz, du wirst ganz fantastisch zu dieser Einrichtung passen.“ Befriedigt kniff sie ein Auge zusammen und taxierte Cleo. „Weiß in Weiß“, kommentierte sie. „Sehr dekorativ. Ich werde auch deinen Katzenkorb in dieser Farbe streichen.“

„Nur der Boden bleibt so, wie er ist.“ Blanche ging in die Hocke und lockerte den Griff im Nackenfell. Die Katze roch Muff und Staub. Ihre Schnurrhaare zitterten. Unter der Auslegeware, die nun säuberlich aufgerollt im Treppenhaus stand, war ein honigfarbener Parkettboden zum Vorschein gekommen. „Wie neu!“, jubelte Blanche. Die Katze nieste, und durch diese kleine, ruckartige Eruption gelang es ihr, sich loszureißen.

 

Mit gesträubtem Fell glitt Cleo in eine Zimmerecke. Ihre Augen fixierten Blanche. Und als sich diese näherte, in gebückter Haltung und mit lockend ausgestreckter Hand, entstand ein stummes Kräftemessen. Normalerweise weichen Katzen dem Blick des Menschen aus. Sie beginnen zu blinzeln oder wenden den Kopf zur Seite. Nicht so Cleo. Unverwandt folgten ihre schillernden Smaragdaugen Blanches dunkel umwimperten Eisgletschern, und auch Blanche konnte den Blick nicht abwenden. Eine seltsame Faszination zwang sie, bis auf den Grund dieser tiefgrünen Seen zu tauchen, in denen sich die Pupillen mal schmal und spaltförmig zusammenzogen, dann wieder plötzlich, wie mit einem heftigen Pulsschlag, ausdehnten, um sie noch tiefer hineinzuziehen in etwas, das Blanche zunehmend unheimlich wurde. Wie in einer Doppelprojektion schien sich nun ein bleiches Kinderantlitz über das rundliche Katzengesicht zu schieben. Schwarze Augen, lockend wie Tollkirschen. Die Pupillen geweitet in Todesangst. Oder war es Lust? Schwarze Ponyfransen kitzelten das Weiß der weit aufgerissenen Augen. Aber die Lider mit den seidigen, ungewöhnlich langen Wimpern blieben reglos. „Sie müsste doch jetzt endlich die Ponyfransen wegblinzeln“, dachte Blanche. So viele Haare in den Augen! Das war doch unangenehm. Die Augäpfel bewegten sich immer noch nicht. Der Blick war wie der einer Puppe. Die Pupillen unnatürlich geweitet. Wenn man genau hinschaute, erkannte man – diese Augen waren tot.

„Schneewittchen, wach auf“, keuchte Blanche, und die Katze spitzte die Ohren, als wüsste sie, worum es ging.

Natürlich war das nur Einbildung. So, wie die meisten Wahrnehmungen auf Täuschungen beruhten. Selbsttäuschungen zumeist. Blanche atmete tief durch. Es klang wie ein Seufzen. Immer noch hielt die Katze ihrem Blick stand, ohne zu blinzeln. Ihre Augen hatten immer noch diesen Ausdruck ... starr ... tot ... wie Schneewittchens Blick im gläsernen Sarg. Wieder rutschten Blanches Gedanken auf gefährlich dünnes Eis. „Alles nur Einbildung“, rief sie sich zur Ordnung. Blanche sammelte sich, und das Kindergesicht verblasste. Eine optische Täuschung. Nicht mehr. Nur das flüchtige Spiegelbild ihrer Gedanken. In den letzten Jahren hatte Blanche gelernt, mit Enttäuschungen zurechtzukommen. Nein, mittlerweile liebte sie sogar dieses Gefühl der Ent-Täuschung. Das Freiwerden von Täuschungen. Die Befreiung von falschen Versprechen. Die Entgiftung von aufgeblasenen Hoffnungen. Je freier Blanche wurde, desto klarer erkannte sie die Verstrickungen ihrer Mitmenschen. Schon lange scannte sie wie mit einem Röntgenblick Sehnsüchte und Lebenslügen der anderen. Und stieß dabei immer wieder auf die gleiche miese Pampe, zusammengerührt aus Reklamebildern und Filmkitsch. Rosaroter Liebesschwulst traf auf machohafte Größenfantasien, manchmal garniert mit ein paar sexuellen Aberrationen. Aber selbst im Puff oder im Swinger-Club blieben Herr Biedermann und Frau Mainstream ganz bei sich selbst. Egal, ob splitterfasernackt oder getarnt hinter Ganzkörper-Tattoos oder mit klingelndem Intimschmuck protzend – sie blieben kleinlich, ängstlich, langweilig selbst in ihrer Gier. Wie verwöhnte Kinder waren sie stets auf der Jagd nach dem versprochenen Kitzel. Schnell. Billig. Laut und bunt und von allem immer viel zu viel. Sie waren innerlich leer und gleichzeitig übersättigt bis zum Brechreiz. So trotteten sie durch ihr Leben, das einer Einbahnstraße glich, und wähnten sich dabei stets auf der Überholspur. Und dennoch waren sie nichts anderes als blökende Schafe. Nicht schwarz, nicht weiß. Nur grau. Einheitlich grau. Und diese idiotischen Tiere zogen in einem langsamen kreisförmigen Zug über eine dürre Weide, die sie das Leben nannten. Jeder hatte einen grauen Arsch vor der Nase, und keiner merkte, in welche Richtung es ging. Und wenn sie nicht in einen Abgrund stürzten, dann wurden sie geschlachtet, und der klägliche Rest krepierte vor Langeweile. Wenn es nicht so furchtbar traurig gewesen wäre, hätte man drüber lachen können.

Blanche hatte diese Idioten studiert. Jahrelang. Blanche kannte sie alle. Und genau das war ihr Betriebskapital. Ihre Geheimwaffe. Dafür gab es keinen Waffenschein.

Ein Naturtalent sei sie, hatte es während der Ausbildung geheißen; ihre Aura ein Wahnsinn und ihre Vibrations einfach unwiderstehlich. Blanche galt in Fachkreisen als Ausnahmebegabung. Aber während sie reihum Klienten und Probanden in tiefe Trance versetzte, war es niemandem, auch nicht den erfahrensten Gurus, je gelungen, Blanches Willen zu brechen. Blanche war zwar eine spitzenmäßige Trance- und Hypnosetherapeutin, aber noch niemals hatte sie selbst dieses tiefe Strömen verspürt, von dem alle sprachen, dieses pulsierende Eins-Sein mit dem großen Ganzen, oder was für ein abgefahrenes Zeug die Klienten auch immer faselten, wenn sie aus ihren Trancezuständen zurückkehrten. Blanche hatte es lange genug an sich selbst ausprobiert. Auch die härtesten Drogentrips hatten ihr nur für kurze Zeit Erleichterung verschafft. Es gab kein Ausweichen – nur Ent-Täuschung. Und irgendwann kam die Erkenntnis, dass sie es nicht mehr loswerden würde. Nie mehr. Schneewittchen würde sie zeitlebens begleiten. So etwas wurde man nicht mehr los. Schließlich lernte Blanche, damit zu leben, so, wie man lernt, mit einer alten Narbe zurechtzukommen, die bei Wetterwechsel schmerzt. Als sie auf diese Weise frei geworden war, konnte sie auch endlich von den Drogen lassen. Obwohl sie ziemlich tief unten war, hatte sie es schließlich geschafft. Irgendwie. Und nur ein einziges Ziel vor Augen: Sie würde sich von niemanden mehr reinreden lassen. Aber für dieses Ziel brauchte sie Unabhängigkeit. Sprich: Geld. Möglichst viel Geld. Diese Wohnung war ein Anfang. Und die Leichtgläubigkeit der grauen Schafe. Sie hatte es schon oft ausprobiert und war dabei ziemlich gut gewesen. Manchmal hatte Blanche anschließend Mühe, ein mitleidiges Lächeln oder eine zynische Bemerkung zu unterdrücken, wenn die Klienten allzu sehr ins Schwärmen gerieten. Trance und die damit verbundenen Emotionen, das war ein Geschäft, ein äußerst lukratives Geschäft sogar, aber Blanche hatte gelernt, eine gesunde Distanz einzuhalten.

Und genau diese Distanz ging ihr nun verloren, als Cleo den pulsierenden Blick ihrer Smaragdaugen auf Blanche richtete. Blanche wehrte sich. Blanche versuchte gegenzuhalten. Blanche setzte all ihr hypnotisches Können ein, denn der Sog in die Tiefe war sehr stark. „Was machst du nur mit mir“, murmelte sie. „Du bist doch bloß eine Katze.“ So starrten sie sich gegenseitig minutenlang in die Augen – Gletschereis traf auf Smaragdkristall. Und auf einmal durchfuhr es Blanche wie ein schmerzhaftes Déjà-vu. Von irgendwoher kannte sie diesen Blick.

Endlich schloss die Katze die Augen. Blanche fuhr sich verwirrt durch die Haare. „Ich muss dringend etwas essen“, murmelte sie und erhob sich.

Kapitel 8

Montag, 6. Oktober 2008, kurz vor neun

Neben dem Geschäft „Wünsch dir was“ kam rechterhand die erste Schnellbäckerei. Und gerade zehn Meter weiter duftete es schon wieder nach frischen Milchbrötchen und Sauerteig. Seit die U-Bahn-Baustelle die alteingesessenen Geschäfte verdrängte, boomten nicht nur hastig eröffnete Kramläden und Imbissbuden. Auch die Franchise-Bäckereien mit ihrem Angebot aus Standard-Teiglingen, Weltmeisterbrot und Pappbecher-Kaffee vermehrten sich neuerdings wie die Karnickel. Blanche kaufte jeden Morgen zwei helle Brötchen. Zwar liebte sie das Gefühl, wenn die rösche Kruste krachend unter ihrem Biss einbrach und ihr Mund sich mit der noch lauwarmen Krume füllte, aber es war nicht allein die Leidenschaft für frisches Gebäck, die Blanche jeden Morgen vor die Haustür trieb. Der allmorgendliche Gang über die Severinstraße erschien ihr mehr als eine Art Prüfung, die sie bestehen musste, falls sie tatsächlich hier bleiben wollte. Jeden Morgen hatte die Brötchentüte einen anderen Reklame-Aufdruck, dauerte Blanches Morgenausflug einige Minuten länger, ging sie ein paar Meter weiter. So arbeitete sie sich im Laufe der ersten Woche immer weiter vor in Richtung Chlodwigplatz. Jeden Morgen rückte die Severinstorburg näher. Das aufgerissene, staketenzähnige Maul gähnte ihr ungeduldig entgegen. Zwei nahezu quadratische Fenster beglotzten sie neugierig. Das war zwar Einbildung, aber dennoch tat das Bild seine Wirkung. Sie sah es ständig vor sich. Auch dann, wenn sie die Augen schloss. An einem Mittwoch erreichte Blanche die letzte Bäckerei auf der Severinstraße – genannt „Schmitz Backes“. Dahinter kamen ein Reisebüro, eine Bar und dann – das Tor.

Warum ängstigte sie sich so sehr? Ständig gingen Menschen dort hindurch, ein Bettler kauerte tagaus, tagein auf einer speckigen Decke, und nichts geschah. Sie musste noch nicht einmal unter dem Fallgitter hindurchgehen. Rechts und links führte das Trottoir um die Torhöhle herum. Blanche konnte sich vorbeischummeln und niemand würde es bemerken. Und so stand sie an einem trüben Montagmorgen tatsächlich in der Warteschlange vor der Bäckerei „Merzenich“ am Chlodwigplatz. Es war wie ein Triumph. Wie sie dorthin gekommen war? Rechts am Tor vorbei? Links durchgeschummelt? Oder doch mittendurch gerannt? Blanche hätte es beim besten Willen nicht sagen können. Sie wusste nur eins: Sobald sie ihre beiden Brötchen bezahlt hatte, musste sie wieder zurück. Bis es so weit war, genoss sie es einfach nur, dort zu stehen, eingehüllt in den Duft von frischem Gebäck, eingelullt von monotonen Verkehrsgeräuschen. Die Gesichter in der Warteschlange waren beruhigend fremd. Niemand drehte sich nach Blanche um, wies wie zufällig mit dem Zeigefinger in ihre Richtung oder tuschelte Gehässigkeiten. Blanche kannte niemanden, und niemand kannte Blanche. Dies alles gab ihr ein wunderbares Gefühl tiefer Erleichterung. Und Blanche hoffte, dass dieses Gefühl sie auch zurücktragen würde – durch das dunkle Tor hindurch, oder zumindest daran vorbei.

Die Verkäuferinnen waren appetitlich anzusehen wie einst die Mädchen aus der Stollwerck-Schokoladenfabrik. Im Akkord schaufelten sie frische, knusprige Brötchen in Tüten, wickelten fettige Schoko-Croissants in Servietten, und die in der Schlange warteten, klimperten mit dem abgezählten Kleingeld in der Hand oder klopften mit einer Münze auf den Tresen: „Jeht dat denn nochmal vorwärts, hück? Ich han doch nit ewig Zigg. Ming Bahn kütt in drei Minuten.“ Schritt um Schritt rückte Blanche vor. Jede der Verkäuferinnen trug an der rechten Hand einen Plastikhandschuh, und nur mit dieser Hand berührte sie das Gebäck. Mit nackten Fingern nahmen sie das Geld entgegen. Und niemals verwechselten sie rechts und links. Nie besudelten sie die Backwaren mit der Geldhand. Und immer gaben sie das Wechselgeld richtig raus.

„Lechts und rinks“, murmelte Blanche. Niemand lachte. Und auf einmal stand nur noch eine Person vor Blanche. Ein klapperdürres Mädchen, höchstens dreizehn Jahre alt. Sie stopfte ein Salamibrötchen in den Rucksack. Schulbrot oder Reiseproviant? Die Kleine war ungefähr in dem Alter, als Blanche das erste Mal versucht hatte abzuhauen. Wie unfassbar jung sie war! Blanche erschrak, als sich das Mädchen umdrehte. Ihr stark geschminktes Kindergesicht trug die Züge einer Greisin. Tiefe Sorgenfalten und Augenringe ließen sie aussehen wie ein alternder Filmstar, der gewaltsam auf jung getrimmt worden war. „Ja, bitte?“, fragte nun die Verkäuferin mit dem Plastikhandschuh, Ungeduld in der Stimme.

„Zwei Brötchen“, sagte Blanche und nahm die Tüte gleich darauf in Empfang. „Leider habe ich es nicht kleiner“, stammelte sie, aber die Verkäuferin hatte das Wechselgeld schon in der nicht behandschuhten Hand, bevor Blanche den Fünfeuroschein aus dem Portemonnaie herausgefummelt hatte.

Sie machte sich auf den Rückweg. Das Tor wartete geduldig.

Kapitel 9

Montag, 6. Oktober 2008, kurz nach neun

Trottoir und Asphaltdecke waren aufgerissen. Überall Absperrungen und Verbotsschilder. Aus Kies und Sand ragten Röhren und Kabel. Alles sah vollkommen fremd aus. Dennoch war jeder Gang über die Severinstraße für Blanche wie ein einziges Déjà-vu. An diesem Montag entdeckte sie, hinter einer Bauplane versteckt, den Eingang zu einem Schreibwarengeschäft. Das „Eselsöhrchen“ hatte für unzählige Schülergenerationen nicht nur den Grundbedarf an kariertem und liniertem Papier gedeckt, sondern auch an Bleistiften, Tintenpatronen, Buntpapier und Klebstoff. Dort gab es einfach alles. Blanche blieb vor dem Laden stehen und betrachtete einen Plastikkorb mit vergilbten Heften und angestoßenen Geschenkpapierrollen. Ein neongelbes Schild verkündete einen geradezu lächerlichen Preis, ergänzt um den kleinlauten Zusatz „Baustellenrabatt!“ Blanche betrat das Geschäft. „Tür zu!“, schallte es von hinten. „Sonst staubt mir hier drinnen auch noch alles ein!“ Folgsam schloss Blanche die Tür, obwohl der Inhaber der Stimme unsichtbar blieb. Es schien, als sei die Luft im Laden so dick und mit Papiergeruch gesättigt, dass der Baustellenlärm keinen Platz mehr fand und nur noch gedämpft hereindrang. Blanche hatte Mühe, im Halbdunkel etwas zu erkennen. Das Regal linkerhand war verschwunden. Dort hatten früher von innen beleuchtete Plastikmadonnen gestanden, Rosenkränze in verschiedenen Preislagen, Andachtsbildchen und anderer spiritueller Krimskrams. Nicht nur die Schüler, auch die Nonnen aus dem Klösterchen gegenüber hatten nämlich ihren Grundbedarf im „Eselsöhrchen“ gedeckt. Stattdessen lagerten dort jetzt Künstlerbedarf, aufwendig eingebundene Notizbücher und hochwertige Papierbögen, die einzeln verkauft wurden. Blanche erinnerte sich, wie sie 1975 heimlich einen Tintenkiller in die Schule geschmuggelt hatte. Eine revolutionäre Neuheit, deren Einsatz streng verboten war. Die Inhaberin des „Eselsöhrchens“, die kleine, vom Alter gebeugte Frau Keckes, verkaufte sie trotzdem. Augenzwinkernd. Und alle Kinder hatten sich gefragt, ob dieses Zwinkern Ausdruck konspirativer Loyalität war oder eine nervöse Störung.

 

„Haben Sie auch Löschpapier?“, rief Blanche aufs Geratewohl in das staubige Dämmerlicht, und unter der Ladentheke tauchte ein dunkler Lockenschopf auf.

„Sie meinen einzelne Bögen?“, fragte der Mann, und Blanche dachte: „Das ist Lorenz, hundert Prozent“, und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Fast hätte sie gefragt: „Lebt denn die alte Frau Keckes nicht mehr?“, biss sich aber auf die Lippen. Offenbar erkannte er sie nicht. Und so sollte es bleiben. Außerdem erübrigte sich die Frage. Die alte Besitzerin wäre jetzt sicher weit über neunzig. Und dass Lorenz den Laden übernommen hatte, war auch irgendwie logisch. Er hatte damals die schönste Handschrift gehabt und immer eine Eins in Heftführung. Ein Schreibwarengeschäft passte zu ihm.

„Einzelne Löschpapierbögen?“, fragte Lorenz zurück. Er lächelte: „So wie früher?“

Blanche nickte mit abgewandtem Gesicht. Damals war sie ein blondes Schulmädchen gewesen und hatte Lara geheißen. Er würde sie nicht erkennen. Lorenz zog verschiedene Schubladen auf und wühlte darin herum. Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck richtete er sich schließlich auf. „Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte irgendwo noch einen alten Block mit Löschpapier. So was wird heute nicht mehr hergestellt. Löschpapier ist aus der Mode gekommen.“

Blanche zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. „Na, dann eben nicht. Schade.“ Er eilte ihr voraus und hielt die Tür auf. Tageslicht und Baustellenlärm brachen über sie herein. Geblendet kniff Blanche die Augen zusammen.

„Tschuldigung“, meinte Lorenz. „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber kenne ich Sie von irgendwoher?“

„Unmöglich“, murmelte Blanche und zog eine Sonnenbrille aus der Jackentasche.

„Ich wohne erst seit ein paar Tagen hier.“ Sie maskierte sich mit schwarzen Augengläsern und balancierte grußlos über den Brettersteg, der einen tiefen Einschnitt im Asphalt überbrückte. Lorenz wedelte mit einer resignierten Geste ein wenig Staub von dem Plastikkorb mit den Sonderangeboten. Dann schloss er hastig die Ladentür.

Im „Eselsöhrchen“ hatte Mutter Lisbeth auch den ersten Füller für ihre Tochter gekauft. Und zwar einen Pelikano. Was Mutter Lisbeth allerdings nicht wusste – die Sache mit dem Füller war eine Art Glaubensfrage. Einen blau-silbernen Pelikano hatte jeder.

Ein dunkelgrüner Geha-Füller war jedoch etwas Besonderes. Man merkte das schon daran, dass die Tintenpatronen umgekehrt hineingesteckt wurden. Außerdem bot er Synchro-Tintenführung, einen Reservetank und eine superelastische Schwingfeder. Geha war sozusagen exklusiv. Da konnte der Pelikano mit Griffrillen und sogenannter Schönschreibfeder nicht mithalten. All dies wusste Mutter nicht, und deshalb malte Blanche alias Lara in brav gerundeter Pelikano-Handschrift ihre Buchstaben ins Heft. Eva-Maria jedoch fegte schwungvoll mit einer genial nach rechts ausholenden Schrift übers Papier. Und zwar mit einem Geha.

Trotz ihrer fliehenden Handschrift war Eva-Maria der Liebling aller Lehrer. Sie war ein hübsches Kind mit heller Haut und roten Wangen. Ihre schwarzen, stets glatten Haare waren ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden und der Pony wie mit dem Lineal gezogen. Irgendjemand hatte sie mal Schneewittchen genannt, und dieser Name blieb ihr. Sie trug ihn nicht wie einen Spitznamen, sondern wie einen Ehrentitel.

Es dauerte eine Weile, bis Lara herausfand, dass es für den Pelikano-Füller verschiedene Tintenpatronen gab: Grün, Pink, Schwarz und Türkisfarben. Sie entschied sich für Türkisfarben, kaufte von ihrem Taschengeld einen Sechserpack Patronen und versteckte sie in ihrer Schreibtischschublade. Eine der kostbaren Patronen öffnete sie und ließ die Tinte in ein Glas mit Wasser tropfen, starrte in die Schlieren und Wirbel wie in Wolkenbilder oder eine fremde Schrift. Etwa von Außerirdischen. Lara versuchte, die Botschaften zu deuten und die Schriftzeichen zu lesen. Die Tinte sank auf den Boden des Glases, legte sich dort zur Ruhe. Sie schillerte wie eine gefärbte Amöbe, wie ein geschmolzener Edelstein. Hauchfeine Farbfäden stiegen auf, sanken wieder zurück, so als atme dieses Wesen im Wasser, als habe es ein eigenes Leben. Lara steckte den Finger ins Glas und störte die schlafende Tinte. Das Ergebnis war enttäuschend. Das Wasser verfärbte sich zu fadem Schwimmbad-Blau, alle geheimen Botschaften waren ausgelöscht. Lara schnupperte am Glas, fast erwartete sie einen stechenden Chlorgeruch, aber auch der Geruch war langweilig. Und trotzdem, türkisfarbene Tinte war etwas Besonderes. Die hatte nicht jeder.

Für den Geha-Füller gab es nur blaue und rote Tinte. Und Rot war verboten. Diese Farbe benutzte nur die Lehrerin.

„Weißt du, was man alles mit Löschpapier machen kann?“, hatte Eva-Maria eines Tages auf dem Nachhauseweg gefragt. „Mein Bruder hat es mir erzählt.“

Lara hatte lange darüber nachgedacht und einigen Leuten Fragen gestellt. Erst eine Woche später hatte sie die Lösung. Sie sagte zu Eva-Maria: „Ich weiß jetzt, wie es geht. Wenn du willst, zeige ich es dir.“

Kapitel 10

3. März 2009, 18 Uhr

Eins ist sicher: Ohne Hilfe werden wir aus diesem Badezimmer nicht mehr herauskommen. Fenster und Tür sind verschlossen. Meine Kräfte sind zu schwach, um die Türklinke zu bewegen, ganz zu schweigen vom Fenstergriff. Wieso war Blanche nur so leichtsinnig, Ihr Zutritt zum Bad zu gewähren? Merkte Blanche denn nicht, was Sie im Schilde führte? Wo blieb denn nur ihre unbestechliche Fähigkeit, die Gefühle ihres Gegenübers bis auf den Grund zu durchleuchten? War es eine Art von Betriebsblindheit gewesen? Ihre schönen Augen können es jedenfalls nicht gewesen sein, denn Sie, dieses durchtriebene Biest, tat so, als sei Sie blind. Ich wusste es zwar besser, aber wer hörte schon auf mich? Vielleicht spürte Blanche einen Anflug von Schuldbewusstsein? Ich sage bewusst „Anflug“, denn soweit ich Blanche kenne, hatte sie noch nie ein voll ausgebildetes Gewissen. Es bleibt jedoch ein unlösbares Rätsel, warum Blanche nackt und wehrlos in die Wanne stieg und sich ihrer Mörderin komplett auslieferte. Ja, ich brauche gar nicht erst um den heißen Brei herumzureden – auch wenn es wie ein Unfall aussehen soll, auch wenn Sie noch so unschuldig tut; es war eiskalter Mord. Ich kenne mich auf diesem Gebiet bestens aus. Als ich noch Cleopatra hieß, wäre mir ein solch grober Schnitzer jedenfalls nicht passiert. Niemals hätte ich mich einem anderen Menschen dermaßen ausgeliefert. Niemals wäre ich so dumm gewesen, mir jeden Fluchtweg abzuschneiden. Aber das passt zu Ihr. Wenn man Sie etwas länger kennt, weiß man, dass Sie ausgesprochen emotional ist und nicht besonders klug.