Buch lesen: «Wie frei wir sind, ist unsere Sache»

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Ulrich Pothast

Wie frei wir sind,

ist unsere Sache

Personeigene Freiheit

in der Welt der Naturgesetze


Wichtige sachliche Hinweise verdanke ich Christa Krüger, Tanja Rechenburg, Elisabeth Tetzeli von Rosador. Ich danke Simone Mahrenholz, Dieter Henrich, Manfred Frank, Paul Hoyningen-Huene und Dietmar Hübner für Ermutigung, anregende Gedanken und erhellende Gespräche. Besonderen Dank schulde ich meinem Verleger, Vittorio E. Klostermann, der (teils zusammen mit Martin Warny) das ganze Manuskript sorgfältig gelesen und zahlreiche Ideen zu Korrektur und Gestaltung beigetragen hat. Alle Fehler, die bleiben, sind meine.

U. P.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Originalausgabe

© 2016 · Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main

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Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISSN 1865-7095

ISBN 978-3-465-24273-4

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Einleitung

1. Wir haben als Personen eine besondere Art von Freiheit. Sie ist aber kein sicherer Besitz, sondern bleibt immer unfest

2. Die Idee personeigener Freiheit unterscheidet sich von bekannteren Freiheits- und Unfreiheitskonzepten

3. Die Reichweite personeigener Freiheit hängt ab von unserem Willen. Unseren Willen bestimmen wir jedoch nie direkt. Wir können nur versuchen, ihn indirekt zu beeinflussen

4. Über Titel und Aufbau des Buches

Erster Teil Etwas über Wollen, Wählen und freier Werden

I. Über unser Handeln verfügen wir direkt, über unser Wollen keineswegs

1. Auch wenn wir den »festen Willen« haben, etwas Bestimmtes zu tun, kann sich bis zum letzten Augenblick alles ändern

2. Der Wille ist kein innerlich auffindbarer Gegenstand

3. Wir erleben unser Wollen als uns eigen, aber wir erleben es nicht als willentlich lenkbar

4. Einladung zum Selbstversuch

II. In der Situation der Wahl müssen wir uns als freie Urheber unseres Tuns verstehen. Nach getaner Tat können wir die Dinge anders sehen

1. Notwendige Unbestimmtheit. Unsere Situation unabtretbarer Wahl

2. Unverfügbarkeit

3. Trotz Unverfügbarkeit der Willensbildung: Wir sind die Instanz, die unser Handeln wählt und ausführt

4. Das Anerkennen eigener Urheberschaft eröffnet die Möglichkeit realer Erweiterung der personeigenen Freiheit

III. Statt direkter Willensbestimmung: die Chance zur indirekten Willensorientierung

1. Der junge George Bernard Shaw

2. Indirekte Willensorientierung statt direkter Willensbestimmung: unvermeidliche Ungewissheit, emotionale Zutaten, und Glück

3. Freier Werden ohne metaphysische Heißluft

Zweiter Teil Wegweisendes Altes und gewagtes Neues

IV. Die Hoffnung auf den Königsweg: Platons Vertrauen in die Macht der Einsicht

1. Fast ein Gemeinplatz der Gegenwartsphilosophie

2. Platons Vertrauen: Niemand handelt gegen seine bessere Einsicht

3. Zweifel an Platons Vertrauen

4. Selbstüberredung und das Bedürfnis, Gründe zu haben

5. Abhängigkeit, Störbarkeit, Fehleranfälligkeit des Überlegens

6. Die bleibende Substanz von Platons Vertrauen

V. Hochfliegende Konzepte der Selbstwahl

1. Einleitende Brockenlese: Sich-Wählen in der Existenzphilosophie

2. Selbstwahl light: Harry G. Frankfurt

3. Selbstwahl als Selbstdetermination aus der Höhe: Christine M. Korsgaard

VI. Nicht Selbstwahl und nicht Königsweg: Aristoteles’ Vertrauen auf die vielen Einzelschritte

1. Freiheit zum rechten Tun erwirbt man nicht durch Wahl oder Belehrung, sondern durch vielfaches Ausüben

2. Überlegung und Emotionsmanagement

3. Indirektheit und Unfestigkeit. Unmessbarkeit des Grades beim Steigen und Fallen

4. Nachdenken mit Gewöhnung verbunden: Eine Grundhaltung von Handlungsaufschub und Überlegung

5. Eine Kultur des Überlegens ist ein Stück personeigener Freiheit

Dritter Teil Freiheit und Selbstverhältnis

VII. Der Wille und sein »Ich«

1. Peer Gynt und die Zwiebel

2. Die Leere des Programms »ich selbst sein«

3. Die Unauffindbarkeit eines Ich im inneren Raum

4. Sich-Bilden des Wollens ohne den inneren Steuermann

5. Wollen als Resultante komplexer Wechselwirkung. Unsere virtuelle Ichheit

6. Warum Peer Gynt sich nicht verwirklicht, sondern verfehlt

VIII. Der innere Kompass: Freiheit durch Selbstbesinnung bei Marc Aurel

1. Hellenistisches Wertdenken

2. Das Buch Über sich selbst

3. Schau nach innen

4. Erkunde deine letzten Stellungnahmen

5. Moderne Tragik: Besinnungsloses Weiterleben mit inneren Widersprüchen

IX. Spinoza, Nietzsche, Sartre: Freiheit durch Bewusstheit und grenzüberschreitendes Denken

1. Freiheitsgewinn durch Emotionserkenntnis: Spinoza

2. Besinne dich auf deine Geschichte und gewinne Leitung und Halt aus ihr: Nietzsche

3. Freier durch freieres Denken: Sartre

Schluss: Personeigene Freiheit und der Schuldgedanke

1. Raskolnikow

2. Der Mörder vor dem Verteidiger des Status quo

3. Der Fall Raskolnikow verweist auf ein Menschheitsdilemma

4. Auch in einer Welt der Naturgesetze gibt es die Basis für eine faire Rechenschaftserwartung gegenüber dem Täter. Sie führt jedoch auf andere Formen des Verantwortlich-Machens, als wir sie gegenwärtig finden

5. Das Sühnen einer Untat durch Dulden ähnlich schweren Leides macht nichts besser und führt zu unfairer Verteilung wichtiger Lebensgüter

6. Den Schuldgedanken anders denken: Schuld ist geschuldete Lebensänderung

7. Lebensänderungsschuld: Das Strafrecht hat voraussehbare Einwände

8. Lebensänderungsschuld: Die Hauptleistung muss vom Täter kommen

Literatur

Personenregister

Sachregister

Buchempfehlungen

Fußnoten

Life is a public performance on the violin, in which

you must learn the instrument as you go along.

Edward Morgan Forster

Einleitung

1. Wir haben als Personen eine besondere Art von Freiheit. Sie ist aber kein sicherer Besitz, sondern bleibt immer unfest

In den letzten Jahrzehnten gab es – wieder einmal – eine aufgeregte Debatte um die Fragen: Sind wir frei? und: Wenn ja, in welchem Sinn genau, und was folgt daraus? Seit der Spätantike ziehen sich wiederkehrende, oft mit großer Erbitterung geführte Kämpfe um diese Fragen durch die Jahrhunderte. Traditionell stehen auf einer Seite Verfechter einer natur- oder gottgegebenen menschlichen Freiheit, auf der anderen Seite Vertreter einer natur- oder gottgegebenen menschlichen Unfreiheit, seit einiger Zeit auch mit dem Wort »Determinismus« verbunden. Dass dieser Streit nicht aufhört, wurde auch schon als Skandal bezeichnet, und es wurde gefordert, über diese Dinge nicht mehr zu reden.1 Das hat natürlich nicht geholfen. Denn wir haben als Menschen ein elementares Interesse an den genannten Fragen, unter anderem, weil sie eng mit dem Problem unserer Verantwortung für eigene Taten zusammenhängen. Ich werde nun nicht versuchen, den sehr alten Streit zu Ende zu bringen, indem ich der einen oder anderen Seite zum Sieg verhelfe. Das ist schon unabsehbar oft versucht worden und nie gelungen. Man kann auch vermuten, dass der Streit bis auf weiteres gar nicht zu Ende kommen kann, weil er auf einander widersprechenden, jedoch gleichermaßen unleugbaren Erfahrungen in unserem Verhältnis zur Welt und zu uns selbst beruht. Dieser Konflikt ist durch bloße Theorie offenbar nicht aufzulösen.2 Statt nach Freiheit oder Unfreiheit als dauerhaften Eigenschaften zu fragen, die uns von Natur aus unveränderlich zukommen, werde ich eine Errungenschaft kultureller Entwicklung betrachten, die uns auszeichnen kann, sofern wir Personen sind. Auch dafür kann das Wort »Freiheit« verwendet werden. Es bezeichnet dann allerdings nichts Natur- oder Gottgegebenes, sondern eine veränderliche, unfeste Eigenschaft.

Der junge Arzt Lydgate in George Eliots Roman Middlemarch3 ist ehrgeizig, sozial engagiert und will sich auch als Forscher bewähren. Er sieht ein, dass er bei solchen Absichten vorerst weder Zeit noch Geld für eine Ehe hat, und beschließt, in den nächsten fünf Jahren keinesfalls zu heiraten. Nur wenige Wochen später kann er dem Reiz der schönen, ihn liebenden Rosamond und ihren Tränen über sein distanziertes Benehmen nicht widerstehen. Er weicht von seinem Vorhaben ab, es kommt zu Heirat. Die Ehe leidet von Beginn an unter Geldmangel. Denn Lydgate gibt seinen wie Rosamonds Ansprüchen auf teure Haushaltung nach, wider bessere Erkenntnis und besseren Vorsatz. Am Ende vor dem Bankrott stehend, leiht er sich Geld von einem zwielichtigen Bankier und gerät in den Skandal um Machenschaften dieses Geldgebers. In der Kleinstadt Middlemarch könnte er sich als Arzt nur noch halten, wenn es einen Neuanfang mit viel Arbeit und sparsamster Lebenshaltung gäbe. Ein sehr offenes Gespräch mit Rosamond wäre dafür eine unverzichtbare Vorbedingung. Nach mehreren, erfolglos endenden Anläufen hierzu kann Lydgate auch die letzte, alles entscheidende Gelegenheit nicht nutzen. Er bricht den begonnenen Versuch, zu dem er schon die Lippen geöffnet hat, in Bitterkeit ab. Die Eheleute, vom Leben und voneinander tief enttäuscht, verlassen Middlemarch. Seine Forschungspläne und sozialen Projekte gibt Lydgate auf.

Vermutlich haben wir alle schon einmal in einer konkreten Lebenslage anders gehandelt, als wir es im Vorfeld bei beruhigter Überlegung für richtig hielten und von uns erwarteten. Wir sind dann vielleicht einem in der Situation auf uns eindringenden Anreiz gefolgt, haben einer Drohung nachgegeben, sind der eigenen Begierde erlegen oder ähnlich. In jedem Fall waren wir in unserem faktischen Tun nicht so, wie wir in zeitübergreifender Perspektive sein wollten. In einem bestimmten Sinn waren wir zum Handlungszeitpunkt unfrei. Denn unter irgendeinem Einfluss, den wir vielleicht nicht einmal als Einfluss erkannten, blieben wir nicht im Einklang mit uns selbst. Wir waren in unserem konkreten Handeln nicht die Person, als die wir uns zuvor gesehen hatten und meist auch im Nachhinein gern weiter gesehen hätten.

Lydgate zeigt sich in mehreren Situationen als ein solcher Mensch. In diesen Zeitabschnitten wirkt er wie in sich zerrissen. Eigenen, »festen« Vorsätzen stehen Gefühle und Bedürfnisse entgegen, die sich im kritischen Moment impulsiv geltend machen, so dass er vielfach nicht handeln kann, wie er es zuvor entworfen, mehrfach auch »beschlossen« hat. Wir können sagen, er ist zu solchen Zeiten in dem eben angesprochenen Sinn unfrei. »Frei« hingegen können wir in diesem Verständnis eine Person nennen, wenn und solange sie es vermag, ihren Vorstellungen vom richtigen eigenen Handeln in eben den Lebenslagen, in denen solches Handeln gefordert ist, nachzukommen.

Diese Art Freiheit kommt in unserer Welt nur bei Personen vor, Wesen, die ein wünschendes, denkendes, Handlungen entwerfendes Verhältnis zu sich selbst haben. Wegen der Bindung an die personale Lebensform, und weil diese Freiheit von Person zu Person ganz verschieden ausgeprägt ist, nenne ich sie »personeigene Freiheit«. Ihre Idee unterscheidet sich von der großen Mehrzahl der Freiheitsbegriffe, die in Umlauf sind, unter anderem durch folgende Merkmale: Die Möglichkeit, in diesem Sinn frei zu sein, gehört zum Leben als Person, aber nicht alle Personen besitzen diese Freiheit in gleichem Maß und in gleicher Weise. Vielmehr hat sie bei jeder Person eine andere Ausdehnung, andere Beständigkeit und andere Schwerpunkte. Überdies ändern sich ihre Stärke und Reichweite bei jeder Einzelperson im Lauf des Lebens. Ferner hat jeder Mensch die Möglichkeit, Erstreckung und Festigkeit seiner personeigenen Freiheit zu beeinflussen. Wir können versuchen, ihre Reichweite zu vergrößern, zu verteidigen, nach Freiheitsverlusten wieder herzustellen. Ob wir es bemerken oder nicht: Die je personeigene Freiheit gehört mit der stillschweigenden Sorge um sie und Anstrengungen für sie zu den unausgesprochenen Lebensthemen jeder personalen Existenz.

Die personeigene Freiheit ist charakteristisch unfest. Sie ist kein stabiler, naturgegebener Besitz des Menschen schlechthin, sondern ein Feld individueller Möglichkeiten von Entwicklung, Erhaltung, Verfall. Unsere Aufmerksamkeit in Sachen unseres Handelns gilt gewöhnlich der Frage, wie wir handeln sollen. Unser Handeln, das kann als anerkannt gelten, ist unsere Sache. Was wir weniger oft beachten, ist, dass auch unsere personeigene Freiheit unsere Sache ist. Verlässslichkeit, Schwerpunkte und Ausdehnung dieser Freiheit obliegen zu hohem Anteil unserer eigenen Anstrengung, sind Gegenstand unserer Lebensarbeit als ständig sich erneuernder Bemühung um die Intaktheit des eigenen Selbst und die Richtigkeit seiner Taten. In der Realität eigenen Tuns bei Vorstellungen und Vorsätzen bleiben zu können, die wir uns in beruhigter, situationsunabhängiger Überlegung für unser Handeln gemacht haben, kann in hohem Maß zum Gegenstand individueller Anstrengung und Befriedigung werden. Im negativen Fall jedoch ist es auch häufig Anlass für Bedrückung und Selbstverachtung. Es erscheint verständlich, dass die Bedrohung dieser Freiheit durch unberechenbar auf uns eindringende Impulse geradewegs als Bedrohung der persönlichen Intaktheit erlebt werden kann.

Der Begriff personeigener Freiheit, wie er hier vorgestellt wurde, mag ungewohnt und fremd erscheinen. Faktisch ist etwas Verwandtes jedoch in der Philosophie des letzten Jahrhunderts diskutiert, nur anders beschrieben und philosophisch anders gedeutet worden.4 Auf Verdienste und Mängel dieser Position werden wir zurückkommen.

Weil personeigene Freiheit immer unfest bleibt und stets Gegenstand individueller Selbstsorge ist, steht ihr Konzept in markantem Kontrast zu wesentlich bekannteren Formen von Freiheit, die bei menschlichem Handeln vermutet bzw. unterstellt werden. Es steht auch im Gegensatz zu Theorien, die eine relevante Freiheit des Menschen durchgängig leugnen. Gegen beide Weisen der Menschendeutung, sowohl die Behauptung, wir besäßen eine feste, letztlich unzerstörbare Freiheit, als auch die konträre Behauptung, wir seien ein für alle Mal unfrei und fremdbestimmt, ist personeigene Freiheit abzusetzen. Dies soll zum besseren Verständnis des Kommenden zunächst in knapper Form geschehen.

2. Die Idee personeigener Freiheit unterscheidet sich von bekannteren Freiheits- und Unfreiheitskonzepten

Als stabile, gewöhnlich allen Menschen gleichermaßen zugeschriebene, dauerhafte Auszeichnung ist aus dem großen Bedeutungsspektrum des Wortes »Freiheit« vor allem die »Freiheit des Willens« oder »Willensfreiheit« bekannt. Mit der herkömmlichen Gebrauchsweise dieser Wörter verbindet sich der Gedanke einer unverlierbaren Ausnahmestellung des vernünftigen Menschen im Universum der Lebewesen. Zu der traditionellen Idee der Willensfreiheit, wie wir sie in klassischer Form mit unterschiedlichen Begründungen etwa bei Descartes und Kant finden sowie mit neueren Theorien noch bei manchen Heutigen, gehören zwei Behauptungen: 1. Die Willensbestimmung menschlicher Personen erfolgt nicht durch Zufall oder Fremdeinwirkung, sondern Personen bestimmen ihren Willen unmittelbar selbst. 2. Bei der Bestimmung ihres eigenen Willens sind Personen unabhängig von Faktoren, die nicht ihrer Kontrolle unterliegen.

Weil diese Behauptungen schwer zu beweisen sind, nennen wir in der Philosophie die These der Willensfreiheit eine besonders »starke« Behauptung. Sie ist auch eine metaphysische Behauptung in dem Sinn, dass sie zwar etwas über die Welt sagt, aber durch Erfahrungswissenschaft nicht bewiesen werden kann. Faktoren, die nach diesem starken Konzept keinerlei Einfluss auf die Willensbestimmung eines menschlichen Individuums haben sollen, sind zum Beispiel alle Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten der Welt einschließlich seiner eigenen Geschichte, ja seines eigenen Körpers und Gehirns. Über Anreize beliebiger Art, sie mögen so stark sein wie sie wollen, kann sich die willensfreie Person kraft dieser Willensfreiheit im Prinzip immer hinwegsetzen. Die Form von Verantwortlichkeit, die sich einer solchen Freiheit zuordnen lässt, wird von Vertretern dieser Denkweise ebenfalls als besonders stark, d. h. besonders weitreichend, ja manchmal »absolut« dargestellt. Kritiker hingegen sprechen dieser absoluten oder auch »letzten« Verantwortlichkeit die Rechtfertigungsbasis ab, indem sie die Möglichkeit der schlechthin freien Willensbestimmung bestreiten. Der berühmteste Kritiker in dieser Sache ist wohl Friedrich Nietzsche. Aber schon lange vor ihm wie nach ihm bis zur Gegenwart finden sich entschiedene Gegner dieser Denkweise. Ich nehme an, es handelt es sich bei dieser starken Idee von Freiheit nicht um eine quasi natürliche Vorstellung des Menschen von sich selbst, sondern um eine lokale Spezialität der westlichen Philosophiegeschichte seit der Spätantike. In der klassischen Zeit der griechischen Philosophie, etwa bei Platon und Aristoteles, kommen Ausdrücke, die sich wörtlich mit »Willensfreiheit« oder »Freier Wille« übersetzen ließen, noch nicht vor.1 So weit ich sehe, kennen auch andere Kulturkreise diese Vorstellungen in der radikalen Ausprägung, in der wir sie im Westen finden, nicht oder allenfalls am Rande.

Zu der genannten Vielfalt von Freiheitskonzepten gehören auch weniger weitreichende, d. h. schwächere Gebrauchsweisen des Wortes »Willensfreiheit«, die mit bescheideneren Voraussetzungen auskommen und zu vorsichtigeren Ideen von Verantwortlichkeit führen.2 Da es hier nicht um das Zeichnen einer Begriffslandschaft gehen soll, bleiben sie zurückgestellt. Ebenso im Hintergrund bleibt das ausladende akademische Für und Wider, das sich bislang an jede Form von Freiheit anschloss, deren Konzept mit dem Anspruch auftrat, etwas Entscheidendes am Menschsein zu treffen.

Erwähnt werden muss hingegen die Behauptung einer durchgängigen Vorherbestimmtheit menschlichen Lebens und aller Ereignisse dieser Welt. In der Sache ist sekundär, ob hierbei die bestimmenden Faktoren vorgestellt werden als Gesetze des Weltlaufs in Verbindung mit bestimmten Anfangsbedingungen (auch solchen des individuellen Gehirns), oder als göttliche Setzungen, als unbeugsames Schicksal oder noch anderes. In der Neuzeit verbindet sich der Gedanke universeller Vorherbestimmung oft mit Wörtern wie »determiniert« und »Determinismus«. Die Idee allgemeiner Vorherbestimmung steht vielen jener Freiheitskonzepte schroff entgegen. Ähnlich wie bei der Willensfreiheit handelt es sich auch hier um eine besonders starke These, eine Extremposition, die durch Erfahrungswissenschaft nicht zu beweisen ist und in diesem Sinn ebenfalls »metaphysisch« genannt werden kann. Nach deterministischer Auffassung gehen alle menschlichen Entscheidungen und Handlungen aus vorausliegenden und/oder gleichzeitigen Bedingungen notwendig hervor. Sie gelten demnach als vollständig bestimmt oder »determiniert« durch diese Bedingungen. Menschliches Handeln ist danach letztlich bestimmt durch personfremde Elemente. Radikale Vertreter dieser Denkweise lehnen die Verwendung des Prädikats »frei« im Hinblick auf die Entstehung menschlichen Handelns durchweg ab. Diese radikalen Denker, traditionell »harte Deterministen« genannt, halten es auch für ungerechtfertigt, irgendwem für sein Handeln Vorwürfe zu machen, geschweige denn Strafen dafür zu verhängen.3 Denn ihres Erachtens fehlt wegen der Abwesenheit des »freien Willens« eine entscheidende Voraussetzung für persönliche Verantwortlichkeit.

Zwischen den beiden genannten Extrempositionen, irgendwo im mittleren Bereich des erwähnten Spektrums von Freiheits- bzw. Unfreiheitskonzepten, ist die »Freiheit des Handelns« angesiedelt. Das ist die Freiheit zu tun, was wir wollen. Haben wir einmal ein bestimmtes Wollen ausgebildet, und hindert uns nichts am Ausführen der gewollten Handlung, dann können wir diese Handlung auch tun. Die Freiheit des Handelns ist mit einer möglichen Vorausbestimmung unseres Wollens durch eventuell wirksame, determinierende Faktoren vereinbar. Denn ganz gleich, wie unser Wollen zustande kommen mag: Wenn wir wollen und nichts der Ausführung unüberwindlich entgegensteht, können wir auch tun, was wir wollen. In der Frage der Verantwortlichkeit für eigene Taten führt die Freiheit des Handelns zwar auf eine schwächere Form als die Freiheit des Willens. Typische Vertreter dieser Denkweise sehen gleichwohl in der Regel unsere existierende Praxis von Verantwortlichkeit und Bestrafung im Grundsatz als berechtigt an. Weil diese Vertreter Freiheit des Handelns plus Verantwortlichkeit plus Strafpraxis auf der einen Seite, Determinismus bzw. Vorherbestimmung auf der anderen Seite grundsätzlich für vereinbar oder kompatibel halten, wird ihre Position weithin als »Kompatibilismus« bezeichnet. Dafür gibt es wieder eine Mehrzahl von Varianten, die wir nicht einzeln betrachten müssen.

Im Kompatibilismus wird die Freiheit des Handelns unter Normalbedingungen ebenfalls als feste Eigenschaft des Menschen angenommen. Dass wir »unter Normalbedingungen« Handlungsfreiheit besitzen, soll heißen: Wenn uns nichts an einem gewollten Tun erkennbar hindert oder uns erkennbar unüberwindlich zwingt, können wir handeln, wie wir wollen. Personeigene Freiheit, wie ich sie hier ins Auge fasse, ist hingegen nicht schon mit der Handlungsfähigkeit gegeben. Sie betrifft vielmehr darüber hinaus das Verhältnis zwischen der Vorstellung einer Person darüber, wie das eigene Tun nach eigenem Für-richtig-Halten sein soll, und faktischem Handeln in konkreten Lebenslagen. Von den Kämpfen um personale Intaktheit im Sinn des Zusammenstimmens beider Bereiche, von Siegen und Niederlagen auf diesem Feld, von Mitteln, die in solchen Kämpfen zum Einsatz kommen können, wissen die Theorien fester Freiheiten nichts. Wer »menschliche Freiheit« für ein unzerstörbares, duch pures Menschsein uns immer schon gegebenes Merkmal hält4, denkt über solche Kämpfe in der Regel nicht nach. Insbesondere die uns zur Verfügung stehenden Mittel zur Bewahrung oder Erweiterung personeigener Freiheit, auch zum Heilen erlittener Verletzungen, scheinen gegenwärtig ein weitgehend vernachlässigtes philosophisches Feld zu sein.

Eine Merkwürdigkeit soll noch erwähnt werden: Während viele Autoren meinten und nicht mehr ganz so viele noch meinen, die Willensfreiheit komme den Menschen als fester, unverlierbarer Besitz zu, stimmen doch alle darin überein, dass etwa die politische Freiheit, die uns ebenfalls sehr wichtig ist, keineswegs als unverlierbarer Besitz betrachtet werden kann. Für die politische Freiheit scheinen alle einzusehen, dass ihr Erwerb Gegenstand leidenschaftlicher Kämpfe sein kann und oft gewesen ist, und dass diese Freiheit, wenn einmal etabliert, durch Wachsamkeit und tätige Anstrengung bewahrt werden muss. Es dürfte auch allgemein eingeräumt werden, dass politische Freiheit verlorengehen kann. Auch dürfte anerkannt sein, dass es eine Vielfalt von Weisen der inneren Aushöhlung politischer Freiheit gibt. Bei solcher Aushöhlung werden die bloßen Formen politisch freier Praxis nur noch als Rituale ausgeübt, während Freiheit in der Substanz schon aufgehört hat zu existieren. Dass vieles hiervon kraft elementarer Bedingungen menschlichen Lebens und Handelns auch für die unfeste, personeigene Freiheit gilt, die uns als selbstbewussten Individuen aufgegeben ist, erscheint deutlich. Die manifesten strukturellen Unterschiede, die zwischen politischer Freiheit und personeigener Freiheit auch bestehen, tangieren den Gedanken dieser Verwandtschaft nur am Rande. Historisch und bis heute war allerdings die verführerische Vorstellung einer durch pures Menschsein schon verbürgten, angeblich unverlierbaren, festen »menschlichen Freiheit« stärker. In der Geschichte westlichen Denkens seit der Spätantike wurde sie oft metaphysisch gedeutet und dann als quasi unantastbare Freiheit des Willens in herausgehobener theoretischer Rolle verwendet – zum Schaden der Glaubwürdigkeit großer Philosophien und daran anknüpfender Rechtssysteme.