Akupunktur und TCM verstehen

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Akupunktur und TCM verstehen
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Vorwort

Dieser Ratgeber soll dem Leser einen Einblick in die Theorie und Praxis der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) geben und ein prinzipielles Verständnis für die im Rahmen der TCM angewandten diagnostischen und therapeutischen Methoden schaffen.

Im Laufe meiner ärztlichen Tätigkeit haben mich unzählige Patienten gefragt, was denn bei der Akupunktur eigentlich passiert, warum ich gerade diesen Akupunkturpunkt ausgewählt habe, was die Kräuter, die ich verordnet habe, für eine Wirkung haben, und vieles andere mehr. Auf manche dieser Fragen konnte ich während der Behandlung eine befriedigende Antwort geben, andere sind einfach zu komplex, um sie in angemessener Zeit zu beantworten. Daher habe ich nun ein schon seit langem geplantes Projekt in Angriff genommen und diesen Ratgeber verfasst, der so kurz wie möglich und so ausführlich wie nötig die wichtigsten Themen erklären und die am häufigsten gestellten Fragen beantworten soll, die Patienten im Bezug auf Akupunktur und TCM stellen.

Vorausschicken möchte ich an dieser Stelle, dass es sich bei der Traditionellen Chinesischen Medizin um eine Erfahrungsheilkunde handelt, die sich über viele Jahrhunderte hinweg in Ostasien entwickelt hat, ehe sie von westlichen Medizinern entdeckt und angewendet wurde. Sie verbindet auf höchst interessante Weise handfeste medizinische Diagnostik und Therapie mit philosophischen Traditionen Asiens, teilweise unter Einbeziehung recht antiker Vorstellungen. Die Interpretation dieser sehr ausführlichen und umfassenden Heilkunde erlaubt daher einen gewissen Spielraum, der von den Anwendern genutzt werden kann, um die TCM in Theorie und Praxis mit den eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen.

Manche Therapeuten übernehmen das alte chinesische Weltbild komplett und richten sich nahezu wörtlich nach den ins Deutsche oder andere europäische Sprachen übersetzten Anweisungen der alten Schriften. Andere wiederum lassen nur das gelten, was nach westlich-wissenschaftlichen Kriterien nachgewiesen ist. Und so ist auch dieser Ratgeber ein Abbild meiner persönlichen Sicht, die sich über viele Jahre hinweg beim Studium der TCM und ihrem Vergleich mit der westlichen Medizin sowie bei der Anwendung im Alltag meiner Praxis herausgebildet hat. Viele Impulse erhalte ich auch aus Diskussionen mit Ärzten in meinen Seminaren und mit anderen TCM-Dozenten und Anwendern.

Die Erklärungen in diesem Ratgeber erheben selbstverständlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel ist es vielmehr, ein grundlegendes Verständnis für die zentralen Themen der TCM zu schaffen. Die Auswahl der Schwerpunkte und die Interpretation der Inhalte der TCM spiegeln die Präferenzen und das Verständnis des Verfassers und stellen abweichende Ansichten nicht in Frage.

Einleitung

Galt die Akupunktur zu Beginn meiner Tätigkeit in den frühen 80-er Jahren noch als ausgesprochen exotische Therapieform, so ist sie heute aus der Medizinlandschaft in Deutschland (und der gesamten westlichen Welt) nicht mehr wegzudenken. Besonders die, wenn auch eingeschränkte, Akzeptanz der Krankenkassen hat der Akupunktur zu einer nachhaltigen Verbreitung unter der Ärzteschaft verholfen. Kaum eine geburtshilfliche Abteilung einer deutschen Klinik arbeitet heute noch ohne die nachweislich geburtserleichternden Wirkungen der Nadelung, in der Orthopädie fällt der Akupunktur eine selbstverständliche Rolle im Praxisalltag zu, und viele Allgemeinmediziner, Augenärzte, Gynäkologen, Schmerztherapeuten, ja sogar Kinderärzte und Zahnärzte vertrauen heute auf die zuverlässige Wirkung einer fachgerechten Akupunktur. Und auch die TCM als das der Akupunktur übergeordnete Medizinsystem findet zunehmend Anklang. In kaum einer größeren Stadt in Deutschland fehlt heute ein TCM-Arzt, viele niedergelassene Kollegen auch auf dem Land haben eine entsprechende Ausbildung absolviert, und es gibt einige rein auf die TCM spezialisierte Kliniken.

Galt vor Jahren die Akupunktur noch als „letztes Mittel“, wenn alle anderen Methoden versagt haben, so wissen heute viele Menschen die nebenwirkungsarme und nachhaltige Wirkung von Akupunktur, Kräutern oder der TCM-Diätetik bei praktisch jeder Art von akuten oder chronischen Beschwerden und Krankheiten zu schätzen. Auch die Erkenntnis, dass eine gute Medizin den gesamten Menschen mit all seinen körperlichen und psychischen Beschwerden im Blick haben sollte, hat zu einer zunehmenden Inanspruchnahme von Leistungen der TCM geführt. In der Erforschung der Wirkmechanismen besonders der Akupunktur sind in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht worden, viele Studien weltweit stützen die Erkenntnis, dass die Methoden der TCM weit über Placeboeffekte hinaus wirksam sind.

Neben der unverzichtbaren Rolle der westlichen Medizin in Diagnostik und Therapie haben sich so Akupunktur und TCM ihren festen Platz in unserem Medizinspektrum erobert. Sie bieten bei vielen Erkrankungen eine zusätzliche Therapieoption, oft aber auch eine eigenständige Alternative, und mit Sicherheit sind sie eine sinnvolle Bereicherung unserer ärztlichen Möglichkeiten, ein weiteres wirksames Werkzeug im Kampf gegen Krankheiten aller Art.

Warum überhaupt TCM?

Bei der Qualität und Vielfalt der modernen westlichen Medizin fragt sich mancher: Warum überhaupt TCM? Hat die westliche Medizin denn nicht alle Mittel, Krankheiten zu lindern oder zu heilen?

Die westliche Medizin hat vor allem bei der Behandlung von akuten, schweren Krankheiten und Verletzungen in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Fortschritte gemacht. Die erfolgreiche Therapie von Herzinfarkten, schweren Infektionskrankheiten oder Unfallfolgen zeigt die absolute Dominanz der westlichen Medizin in diesem Bereich. Auch schwere chronische Krankheiten wie Diabetes oder Asthma können heute in den allermeisten Fällen ohne hochwirksame westliche Medikamente nicht wirklich effektiv behandelt werden.

Dem gegenüber stehen jedoch Krankheiten und Beschwerden, denen mit dem Skalpell oder mit Tabletten nur schwer beizukommen ist. Hierzu gehören beispielsweise Kopfschmerzen und Migräne, Schlafstörungen, Allergien, Infektanfälligkeit oder Erschöpfungszustände. Bei solchen Beschwerden ist es auf Dauer nicht sinnvoll, die Symptome durch stark wirksame Medikamente zu unterdrücken, sondern der Organismus sollte in die Lage versetzt werden, auch ohne Medizin wieder normal zu funktionieren.

Auch bei akuten Erkrankungen wie frischen Erkältungsinfekten kann eine rechtzeitige Akupunktur die Symptome schnell und ohne wesentliche Nebenwirkungen lindern. Schmerzerkrankungen, ob akut oder chronisch, sprechen in den allermeisten Fällen sehr gut auf Akupunktur und TCM an, dasselbe gilt beispielsweise für die Reizblase oder den Reizdarm. Chronische Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson können begleitend zur westlichen Therapie mit TCM behandelt werden, was sowohl die Symptome als auch das Allgemeinbefinden oft deutlich bessern kann.

Auch Stressfolgen wie Nervosität, Anspannung, Magenbeschwerden, Bluthochdruck durch Stress oder stressabhängige Hauterkrankungen sprechen gut auf TCM-Methoden an, dasselbe gilt für das Burnout-Syndrom.

Hier und bei vielen anderen Krankheiten (siehe Liste S. 64) kann die TCM gut und vor allem auch nachhaltig wirken. Der Vorteil liegt schon im Behandlungsprinzip: Während beispielsweise die Einnahme von Schmerzmitteln bei Migräne eine steuernde Therapie darstellt, handelt es sich bei einer Akupunktur um eine regelnde Behandlung, beides sind Begriffe aus der Kybernetik.

Bei einer Steuerung wird zwar der Organismus sicher in eine bestimmte Richtung gelenkt, im Beispiel wäre das eine Reduzierung der Kopfschmerzen. Dies wird aber erkauft durch das regelmäßige Auftreten von Nebenwirkungen, hier etwa Magenschmerzen oder Nierenschädigung.

Bei einer Regulation dagegen werden wiederholt Reize gesetzt, die den Körper veranlassen, mit einer Reizantwort zu reagieren, im Beispiel ebenfalls mit einer Besserung der Kopfschmerzen. Da der Organismus hier aber nicht in eine bestimmte Richtung „gedrängt“ wird, sondern eigene Regelkreise zur Heilung aktivieren kann, ist der Therapieerfolg zwar nicht immer garantiert, kann aber ohne gravierende Nebenwirkungen erzielt werden und noch lange nach Beendigung der Therapie anhalten.

Ein weiteres Charakteristikum der TCM liegt in der Möglichkeit, komplexe Krankheitsbilder in ihrem Zusammenhang zu erfassen und zu behandeln. Hier kann der westlichen Medizin mit ihrer zunehmenden Spezialisierung und ihrer Tendenz, jedes Symptom mit einem eigenen Medikament zu behandeln, mit einem wirksamen Gegenmodell begegnet werden: Die Grundlage einer korrekten TCM-Diagnostik und -Therapie ist eine ganzheitlich orientierte Betrachtungsweise, in der alle körperlichen und psychischen Krankheiten und Beschwerden eines Patienten beachtet und ins Gesamtbild integriert werden. Als regulativ wirksames und ganzheitlich orientiertes Medizinsystem bildet die TCM in der Hand des erfahrenen Arztes ein hochwirksames Instrument, das in der Praxis die westliche Medizin auf perfekte Weise ergänzt und in manchen Fällen auch ersetzen kann.

Kurzer Abriss der geschichtlichen Entwicklung

Noch ist nicht geklärt, was die Vorfahren der Chinesen dazu gebracht hat, Nadeln aus Knochen, Horn oder sogar Stein in den Körper von Kranken zu stechen, um damit Krankheiten zu heilen. Man hat solche Nadeln aus einer Zeit vor bis zu 5000 Jahren gefunden, die regelmäßige Anwendung ist etwa aus der Zeit um 200 v. Chr. dokumentiert.

 

Auch die Anwendung von getrocknetem, glühendem Beifußkraut zur Erwärmung bestimmter Körperareale (Moxibustion) ist aus dieser Zeit beschrieben. Und die alten Chinesen kannten auch schon die Anwendung von medizinischen Heilkräutern und bedienten sich krankheitsvorbeugender Techniken mit diätetischen Vorschriften und Bewegungsübungen.

In den letzten drei Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung entwickelte sich die „Medizin der systematischen Entsprechungen“, eine Vorform der heutigen TCM. Grundlegende Prinzipien dieser Heilkunde wie die Organlehre (zang fu) kamen aus dem medizinischen Kontext, andere wie die Ordnungsprinzipien von Yin – Yang oder den 5 Wandlungsphasen entstammten Philosophenschulen, die konfuzianische und taoistische Elemente vereinten. In den darauf folgenden Jahrhunderten wurden die grundlegenden Ideen der TCM verfeinert. Auf den Gebieten der Arzneimittelkunde, der Akupunktur, der Moxibustion, der Diätetik, der manuellen Techniken und der Bewegungsübungen fanden bedeutende Weiterentwicklungen statt. Ab der Ming-Dynastie im 14. und 15. Jahrhundert fand schließlich eine zunehmende Spezialisierung in Fachgebiete statt wie Traumatologie, Gynäkologie oder Pädiatrie, und es entstand eine systematische Übersicht der Arzneimittel.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ermöglichte der zunehmende Handel zwischen Europa und Ostasien auch einen medizinischen Austausch. Erste Beschreibungen jesuitischer Mönche brachten die Kunde von der chinesischen Medizin zunächst aus Japan nach Europa. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drang in der Folge der Opiumkriege westliche Technik und Wissenschaft immer stärker in den Alltag vor allem der städtischen Bevölkerung Chinas ein. Die traditionelle Heilkunde verlor mehr und mehr Anhänger und wurde erst unter Mao Tse Tung als kostengünstige Alternative zur westlichen Medizin wieder gefördert.

Mittlerweile hat sich die TCM als „Naturheilkunde“ neben der westlichen Medizin in China wieder ihren festen Platz erobert. Viele große und kleine Kliniken haben eine TCM-Abteilung, die Patienten wechseln ganz selbstverständlich von der westlichen Medizin in die TCM und wieder zurück. Die Universitäten bieten TCM-Weiterbildungen für chinesische Ärzte an, die auch von ausländischen Ärzten aus der ganzen Welt besucht werden.

In Deutschland engagieren sich seit den 1950er Jahren ärztliche Organisationen für die Lehre und Verbreitung von Akupunktur und TCM und organisieren Weiterbildungslehrgänge für interessierte Ärzte hierzulande und auch in China. Seit Ende der 90er Jahre bieten verschiedene Universitäten in Deutschland Weiterbildungen in Akupunktur und TCM an. Die Ärztekammern vergeben seit 2010 die Zusatzbezeichnung Akupunktur nach einer Weiterbildungszeit von 200 Stunden. TCM-Ausbildungen in Deutschland umfassen 360 Stunden (B-Diplom) oder z. B. mehr als 760 Stunden (Deutsche Wissenschaftliche Gesellschaft für Traditionelle Chinesische Medizin).

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