Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten

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Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten
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Ulrich Karger

Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten

Moderne Märchen und Parabeln

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Buch

Zum Inhalt

Vom Uhrsprung

Der Eine, der Andere

Die Gürtelschnalle

Das Haus in der Mauergasse

Das Bankgeheimnis

Der lächelnde Prinz

Zwischenbericht

Seltsames Volk

Weisheit letzter Schluss

Nachwort

Quellennachweise

Neugierig geworden?

Kirkes Ratschläge an Odysseus*

Edition Gegenwind

Impressum neobooks

Zum Buch

Gewidmet meinen beiden Märchenfeen

Regina und Marion,

die immer für eine Überraschung gut sind

Mit „Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten“ startete 2010 die Edition Gegenwind – der Titel liegt mit dieser Veröffentlichung nun als leicht überarbeitete und um Fotoillustrationen ergänzte Neuausgabe vor. Vier der neun hier vorgestellten Geschichten, darunter die Titelgeschichte, waren Beiträge in den mit über 100.000 verkauften Exemplaren sehr auflagenstarken Märchen-Anthologien des Hamburger Metta-Kinau Verlages, zwei sind auch noch Teil der Romancollage „Verquer“ und die verbleibenden drei wurden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Homepage-Seite zum Buch: ulrich-karger.de/uk-vom-uhrsprung.htm

Edition Gegenwind

Reihe Belletristik

Neuausgabe

Zum Inhalt

 Vom Uhrsprung erzählt von der riskanten, einstmals aber noch heilbaren Wissenschaft des Zeitmessens

 Der Eine, der Andere verstehen sich gar nicht, kommen aber zu einem gemeinsamen Ergebnis

 Die Gürtelschnalle ist der Anfang von einem grausamen Ende

 Das Haus in der Mauergasse bietet billigen Wohnraum, der nur mit Mühe wieder zu verlassen ist

 Das Bankgeheimnis lüftet sich in einem dunklen Wald

 Der lächelnde Prinz will sein wahres Gesicht wiederhaben

 Zwischenbericht den kaum einer wahrhaben will

 Seltsames Volk zu beobachten lässt einen sich über gar nichts mehr wundern, macht aber einsam

 Weisheit letzter Schluss verspricht am Ende nur das Beste

 Nachwort

 Quellennachweise

Vom Uhrsprung


Es war einmal ein Land, das weder Jahre noch Sekunden kannte. Dieses Land wurde von einem Königspaar regiert, aber das störte eigentlich niemanden, denn we­der der König noch die Königin machten sich Gedanken darüber, wann sie ih­ren Amtsgeschäften nachgehen oder wann sie Urlaub machen sollten. Wie ihr Volk lebten sie in den Tag hinein, und wenn sie um einen Rat gefragt wurden, antworte­ten sie nur „Komm nach dem Essen wieder“ oder „Komm, nachdem wir geschlafen haben“.

Allerdings wussten weder das Königspaar noch die Ratsuchenden, wann das nun sein würde. Die Leute fanden dann meistens ihre eigene Lösung, nachdem sie selbst in Ruhe ge­gessen oder ihre Frage überschlafen hatten.

Und solange niemand klagte, waren alle zufrieden.

Einmal aber – keiner weiß mehr, wann das war – kam irgendjemand auf die Idee, das, was es nicht gab, zu erfinden. Weil es ihn zuerst auch nicht gab, erfand er sich kurzerhand selbst und nannte sich: WISSENSCHAFTLER.

Der Titel gefiel ihm. Stolz stellte er sich vor den Spiegel, und es kam ihm vor, als wäre er ein Stück gewachsen. Zog er nun noch sein Bäuchlein ein und tat er dasselbe mit den Wangen, schien ihm seine ganze Erscheinung zudem kühn und bewun­dernswert nachdenklich. Dieser Mann würde endlich Ordnung schaffen!

Und er begann sein großes Werk in den eigenen vier Wänden. Irgendwie musste es doch zu überprüfen sein, wie groß das Zimmer war. Einer ersten Eingebung folgend, zog er den Schnür­senkel aus seinem linken Schuh und rutschte auf den Knien immer an der Wand lang.

Neun­mal passte der Schnürsenkel an die längere Zimmerwand. Bei der kürzeren blieb ein Rest übrig, nachdem er den Senkel siebenmal angelegt hatte.

Sein Blick fiel auf den Schuh, den er bei der wissenschaftlichen Rutscherei verloren hatte, und einer zweiten Eingebung gehorchend, ver­suchte er nun, das fehlende Stück in der Ecke mit dem Schuh auszufüllen.

Passt!

Dies alles galt es festzuhalten. In fein säuberlicher Schrift übertrug er die Ergeb­nisse seiner ersten wissenschaftlichen Untersuchung auf ein Blatt Papier.

Aber was war die beste Wissenschaft ohne die gebührende Anerkennung durch die Repräsen­tanten der Macht?

Den linken Schuh in der rechten Hand, Schnürsenkel, Stift und Papier in der linken, hüpfte er die Treppen zum Schlosstor hinauf. Den obersten Treppenabsatz zierte ein in großen Lettern eingemeißelter Sinnspruch:

ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH.

„Darauf ließe sich wohl manches entgegnen“, dachte der frischgebackene Wissenschaftler, „aber eins nach dem andern.“

Hätte er erst einmal die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Königspaares, würde er auch hierzu einige Neuerungen vorschlagen. Nur – soweit kam es nicht.

„Komm nachher wieder, jetzt wollen wir beim Spiel nicht gestört werden“, hieß es.

„Wann ist denn nachher?“, wollte der neugierige Wissenschaftler wissen.

„Was soll diese Frage?“, knurrte der König. „Natürlich dann, wenn es uns keinen Spaß mehr macht zu spielen!“

Und damit war die Audienz beendet, und er wurde wie alle anderen zuvor wieder hinauskomplimentiert.

Da stand er nun – mit einem bloßen Fuß und vielen Ideen im Kopf. Aber entmuti­gen ließ er sich deswegen noch lange nicht. Spürte er doch ganz deutlich, dass er da­bei war, etwas Umwer­fendes einzuleiten – etwas, das vielleicht sogar seinen Namen tragen würde. Nur musste ihm endlich jemand zuhören, der seine Arbeit auch zu würdigen wusste.

Dem König und der Königin jedoch bereitete das Spielen ein solches Vergnügen, dass ihr Lachen noch am Schlosstor zu hö­ren war. So setzte sich der Mann, der mit seinem Schnürsenkel das Längenmaß erfunden hatte, auf die oberste Stufe der Schlosstreppe und starrte auf die Buchstaben zwi­schen den Beinen.

In einem dieser Momente, als er da so saß – keiner weiß mehr, wann das war –, folgte er einer dritten Eingebung, die ihn beinah das Leben gekostet hätte.

Nach dem angeregten Spiel war das Königspaar zu einem Spaziergang aufgebrochen. Da sah es den Wissenschaftler mitten auf dem schönen Sinnspruch sitzen. Von dem ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH war nur noch das ZUM FREU und das RUH zu erkennen, und hin und wieder lugte auch noch ein H zwischen den Beinen des Mannes hervor. Es war aber vor allem das ungewöhnliche Gehabe dieses Menschen, was den Blick des Königspaares auf sich zog.

Gerade legte der Mann einen seiner Schuhe rechts von sich auf dem steinernen Treppenabsatz ab, um nun ein schon eng beschriebe­nes Blatt Papier aufzu­nehmen und darin etwas einzutragen. Dann legte er das Blatt beiseite, ließ den Schuh links von sich auftippen, dann zwischen den Beinen, dann rechts, nahm das Papier – und das immer wieder von vorne.

Das Königspaar schaute ihm dabei eine Weile zu, bis die Königin wissen wollte: „Was machst du da?“

Um die Antwort war der Mann nicht lang verlegen: „Ich übe den U-H-R-Sprung und messe dabei, wie lange etwas dauert.“ Während er das zum Besten gab, hörte der Wissenschaftler nicht auf, den Schuh vom U des FREU zum H zwi­schen den Beinen auf das R des RUH zu tippen. Und jeder dieser Vorgänge wurde schriftlich bearbeitet – er war wirklich sehr gewissenhaft. Endlich schien der Wissenschaftler die gewünschte Aufmerksamkeit erreicht zu haben.

 

„Und wie lange dauert es?“, fragte der König etwas herablassend.

„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete er. „Erst wollte ich messen, wie lange ihr spielt, und dann, wie lange ihr lacht, und nun messe ich gerade, wie lange ihr euch mit mir unterhal­tet – aber das dauert und dauert ...“

„Aha“, sagte der König und verstand nichts.

„Hm“, machte die Königin, und dann gingen die beiden spazieren.

Der Wissen­schaftler jedoch begann sofort, nun auch die Dauer des königlichen Spaziergangs zu erfassen.

Das Blatt wies nur noch wenig Weißes auf, als dem Wissenschaftler der Magen knurrte, da er wohl beim Messen reden, nicht aber messen und gleichzeitig zu essen vermochte. Gerade dachte der gewissenhafte Wissenschaftler daran, wie schön es wäre, Durst und Hunger in der Schenke zu stillen, da wurde er schon wieder angesprochen.

„Was machst du da?“, hörte er erneut die Frage des Königspaars neben sich. Aber diesmal kam sie aus dem Munde einer strahlenden Fee. Der verdutzte Wissenschaftler antwortete, wie er dem Königspaar geantwortet hatte, ohne da­bei auch nur für einen Augenblick seine Messungen zu unterbrechen.

„Das muss ein schlimmer Zauber sein“, meinte die Fee. „Ich will dich davon erlösen, denn ich bin eine gute Fee.“

Und gerade als der Wissenschaftler wieder das Papier zur Hand nehmen wollte, spürte er einen warmen Kuss auf seinem Mund.

Mit immer noch leeren Händen den Nachgeschmack des Kusses genießend, fragte er sich, was er jetzt weiter tun sollte. Das fragte er auch die Fee. Da küsste sie ihn ein zweites Mal, leckte sich da­nach mit der Zunge über die Lippen und forderte ihn auf: „Komm doch mit, dann können wir uns noch öfter küssen.“

Endlich überzeugt stand der Wissenschaftler von den kalten Stufen auf und verschwand Hand in Hand mit der Fee in ihr Feenreich.

Als das Königspaar in der Dämmerung von seinem Spaziergang zurückkam, war der Mann mit dem merkwürdigen Gehabe nicht mehr zu sehen. Nur seine Utensilien la­gen noch auf dem Treppenabsatz. Der König bückte sich und hob sie auf. Im Schuh entdeckte er ein gefaltetes Stück Papier. Das gab er seiner Frau, damit sie es ihm vorlese.

„Neun Schnürsenkel lang, sieben Schnürsenkel und einen Schuh breit. Was kleiner als ein Schnürsenkel ist, ist so lang wie ein Schuh.

Der U-H-R-Sprung der Zeit, kurz Uhrsprung genannt, wird gemessen wie folgt: 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, ... – lieber Ge­mahl, hier sind lauter Einsen. Soll ich sie dir alle vorlesen?“

„Nein, lieber nicht. Ich habe Hunger. Lass uns zu Tisch gehen, Liebste.“

So sprach der König und zog dabei den Schnürsenkel durch die Löcher im Schuh. Vielleicht könnte ihn ja irgendwer noch einmal gebrauchen. Die Königin hakte sich alsdann beim König ein und steckte den ersten wissenschaftli­chen Forschungsbericht des Landes in ihre Rocktasche – wo er schnell vergessen war und dieses Land deshalb von der Zeitmessung unberührt blieb.

Nur wann das alles war, das weiß keiner mehr.


Der Eine, der Andere

Der Eine war ein Mensch, der nur schlief, um sich für den kommenden Ar­beitstag auszuruhen. Wachte er auf, rieb er sich erst mit der linken Hand das linke Auge und dann mit der rechten Hand das rechte Auge, bis aller Schlaf aus ih­nen war. Beide Hände wurden dabei zu festen Ballen, die er nach dem Öffnen der Augen gegen die Wand am Kopfende des Bettes streckte. Das ge­schah alles sehr ausgiebig und genüsslich, bis der Eine sich anspornte: „Jetzt aber los!“

Da schnellten die Fäuste zum entgegen gesetzten Ende des Bettes, und mit ihnen wurde der Oberkörper in die Senk­rechte gezogen. Die Fäuste öff­neten sich, um die Decke nach links beiseite zu wi­schen, während eine Drehung des Oberkörpers nach rechts die Beine über den Bettrand schleuderte.

Mit festem Boden unter den Füßen war der Tageslauf kaum noch aus sei­nem ge­wohnten Gang zu bringen: Kaffeewasser aufsetzen, Kaffeepulver in die Fil­tertüte schütten, den Filter auf die Kanne stellen – zwischendurch ins Bad gehen und Zähne­putzen – danach zum ersten Mal mit dem inzwischen ko­chenden Wasser den Kaffee aufgießen. Dann wieder ins Bad: Sich wa­schen und hinterher gründ­lich abtrocknen. Nun zum zweiten Mal Wasser in den Kaffeefilter nachgießen, sich anziehen, den Tisch decken, frühstüc­ken.

Anschließend den Tisch wieder abdecken, Becher, Brett und Messer ab­waschen und zum Trocknen auf die Spüle legen. Dann mit der einen Hand zur Türklinke, mit der an­deren Hand nach dem blauen Kittel greifen. In seiner Werkstatt sich das erste Stück zurechtlegen, das es an diesem Tag zu bearbeiten galt. Und dann: Arbeiten.

Um dieselbe Zeit schlief der Andere gerade ein.

Er war ein Mensch, der schlief, um weiterträumen zu können. Erst wenn die Abend­sonne durch das Loch im Verdunklungsrollo einen ihrer Strahlen schickte und mit ihm einen rotgelben Fleck an die Wand malte, mühte der Andere sich, seine Augen zu öffnen. Klappte dabei das linke Auge wieder zu, hüpfte der Fleck nach rechts, öffnete er es, um da­für nun das rechte Auge zu schließen, hüpfte der Fleck nach links. Ping-Pong, Ping-Pong. Dieser Übung widmete der Andere gern ei­nige Zeit. Um aber den Son­nenuntergang nicht zu ver­säumen, wühlte er sich schließlich aus dem Bettzeug und zog vorsichtig am Rollo. Jedes Mal der­selbe Schrecken, wenn sich das Ding selbstständig machte und mit lautem Geratter an seiner Holz­stange Saltos schlug. Dann schaute er dem Farbenspiel am Himmel zu, bis es in sei­nem Zimmer fast wieder vollkommen dunkel war. Im Schein einer gerade noch rechtzeitig entzündeten Kerze kleidete sich der Andere be­dächtig an und füllte daraufhin seinen klei­nen Ran­zen. Derart ausgerüstet, trat er vor die Tür und atmete tief die milde Nachtluft ein. Die stärkte sein Verlangen, seinem Lieblingsbaum entgegen zu schlendern. Dieser Baum diente ihm nämlich bei seinen Mahlzeiten aus dem Ranzen als Rückenlehne. Die aufkommende Brise zauste zwar die Blät­ter, aber außer einem Rascheln hatte der Baum heute nichts weiter zu erzählen, dafür gluckste und gurgelte der nahe Fluss umso beschwingter. Nachdem der Andere sich reinen Wein eingeschenkt und zuvor vom Brot abgebissen hatte, wurde jedoch seine Aufmerksamkeit von der Tafelmusik des Flusses abgelenkt.

Am gegenüberliegenden Ufer waren die Lichter ei­nes Hauses ver­loschen. Wer das wohl ist, der dort wohnt? Frauen, Männer, Frau und Mann, Frau und Mann und Kind?

Nein, Kinder nicht, sonst hätte ihm längst der Wind Lachen und Weinen, oder ein Papierschiffchen über den Fluss ge­schickt. Vielleicht mal eine Nacht ver­schlafen und in den Tag hineinträu­men, um herauszufin­den, was da vor sich geht, dachte er. Aber das hatte Zeit.

In den Wellen badete der milde Schein des Mondes – wie schön das glitzerte!

Der Andere zog sich sein Gewand vom Leibe und trat vorsich­tig in die sanfte Strö­mung. Es war wunderschön, so von Licht und Was­ser umspielt zu werden. Noch ein bisschen tie­fer hinein, musste das Glück noch vollkommener sein, und dann atmete der Andere Mondenschein und Wasser – bis er sich erinnerte, dass er kein Fisch war.

Sehr laut rief er jetzt um Hilfe und wurde gehört.

Der Eine knipste im Vor­beihasten das Decken­licht im Wohnzimmer an und lief aus dem Haus, so wie er war, nämlich in Unterho­sen. Se­kunden später sprang er in den Fluss und erreichte gerade noch recht­zeitig den mit letzter Kraft um sich schla­genden Anderen. Mit festem Griff packte der Eine den Anderen und schleppte ihn ans Ufer, wo der Andere im Licht­schein des weit geöffne­ten Wohnzimmerfensters das verschluckte Wasser wieder ausspucken konnte.

„Na, dann kommen Sie mal mit ...“, sagte der Eine zu dem zitternden An­deren.

In seinem Reich versorgte er den Anderen mit einem Handtuch und ei­nem al­ten, aber warmen Bademantel. Dann vermengte er in einem Be­cher schwe­ren Rotwein mit heißem Wasser und reichte dieses Gebräu an seinen Gast weiter.

„So – bitte schön, das wird Ihnen gut tun.“

Das Zähneklappern des Anderen ließ ein wenig nach, und er räkelte sich in dem ein­zigen Sessel des Einen.

Plötz­lich fragte er sich und den Einen: „Wie konnte das nur geschehen?“

„Ja, das würde ich auch gerne wissen. Können Sie denn nicht schwimmen?“

„Warum?“

„Wenn Sie ins Wasser gehen, müssen Sie doch schwimmen kön­nen, oder woll­ten Sie etwa ...?“

„Nein und nein. Ich meine, ich kann nicht schwimmen, und ich wollte auch nicht etwa ...“

„Aber wieso gehen Sie dann ins Wasser?“

„Weil es so schön aussah. Wieso sind Sie denn ins Wasser gesprungen?“

„Wie bitte?“

Der stellt vielleicht Fragen, dachten beide und schwiegen vorerst eine Weile.

„Kann ich noch ein bisschen bei Ihnen bleiben? Wenn meine Kleidung trocken ist, kann ich ja wieder hinüber.“

„Wohl kaum: Erstens würde alles wieder nass, und zweitens kön­nen Sie doch nicht schwimmen.“

„Hmm ...“

„Sie können ja erst einmal hier im Sessel bleiben. Ich muss jetzt schlafen ge­hen.“

„Wieso müssen Sie jetzt schlafen?“

„Weil ich morgen arbeiten muss!“

„Und warum müssen Sie morgen arbeiten?“

„Weil ich sonst nicht fertig werde!“

„Aha, na dann: Gute Nacht.“

Als der Eine in sein Bett stieg, vermochte er nicht wie gewohnt sofort nach dem Ausknip­sen der Nachttischlampe einzuschla­fen. Seine Kunden würden sich ganz schön wundern, erzählte er ihnen von dem Besuch. Aber der Eine er­zählte selten etwas, denn er hatte ja seine Arbeit zu tun.

„Nur – wie kommt der Andere auf die an­dere Seite, ohne dass er nass wird und dabei ersäuft?“, dachte der Eine als Nächstes. Es wurde eine unruhige Nacht.

Für den Einen.

Der Andere wollte noch einmal aus dem Fenster schauen und löschte deshalb eben­falls das Licht. So sah das also von hier aus. Der Mondschein erhellte seinen Lieblingsbaum und etwas den Weg entlang auch sein Haus. Wie eng das beieinander lag. Aber nun war er hier, und Weg und Baum und Haus waren dort. Seltsam, selt­sam ...

Nachdem er das Licht wieder eingeschaltet hatte, stöberte der Andere in einem Bü­cherregal, in dem die Bücher ihrer Größe nach geordnet waren. Er wurde trotzdem fündig.

Der Andere wäre beinahe eingenickt, wenn ihn nicht die frühmorgendli­chen Geräu­sche des Einen aufgeschreckt hätten. Der wollte doch erst mit dem ersten Sonnen­strahl aufstehen, wun­derte sich der Andere. Da schaute der Eine ins Zimmer und erklärte: „Heute Nacht konnte ich lange Zeit nicht einschlafen. Deshalb bin ich noch einmal ums Haus gegangen und habe alle Fensterläden geschlossen. Sie haben das beim Le­sen wohl gar nicht mitbekommen. Wenn Sie hinaussehen wollen, müssen Sie nur wieder das Fenster öffnen. Die Läden sind auch von innen zu entrie­geln.“

Der Eine meinte es nur gut mit dem Anderen. Der hatte näm­lich sehr an­gestrengt durch das Fensterglas auf die schwarz gestrichenen Holzläden ge­starrt.

Mit einem „Ah ja, danke!“ machte sich der Andere sogleich an dem Fen­stergriff zu schaffen.

Der Eine hatte bereits auf dem Absatz kehrtgemacht, um das letzte Mal Was­ser in den Filter zu schütten. Er knöpfte sich gerade das Hemd zu, als er den Anderen rufen hörte.

„Mein Gott, was hat er denn jetzt schon wieder?“, dachte der Eine, und als er beim anderen erneut seinen Kopf ins Zimmer steckte, rief der Andere wohl schon zum dritten Mal:

„Schauen Sie mal, sehen Sie sich das an!“

Und der Eine schaute. Da war die Sonne, darunter der Fluss, dahinter ein Weg und ein Baum und ein Haus. Alles wie im­mer, nur dass es auf der anderen Seite noch ein bisschen regnete, während auf sei­ner Seite schon kein Wölkchen mehr den Himmel trübte.

„So schlimm ist das doch auch wieder nicht!“, dachte der Eine kopfschüt­telnd. „Soll er doch hier bleiben, wenn er die paar Tropfen fürchtet.“

Der Eine wollte in die Küche zurück. Aber mit den Worten: „Sehen Sie es denn nicht, so viele Farben ...“, hielt ihn der Andere noch einmal auf.

Tatsächlich, da war ein Regenbogen, der sich über den Baum, den Weg und das Haus spannte.

 

Ja, schön, aber das lohnt doch die Aufre­gung nicht, wozu sollte so ein Regen­bogen schon nutze sein? Der Eine drehte die Frage um und um. Der Andere freute sich einfach.

Da flüsterte der Eine plötzlich:

„Ich hab’s!“, und dann mit voller Stimme: „Ich hab’s!“

Einen Monat lang arbeitete der Eine, ohne einen einzigen Auftrag seiner Kunden zu erledigen und der Andere half ihm, zwar ungeschickt, aber sehr bemüht. Freunde der beiden, die sich von ihrem Eifer nach und nach hatten anstecken lassen, gesellten sich dazu.

Als die Arbeit getan war, konnten der Eine wie der Andere nun troc­kenen Fußes über den Fluss zu Weg und Baum und Haus gehen und danach wieder zurück zum Haus des Einen.

Sie gingen mal zu zweit, mal alleine über das Wasser. Mal stand einer dem An­deren gegenüber, dann rief der eine von beiden „Jetzt!“, und sie gingen gleich­zeitig los. Un­ter dem lauten Klatschen ihrer Freunde auf beiden Uferseiten schüt­telten sie sich in der Mitte die Hände und gingen an­einander vorbei. Und dann durften es alle einmal probieren.

„Seltsam, seltsam, dass da nicht schon eher einer darauf gekommen ist“, sagten anschließend nicht wenige.

Ihre Kinder hingegen wunderten sich nicht lange, sondern ließen sich den ganzen Sommer über immer wieder laut johlend von der Brücke ins Wasser plumpsen.

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