Der Gesundheitsminister

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Der Gesundheitsminister
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Ulrich Hildebrandt

Der Gesundheitsminister

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Treffen der Freunde

Das Bundesministerium für Gesundheit

Der Unbekannte

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)

Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV)

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG)

Mit Krankenhäusern Geld verdienen

Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

Die Private Krankenversicherung (PKV)

Ambulante Notfallversorgung

Die Ostsee

Vertrauen in die Medizin und die Krankenhäuser?

Der Versuchsballon

Im Kreuzverhör

Wiedersehen

Die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ)

Das Interview und der schlechte Tag

Die Offenbarung

Der Talk mit Isabell

Impressum neobooks

Das Treffen der Freunde

„Du machst es!“

Jakob legt den Hörer auf und lehnt sich zurück. Lange, ohne nachzudenken, mit leerem Kopf und ohne sich auf dem Bürostuhl zu bewegen. Das saß, das hatten seine Freunde so entschieden und einer hat es ihm mitgeteilt. Mitgeteilt, angetragen? Befohlen, schlicht befohlen. Eine Bitte klingt anders.

Sie kennen sich seit der Internatszeit. Während der gemeinsamen Jahre an der Schlei hatten sie erfahren, was Freundschaft ist. Die stellte sich einfach so ein. Keiner hatte den anderen gesucht. Später haben sie oft darüber gelacht, wenn einer aus der Gruppe darüber sinnierte, wie es so kommen konnte. Sie wissen es bis heute nicht. War es das Alleinsein in der Abgeschiedenheit des Internates, die Entfernung von Familie und Freunden aus der Vorinternatszeit? Sie kamen zu dem Schluss, dass sich die Richtigen getroffen haben. Dabei waren sie so anders, so verschieden. Im Punkt Sympathie aber einig. Jeder war für sich ein Unikum, das empfanden sie damals so. Jeder hatte etwas Eigenes. Spezielle Interessen, Kenntnisse, die die anderen nicht hatten, oder besondere Erlebnisse, weil ihre Eltern, oder eine Hälfte davon, beruflich durch die Welt tingelten.

In einem weiteren Punkt waren sie sich sehr ähnlich. Jeder hatte bereits ziemlich klare Vorstellungen, wohin das Leben ihn führen sollte. Jakob wollte in die Politik. Näher konnte er sein Ziel damals nicht beschreiben. Für die Freunde war das Ziel unübersehbar. Erst war er Klassensprecher, schließlich Schulsprecher. Das ganze Internat hatte das unausgesprochene Gefühl, dass für diese Position nur einer in Frage kam. Jakobs bester Freund, sah das auch so. Weil er ähnliche Ambitionen hatte. Nur den Weg stellte er sich anders vor. Erst wollte er ein Wirtschaftsstudium absolvieren, dann sollte es in die Politik gehen. Jakob wollte beides in einem Zug angehen.

Mit den Mädchen des Internates hatten sie es nicht besonders dicke. Jakob pflegte eine lockere Beziehung zu Isabell. Die zwei trafen sich hin und wieder außerhalb des Freundeskreises. Aus politischen Gründen, wie Jakob zu erklären versuchte. Seine Freunde sahen das anders. Nur für politische Ambitionen war Isabell viel zu hübsch. Das glaubte ihm keiner. Isabell wollte Journalistin werden. Das sollte Jakobs Nähe zu Isabell erklären.

Tatsächlich wurde Isabell Journalistin. Nicht nur das. Sie bekam auch eine eigene Talkshow im Fernsehen. Eine für politische Themen. Und tatsächlich wurde Isabell die Freundin von Jakob. Nicht ausschließlich aus politischen Gründen.

Das Ende der Internatszeit hatten die Freunde ausgiebig in Südfrankreich gefeiert. In dem Feriendomizil, das die Eltern eines Freundes zur Verfügung gestellt hatten. Auch Isabell war dabei und noch zwei andere Mädchen aus dem Internat. Politik stand nicht im Vordergrund.

Jakob trat in eine konservative Partei ein und stürzte sich in die politische Tagesarbeit. So, wie es Hunderte vor ihm taten und wie es Hunderte nach ihm tun werden. Mit Basisarbeit, mit Anwesenheit, mit Überzeugung. Aber auch mit Frustration am Info Stand. Mit dem Verteilen von Fähnchen und Prospekten. Mit Präsenz in den sozialen Medien. Mit Einmischen, mit Mitreden und mit Einstecken. Mit Anerkennung, mit Missgunst, mit Intrige und Kumpanei. Die ganze Palette.

Er hielt durch und wurde schließlich in seinem Wahlkreis für einen Sitz im Bundestag nominiert. Den er auch errang und den er antrat. So ganz nebenbei absolvierte er sein Wirtschaftsstudium und lernte Politik und Wirtschaft auf einen Nenner zu bringen. Das machte ihn bei seinen Parteifreunden bekannt und begehrt. Ob es immer Freunde waren, das sei dahingestellt. Jakob hatte längst erkannt, dass die Luft nach oben dünner wurde. Für den nötigen Auftrieb schmiedete er Allianzen, die ihn weitertrugen. Bis er schließlich den Posten eines Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium ergattern konnte.

„Du machst es!“, lautet die Aufforderung seiner Freunde aus den Internatstagen. Es ist die Zeit der politischen Entscheidungen. Seine Partei stand schon einmal besser da. Es sieht so aus, als könnte sie die stärkste Fraktion werden. Wenn auch mit erheblichen Abstrichen, gemessen am letzten Abschneiden. Die Demoskopen liefern fortwährend neue Wasserstände. Intern werden bereits, wie eigentlich immer, verschiedene Koalitionsszenarien durchgespielt. Die Koalition mit dem bisherigen Partner ist ausgelutscht. Es muss neuer Wind her. Das kann nur in einer Dreiergemeinschaft gelingen. Die aufzustellen ist wieder so ein Ding. Die Identitäten der drei liegen weit auseinander. Aber der Versuch, es zu dritt zu wagen, ist für die drei mehr als ein Abenteuer. Sollte es gelingen, wären die drei in der Regierung. Allein schon der Gedanke, nicht auf der Oppositionsbank sitzen zu müssen, macht flügge. Lässt so manches Prinzip davonfliegen. Was vorher galt, bekommt ein neues Profil. Mit Rundungen, wo keine waren und mit Kanten, wo früher alles glatt war.

Bevor die Entscheidung der Wähler fällt, ist der eine und der andere Ministerposten virtuell schon besetzt. Jakobs Partei spielt das Spiel mit. Als Staatssekretär ist er nicht involviert, aber gut informiert. Die gedanklichen Winkelzüge gehen in alle Richtungen und Jakob wundert sich darüber, welche Namen genannt werden. Und mit wem, welcher Posten besetzt werden soll.

Dass seine Freunde ihn ins Spiel bringen, empfindet er als einen Scherz. Ehrgeiz allein erklimmt keine Berge. Und der Anstieg muss gut vorbereitet sein. Die Ausrüstung für den Anstieg fehlt ihm vollkommen. Es sollte hoch hinauf gehen.

In Sherpa Manier haben die Freunde entschieden, Jakob auf den Posten des Gesundheitsministers zu hieven. Harry bekommt den Auftrag mit Jakob zu telefonieren.

„Von Gesundheit verstehe ich nichts, rein gar nichts“, entgegnet Jakob. „Ihr seid verrückt, einfach nur verrückt. Das könnt ihr mit mir nicht machen.“

„Das siehst du völlig falsch. Du verstehst die Wirtschaft, das zählt. Die Gesundheit ist nur Beiwerk. Wenn wir von über 300 Milliarden Euro in der Gesundheitswirtschaft reden, dann reden wir von Geld und nicht von Fieber.“ Das sagt einer, der es wissen könnte. Harry, eigentlich Harald, ist CEO einer gesetzlichen Krankenversicherung.

„Für mich ist Gesundheit nicht Wirtschaft“, entgegnet Jakob. „Gesundheit hat was mit Medizin zu tun. Und die Medizin ist Sache der Ärzte. Die Wirtschaft bietet eine Plattform. Ohne die geht es nicht, zugegeben. Auf der wirtschaftlichen Plattform bewegt sich die Medizin. Aber sie dominiert. Sie steht über der Wirtschaft.“

„Das war einmal“, entgegnet Harry.

„Wir brauchen nicht weiter zu reden.“ Jakob hat nicht die geringste Lust, das Thema zu vertiefen.

Die Freunde haben ein Treffen vereinbart. Ein Treffen ohne Jakob. Der Anruf von Harry erscheint ihnen im Nachhinein als ziemlich plump. Es sollte nur ein Stimmungsballon sein. Wurde es auch. Mit einem Knall wurde klar, dass Jakob auf Abwehr gestellt hat. Dabei führen sie wirklich nichts im Schilde. Jakob ist einer der Ihren. Ein starker, ein ganz starker. Die Idee für den Ministerposten hat ein enger Freund. Einer, mit dem Jakob sehr häufig zusammen ist. Thomas, Tom genannt, ist in seiner Partei gut vernetzt. Er spielt weit vorn mit. Ein großes Rad will er nicht drehen. Nach eigener Einschätzung fehlt ihm dafür das letzte Quäntchen an politischer Intuition. Tom gehört zu der Spezies, die gern in der zweiten Reihe steht. Nicht wegen der Deckung, nicht wegen der Pfeile, die er aus dem Hintergrund schießen könnte. Sondern wegen eines Gefühls der Sicherheit. Ein weiterer Schritt nach hinten, fällt in der zweiten Reihe nicht auf. Tom ist auch das, was man als einen Wasserträger aus freien Stücken bezeichnen könnte. Er hilft lieber denen, denen er mehr zutraut, als sich selbst. Weil er überzeugt ist, dass Jakob der Mann für den Posten des Gesundheitsministers ist, hat er das Treffen arrangiert. Neben ihm und Harry ist auch noch José dabei. José ist ziemlich viel und weit herumgekommen. Auch er hat Wirtschaft studiert, aber nicht so richtig den Absprung von der Wissenschaft gefunden. Die Kombination von Wirtschaft und Wissenschaft, das ist sein Ding. Er war an unterschiedlichen Unis und Institutionen unterwegs gewesen. Auch im Ausland. So richtig sesshaft wurde er vor nicht allzu langer Zeit. Wegen einer Frau, wegen der daraus resultierenden Familie und den Kindern, die dann folgten. Die Gesundheitsökonomie ist sein Thema.

 

„Es war sehr naiv, den Jakob mit einem dilettantischen Anruf zu überfallen“, betont Harry.

„Stimmt, das ging voll daneben. Macht aber nichts. Ich spreche morgen mit ihm und dann gehen wir in die zweite Runde.“ Tom sieht darin kein Problem.

„Glaubt ihr, dass er es macht?“ José ist eher skeptisch.

„Ein bisschen hängt das von uns ab. Wir müssen ihm den verfahrenen Zustand des Gesundheitswesens erklären“, erläutert Harry. „Was allgemein geredet wird, ist zu wenig. Wir müssen in die Tiefe gehen. Dafür sind wir übrigens gut aufgestellt. Mit dir, José, als Gesundheitsökonom und mit mir. Ich versteh was von den Krankenkassen.“ Er sagt das mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Was prompt Tom auf den Plan ruft.

„Weht da nicht ein Hauch von Lobbyismus rüber?“

„Noch nicht. Nein, überhaupt nicht. Aber ein paar Gedanken aus unserer Sichtweise werde ich schon rüberbringen müssen“, betont Harry.

„Unsere Runde ist nicht schlecht“, fährt Tom fort. „Aber uns fehlt jemand aus der Medizin. Jemand aus dem Krankenhaus, oder aus den Ärzteverbänden.“

„Das lässt sich machen“, sagt José. „Ich kenne einige. Kein Problem. Die holen wir uns, wenn wir sie brauchen.“

„Das sieht gut aus“, resümiert Tom. „Wir laden Jakob zum Essen ein und dann präsentieren wir unser Konzept. Was isst der eigentlich gern? Die Wahl des Lokals ist nicht unerheblich.“

„Alles, was Isabell nicht mag.“ Harry findet die Frage offenbar lustig.

„Das ist nicht zum Lachen“, erwidert Tom, der sichtlich bemüht ist, den Dampfer in Fahrt zu bringen. „An einem falschen Essen ist schon so manches Projekt gescheitert. Isabell liegt auf der vegetarischen Spur. Was Deftiges wäre schon gut. Etwas mit Bier könnte ihm gefallen. Er trinkt gern Bier, das weiß ich. Es gibt da so ein Lokal, das ausgesuchte Biersorten vom Fass hat. Das Essen soll sehr gut sein.“

„Du meinst jetzt aber nicht so eine laute Bierkneipe. Schließlich wollen wir uns unterhalten.“

Die Bemerkung von José hatte noch eine kleine Diskussion zur Folge. Am Ende waren sie sich einig, in welchem Lokal das Gespräch stattfinden sollte. Den Anlass sollte Jakob erst erfahren, wenn sie das erste Bier hinter sich haben. Als vorgeschobener Grund soll der Besuch eines neuen Lokals genannt werden, das einige Erwartungen verspräche. Tom übernimmt die Organisation des Termins, was erwartungsgemäß nicht einfach ist. Jakob hat kaum noch Lücken. Vor allem die Abstimmung mit Isabells Zeitplan macht das Zeitfenster klein. Die beiden haben vereinbart, dass außerhalb des Berufes ihre gemeinsame Zeit absolute Priorität hat. Tom hat echte Schwierigkeiten, einem Treffen der Internatstruppe den Anflug von Bedeutung anzuheften. Umso mehr, als der Grund für das Treffen nicht mehr als ein Kneipenbesuch sein soll. Da es eine Männerrunde werden soll, ist die Wahl eines Bierlokals mit deftiger Küche für Frauenwünsche nicht begehrlich. So ist es auch gewollt und es klappt. Die Männer sind unter sich.

Jakobs Freunde telefonieren noch mehrmals hin und her, um den Gesprächsverlauf für den Abend zu planen. Einen weiteren Reinfall darf es nicht geben. Drei Wochen nach dem Treffen sitzen sie in dem Bierlokal „Die zornige Ameise“. Tom war zuvor da gewesen und hat einen Tisch reserviert, der etwas abgesetzt in einer Nische steht. Gut geeignet für ein Gespräch ohne Gelegenheitslauscher. Der Geräuschpegel würde für eine zusätzliche Sprachverneblung sorgen.

Jakob ist sichtlich entspannt. Nicht schlecht für den Abend. Das Lokal gefällt ihm und Lust auf Bier hat er heute auch.

„Wer von euch hatte die Initiative? Schön, dass wir uns wieder einmal treffen. José, dich habe ich ewig lang nicht gesehen. Warst du nicht in Dänemark?“

„Da war ich auch. Aber das ist schon länger her. Zuletzt war ich bei der EU.“

„Bei der EU? Du beschäftigst dich, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, mit Gesundheitsökonomie.“ Jakob hat unbeabsichtigt den Gesprächsball in die richtige Ecke geschossen.

„Ja das ist mein Thema. In Brüssel habe ich an einem europäischen Gemeinschaftsprojekt mitgewirkt. Wir wollten herausfinden, wie sich die Gesundheitssysteme der EU Staaten voneinander unterscheiden. Und wir wollten Gemeinsamkeiten ausloten.“

„Das ist euch sicher gelungen“, antwortet Jakob mit einem Schmunzeln.

„Wie du dir denken kannst, ist es uns gelungen. Aber es hilft uns nicht weiter. Die EU hat eine schöne große Bibliothek. Da kommt der Bericht wohl rein. Zu den vielen anderen.“ José quittiert Jakobs Frage ebenfalls mit einem Lächeln. Tom findet, dass das Thema zu früh dran ist und schwenkt zurück auf die Beziehungsebene.

„Wie geht es Isabell? Wie toll sie aussieht, wissen wir ja. Vom Fernsehen. Ich meine, ist sie zufrieden mit ihrem Job?“

„Auf jeden Fall. Sie ist in ihrem Element. Sie liebt den Themenwechsel. Dank der Politik. Im Augenblick ist richtig was los. Das ist gut für Isabell. Wie sieht es bei dir aus? Ich meine in deinem Ministerium. Habt ihr heiße Projekte in der Pipeline? Die Wirtschaft läuft ja von selbst. Ihr müsst eigentlich nur gute Zahlen verkünden und könnt euch zurücklehnen.“

Jakob stichelt gern und tut es auch heute wieder.

„Du sagst es“, antwortet Tom gelassen. „Wir haben wenig zu tun und müssen sehen, wie wir die Zeit rumkriegen. Deshalb bin ich froh, dass ihr mich heute hierher gelotst habt. Ich gebe einen aus, das Bier geht auf mich.“

Nachdem jeder von jedem das Aktuelle aus Beruf und Familie erfahren hat, kommt Tom zurück zum eigentlichen Anlass des Abends.

„Der Anruf von Harry, vor einigen Wochen, war blöd.“

„Wie meinst du das, blöd?“, fragt Jakob. Offensichtlich hatten wichtigere Ereignisse den Telefon Flop längst verdrängt.

„Ich meine unsere Idee, dass du Gesundheitsminister werden musst…“ Jakob lässt ihn nicht ausreden.

„Ach so, ich muss Gesundheitsminister werden und ihr entscheidet das. Ihr drei. Nicht die Partei, nicht die Gremien, nicht der Wähler. Ihr sagt, dass ich muss.“ Jakob greift zum Glas und trinkt einen kräftigen Schluck. Er scheint sichtlich aufgebracht zu sein, denn er steht auf und geht zum Tresen. Die Blicke vom Tisch folgen ihm. Als er zurück an den Tisch kommt und sich hinsetzt, scheint er wieder entspannt zu sein.

„Ihr habt alle nichts mehr zu trinken. Bei uns kommt kein Kellner vorbei. Ich habe nachbestellt.“

Tom reagiert umgehend. „Jakob versteh uns bitte. Wir möchten dir das erklären. Hör es dir einfach an, dann reden wir weiter. Okay?“

„Okay, der Abend ist noch jung. Warum sollte ich nein sagen? Wir sind Freunde und können über alles reden.“

„Danke Jakob“, antwortet Tom. „Soll ich anfangen?“

„Ja fang an“, sagt Harry. „Aber erst, wenn wir etwas gegessen haben.“

Das taten sie auch und redeten dabei über Politik. Gesundheitspolitik ausgenommen. Nach einer kurzen Verdauungspause nimmt Tom den Gesprächsfaden wieder auf.

„Jakob du kennst die Tagespolitik. Das Thema Gesundheit ist nicht vorrangig, aber denk an zurückliegende Gesundheitsthemen. Die Hygiene im Krankenhaus ist eines davon. Dann die Finanzierung der Krankenhäuser. Das Lamentieren über die Nichtbilligung der Investitionsgelder durch die Länder. Und dann noch das aktuelle Dauerthema, die Pflege. Das ist nur ein Teil der Baustellen im Gesundheitswesen. Wir denken vorausschauend. Anders, als in der vergangenen Legislaturperiode gedacht wurde. Dein Parteifreund, der Bundesgesundheitsminister, hat Hinterher-Politik gemacht. Ist den Ereignissen hinterhergelaufen und hat kosmetische Veränderungen vollzogen. Das geht in Zukunft nicht mehr, das Hinterheragieren.“

„So, ihr denkt ich sei der Mann für das Vorausschauende“, erwidert Jakob.

„Ja, davon sind wir überzeugt“, antworten Harry und José im Gleichklang.

Jakob schaut nachdenklich in sein Glas. Jetzt hat er verstanden. Seine Freunde wollen, dass er Gesundheitsminister würde. Genauer gesagt Bundesgesundheitsminister. Für das ganze Land. Einfach so, wollen das die Freunde.

„Warum wollt ihr, dass ich auf so einen Posten hinarbeite? Ich kann das noch nicht erkennen. Von dir Tom weiß ich, dass du kein Ministeramt anstrebst. Und du Harry, du Krankenkassenoberster, du könntest schon eher interessiert an mir sein. Dein Zugangsdrang zu gesundheitspolitischen Entscheidern ist selbst mir verständlich. Und bei dir José bin ich mir überhaupt nicht sicher. Du denkst primär wissenschaftlich, nicht geschäftsorientiert. Erklärt es mir, ich kann es nicht verstehen.“

„Das machen wir“, antwortet Tom. „Ich versuche es auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Du weißt, dass der Kern unseres Gesundheitswesens die gemeinsame Selbstverwaltung ist. Bis dahin klar?“

„Natürlich“, erwidert Jakob.

„Siehst du“, antwortet Tom, „bis dahin klar. Aber danach nicht mehr. Aus Selbstverwaltung ist nämlich Selbstbedienung geworden. Jeder Akteur in der gemeinsamen Selbstverwaltung bedient sich nach Belieben am System. Die Ärzte, die Physiotherapeuten, die Apotheker, die Krankenhäuser, die Krankenkassen, einfach alle. Fehlt noch einer? Jeder nimmt, was er bekommen kann.“

„Übertreibst du nicht?“, fragt Jakob.

„Nein, ich übertreibe nicht. Ich, oder besser wir, können gut verstehen, dass du dich überrumpelt fühlst. Gesundheit war bisher nicht dein Thema…“

„Und soll es jetzt werden“, unterbricht Jakob.

„So ist es.“ José meldet sich zu Wort. „Gesundheit und Wirtschaft sind untrennbar verbunden. Tom erwähnte schon, dass die Bundesländer ihren gesetzlichen Investitionspflichten für die Krankenhäuser nicht nachkommen. Aus verschiedenen Gründen. Lassen wir das jetzt, es führt zu weit. Es ist auch nur ein Beispiel.“

Wieder entsteht eine Gedankenpause. Die Freunde warten auf eine Antwort von Jakob.

„Es ehrt mich, dass ihr euch derartige Gedanken macht. Aber ganz ehrlich, ihr stellt euch das sehr einfach vor.“

„Das hätte ich bis vor kurzem auch gedacht“, erwidert Tom. „Seitdem ich mitbekomme, was so diskutiert und geplant wird, halte ich alles für möglich. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Namen da fallen. Die Dimension der Planspiele hat mich vollkommen überrascht. Warum sollen wir uns heraushalten?“

„Und ich bin euer Ball im Spiel. So stellt ihr euch das doch vor“, entgegnet Jakob verärgert.

„Nein so ist es nicht“, sagt José. „Es ist unsere Sorge. Die lässt sich in wenigen Sätzen nicht erklären. Wir sind ja schon froh, wenn du uns ein Signal geben würdest. Das Signal, dass du dich mit dem Gedanken befassen wirst. Dann reden wir nochmal drüber.“

Jakob denkt angestrengt nach. Hält sein Glas fest, schiebt es hin und her, blickt seine Freunde einzeln an, seufzt kurz und richtet sich gerade auf.

„Ich gebe euch Recht. Bei der Dimension dessen, was heute in den Begriff Gesundheitswirtschaft eingeht, nämlich die besagten 300 Milliarden Euro und mehr, sind wir tatsächlich mitten in der Wirtschaft angekommen. Übrigens, der Begriff Wirtschaft gefällt mir überhaupt nicht. Gesundheitswesen ist für mich verträglicher.“

„Wenn es nur das ist“, antwortet Tom.

Jakob fährt fort. „Was mir an euch gefällt, das ist euer vorrausschauendes Denken. Ich habe die Gesetze zur Gesundheitspolitik mitentschieden, als Abgeordneter, wie jeder andere auch. Aber nicht mitgedacht. Gedacht habe ich mir, dass die Leute im Gesundheitsministerium schon wissen, was in ihren Gesetzesvorlagen drinsteht. Mehr nicht. Jetzt, wo ihr es sagt, sind es Entscheidungen auf Vorgänge, die lange vorher gelaufen sind. Das ist keine vorausschauende Politik.“

 

„Ist es nicht“, erwidert José. „Womit wir wieder bei unseren Sorgen sind. Wir erkennen keine Konzepte. Gesundheitspolitik ist kein Schwerpunkt in der Politik, ausgenommen die Pflege. Die wird derzeit voll ausgespielt und von den unterschiedlichsten Interessenten befeuert. Stimmt doch Harry, oder?“

„Ich sage besser nichts zur Pflege. Ich könnte euch sagen, was sie kostet, wenn sie auf einem attraktiven Niveau wäre. Später ja. Erst einmal müssen wir Jakob überzeugen.“

„Überzeugt bin ich noch nicht“, antwortet Jakob. „Aber, wie sagt man, angestachelt. Die Nähe zur Wirtschaft ist ein tragendes Argument. Aber mal ehrlich, von Gesundheit, von Gesundheitspolitik habe ich herzlich wenig Ahnung.“

„Womit wir mitten im Thema sind, Jakob. Genau das wird unsere Aufgabe sein. Wir coachen dich, wir bringen dir Gesundheitspolitik bei.“

„Du siehst, so gemein sind wir nicht“, sagt José. „Wir sagen nicht, du sollst, ohne dir unsere volle Unterstützung zu versichern. Du wirst der erste Resort Minister sein, der wirklich Ahnung von seinem Fach hat.“

Die letzte Bemerkung von José entspannt die Diskussion. Jakob beteiligt sich jetzt viel lockerer an dem Gespräch. Es ist wieder so wie früher, wenn sie engagiert die Themen durchkauten. Am Ende zieht Tom einen Umschlag aus der Jacke und übergibt ihn Jakob.

„Hier ist noch was zum Einschlafen, nein lies es besser, wenn du ganz wach bist. Es ist ein Papier, von uns dreien verfasst. Darin findest du noch einmal unseren Ansatz. Wir haben kurz dargestellt, welchen Weg unser Gesundheitssystem gemacht hat. Und es sind die Komponenten, die Player, genannt, die heute das Sagen haben. Die sollst du verstehen lernen, darin wollen wir dich fit machen. Zum Wohlergehen unseres Gesundheitswesens. Du wirst das wollen.“

Jakob fährt nachdenklich nach Hause. Seine Gedanken sind gefangen von dem Treffen mit seinen Freunden. Beinahe hätte er einen Fußgänger auf der Motorhaube gehabt, als er in seinen Kiez einfährt. Um diese Zeit wechselt das Partyvolk stimmungsgeladen aus den Kneipen in die Clubs. Wirtschaft, sein Fach, und Gesundheit, nicht sein Fach, erscheinen ihm an diesem Abend bezugsreicher, als bisher gedacht. Mal abwarten, was Isabell dazu sagen wird.

Sie sehen sich nicht jeden Tag. Isabell besteht auf zwei getrennten Wohnungen. Anders könne sie nicht arbeiten, auf die Rückzugsoase keineswegs verzichten. Weil es so bleibt, empfindet auch Jakob, dass Rückzug guttut. Sie telefonieren fast täglich, manchmal nur ein kurzes Hallo, ganz oft brauchen sie sich gegenseitig. Um den Tag abzuschließen, um Gefühle auszutauschen, um sich für anstehende Herausforderungen einzurichten. Das hilft ungeheuer. Jeder hat sein eigenes Terrain, völlig anders, aber längst nicht mehr fremd. Einer ist Ratgeber des anderen. Aber nur, wenn es sein muss, wenn er gebraucht wird. Oft reicht es schon, wenn sie ein Thema nur anreißen. Bereits wenige Gedanken, von dem anderen ausgesprochen, können einen gangbaren Weg durch das Dickicht bahnen. Jakob will mit Isabell über die Idee seiner Freunde reden. Über die Idee, mehr ist es in seinen Augen noch nicht. Aber keine Bemerkung zu Isabell, bevor er das Papier gelesen hat.

Es vergehen zwei Tage an denen ein Termin und eine Sitzung die andere jagt. Schließlich findet er Zeit für das Papier. Es trägt die Überschrift „Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“.

Jakob liest den Text seiner Freunde.

Eigentlich müsste der Staat das Gesundheitswesen organisieren und im Griff haben. Wer denn sonst, wenn nicht er. Dass seine Bürger gesund und leistungsfähig bleiben, ist doch wohl Voraussetzung für ein funktionierendes Staatsgebilde. Oder anders gesagt: die Aufgabe ist von öffentlichem Interesse.

Er tut es aber nicht. Warum nicht? Vielleicht aus erzieherischen Überlegungen. Um zu demonstrieren, wie schwierig es ist, Gesetze zu machen und dann mit den Gesetzen zu leben. Vielleicht auch um seine Mitbürger am Gemeinwesen aktiv zu beteiligen. Staat sind wir doch alle. Den gewählten Vertretern die ganze Last des Staates aufzubürden, das soll es nicht sein.

So hat der Staat, für uns alle, die Selbstverwaltung erfunden. Selbstverwaltung ist die organisierte Mitwirkung an Aufgaben, die durch Gesetze definiert sind. Natürlich, oder zum Glück, muss nicht jeder mitmachen, an der Selbstverwaltung. Da es eine öffentliche Aufgabe ist, also etwas wovon alle profitieren sollen, wurden Institutionen geschaffen, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigen.

Selbstverwaltung gab es schon im Mittelalter und davor. Die ging nicht vom Staat aus, sondern von Handwerkern und Kaufleuten. Besonders erfolgreich war die Hanse, eine Vereinigung von Kaufleuten, die ihre Waren auf Schiffen über die Nord-, und Ostsee transportierten. Die Sicherheit der Transportwege und die Vertretung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen machten die Hanse stark und die Hansestädte reich.

In Zünften organisierten sich vom Mittelalter bis in das neunzehnte Jahrhundert die Handwerker eines Standes. Heute würden wir sagen, dass die jeweilige Berufsgruppe ein soziales und ökonomisches Netzwerk bildete. Diese Netzwerke gibt es nach wie vor. Heute heißen sie Körperschaften und sind nicht mehr freiwillig, daher auch der Begriff „öffentlich-rechtlich“.

Mag es einem gelegentlich auch anders vorkommen, so sind die Handwerks-, Ärzte-, und Rechtsanwaltskammern keine mafiösen Vereinigungen, sondern gesetzlich vorgeschriebene Körperschaften. Die Mitgliedschaft in diesen, selbstverwalteten, Kammerberufen ist allerdings Pflicht.

Bleiben wir beim Gesundheitswesen und blicken wir zurück in das 19. Jahrhundert. Zurück bis zum ersten deutschen Kaiser, Wilhelm I. Es ist die Zeit des Wandels vom Agrar-, zum Industriestaat. Schlechte Arbeitsbedingungen in den Fabriken führten zu Streiks und zur Gründung der Arbeiterbewegung. Reichskanzler Otto von Bismarck erkannte die Sprengkraft der extremen sozialen Gegensätze. Er sah die Monarchie und das begünstigte Bürgertum in Gefahr. Durch die Einführung der staatlichen Sozialgesetzgebung erhoffte er sich, den Sozialdemokraten, der treibenden Kraft, ihre politische Grundlage entziehen zu können.

Auf Bismarcks Initiative verabschiedete der Reichstag am 15. Juni 1883 das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“. Versicherungspflichtig waren Arbeiter, die mehr als 2000 Mark im Jahr verdienten. 2/3 der Beiträge bezahlte der Versicherte, 1/3 der Arbeitgeber. Eine Gesetzgebung, die dem Staat nichts kostete. Davon betroffen waren nahezu alle lohnabhängigen Beschäftigten im Kaiserreich. Das klingt nach viel, betraf jedoch in der Anfangszeit nur 9 % der Bevölkerung. Bei einem Wechsel des Arbeitgebers blieb der Versicherungsschutz erhalten. Das war neu gegenüber den betrieblichen Krankenversicherungen, die es vorher schon gab. Im Krankheitsfall trug die Kasse die Kosten für die ärztliche Behandlung und für die Medikamente. Vom dritten Krankheitstag an zahlte die Versicherung die Hälfte des durchschnittlichen Lohnes. Das reichte aber nicht, um eine vierköpfige Familie zu ernähren.

Bismarcks wegweisende Krankenversicherung für Arbeitnehmer war im Ansatz ein Gesetz zur Verhinderung politischer Unruhen. Also in erster Linie politisch, in zweiter Linie sozial. Der politische Ansatz überwog. Auf Druck der erstarkenden Arbeiterbewegung folgte ein Jahr später die Unfallversicherung. 1889 verabschiedete der Reichstag die Invaliditäts- und Altersversicherung. 1891 kam die Rentenversicherung dazu. Sie wurde ab dem 70. Lebensjahr wirksam, allerdings nicht für viele, weil kaum einer 70 Jahre alt wurde. Alle Komponenten zusammen bilden die Sozialversicherung. Seinem Initiator zu Ehren die Bismarck’sche Sozialversicherung.

Otto von Bismarck hat den Startschuss gegeben für die Entstehung eines Systems, das einmal als Selbstverwaltung begann und zur Selbstbedienung verkam: das heutige deutsche Gesundheitssystem.

Unser heutiges Gesundheitssystem ist nicht auf dem Reißbrett entstanden, sondern von dem Geist seiner langen Entstehungsphase geprägt. Wie man bei Bismarck erkennen kann, war die Krankenversicherung für Lohnarbeiter keine soziale Wohltat, sondern politisches Kalkül. Aber daraus wurde die Versicherung, die heute fast 90 % der Bevölkerung unseres Landes im Krankheitsfall gesetzlich absichert. Aus dem ursprünglich einfachen Konstrukt ist aber auch ein Konglomerat aus Institutionen, Berufsgruppen und Einrichtungen entstanden, die, gelinde gesagt, unterschiedliche Interessen verfolgen.

Unsere Aufgabe wird sein, dieses Konglomerat zu entwirren. Wir möchten dir das Zusammenspiel der konträren Komponenten verständlich machen. Wir wollen dir die Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen einzeln vorstellen. Du sollst deren Struktur, deren Handlungsweise und deren Absichten erkennen. Es sind einige, von denen wir sprechen werden: das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG), die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV).