Die Didaktik der Biologie - Biologieunterricht als Bildungsaufgabe

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Ursächliches Verständnis erfordert neben der sprachlichen Präzision (zur Konservierung der Traditionslinie) noch viel Anschauungsmaterial zum Begreifen und Verstehen und das Einüben der naturwissenschaftlichen Denkweise. Assoziationen, Analogien, Variation und Redundanz als individuelle und flexibel zugeschnittene Hilfen. Aha-Effekte führen zu Verstehen und dem Schätzen des Erworbenen. Indem man es in das Grundwissen integriert, wird es gefestigt und kann angewendet werden.

Mehrwert?

Da in beiden Fällen das Ziel erreicht wurde (und nur das zählt in der Wirtschaft), fällt vielen der Mehrwert zwischen "immer wenn, dann ..." und "immer wenn, dann ... deshalb" nicht auf. Wem der Unterschied auffällt, der sieht auch, dass man gleichzeitig kritische und unbequeme Menschen erhält. Eigentlich benötigt die Wirtschaft viele mittelqualifizierte und austauschbare Arbeitnehmer - keine Mitdenker. Bei der Vermittlung von "Kochrezepten" (in den Bildungsstandards "Kompetenzen" genannt) sind auch die Anforderungen an beide Seiten geringer; das vereinfacht den Schulalltag.

Mehrwert !

Falls man es nicht bemerkt hat: Hier ist die Stelle, an der entschieden wird, ob man Rädchen oder Mensch wird. Nur wenn man Zusammenhänge und damit Entscheidungsräume sieht, kann man auch die Freiheit, die man hat, nutzen. Sonst ist eben alles alternativlos.

Bildungsfeld 2: Geisteswissenschaften und Kunst - Systeme von Werten und Maßstäben

Jeder kann und muss sich selbst um „Ideen“ bemühen, um Regeln und Prinzipien, um einen Sinn seines Lebens.

Entscheidungen sind in einer freiheitlichen Ordnung riskant, ungenau, nicht verifizierbar und ewig hinterfragbar. Zur Begründung müssen Wertvorstellungen beigebracht werden. Im Diskurs muss argumentiert und abgewogen werden.

Jeder junge Mensch muss dafür motiviert werden und sich auch bereitwillig darauf einlassen, Werte zu erwerben bzw. zu diskutieren und nach Prüfung anzunehmen.

Die Ergebnisse sind subjektiv, spekulativ, diskutierbar, aber nicht beweisbar.

Testfragen: „Woher wissen Sie das?“ und „Na und?“ - Willy Hochkeppel

Mehrwert !

Hier ist die Stelle, an der zwischen Uniformität im Denken und Pluralismus der Werte entschieden wird. Grundlage ist ein eigenes System von Regeln und Normen - dieses "Denkgebäude" eröffnet Denkräume und damit Entscheidungsräume. Auf dieser Grundlage kann man Diskurse führen, Grenzen der Toleranz abstecken, ein Dogma erkennen, wenn man es vor sich hat ... Alternativen sind der Regulierungswahn der Politiker bzw. die Flucht in Shopping und Pauschalreisen.

Man sollte versuchen, ein Grundgerüst von festen Regeln (deontologische Ethik) zu entwickeln, die aber (konsequentialistisch) entschärft werden, indem man sie situationsbedingt überprüft und als modellhafte Regulative des Handelns (Moral) ansieht, die jederzeit diskutierbar sind. Die Entscheidungssituation und Entscheidungseinschränkungen sind von Bedeutung.

Das Ziel, der Zweck der Handlung, ist nicht objektiv bestimmbar, sondern wird von dem einzelnen Menschen subjektiv durch Reflexion in es projiziert (Critic der Urtheilskraft). "Zweck" ist ja die Folge, die der Handelnde aus der Gesamtheit der Handlungsfolgen besonders im Blick hat und anstrebt. Ein oder mehrere Folgen aus der Gesamtheit können für andere Personen ungünstige Nebenwirkungen haben, die der Handelnde bewusst in Kauf nimmt.

Regeln und Normen:

Im Laufe des Sozialisationsprozesses und der eigenen Bemühungen konstruiert jedes Individuum ein mehr oder weniger durchdachtes, mehr oder weniger schlüssiges System von Regeln und Normen.

Es gibt - auch oder gerade in der Philosophie - keine unumstößlichen Wahrheiten; deshalb sollte man auf die Vielfalt der Sichtweisen setzen. Hilfen und Anregungen geben „Probehandlungen“ in den virtuellen Welten der Literatur und Kunst, in anderen Zeiten und in anderen Ländern und die Auseinandersetzung mit anderen Glaubenssystemen (vergleiche Abbildung). Die vorgefundenen Denkgebäude sollten nicht ohne Prüfung akzeptiert werden; in den eigenen Denkräumen sollten die Deutungsmuster variiert, durchgespielt und durchdacht werden. Die Resultate sind vorläufig.

Die Auseinandersetzung mit Texten - zwei Beispiele

Bei der Beschäftigung mit den Texten soll nicht die Interpretation, sondern die Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit dem Inhalt im Mittelpunkt stehen. Gefragt ist eine Hermeneutik, die bei der Interpretation Fragen stellt, die mit der Lebenserfahrung der Leser verbunden sind. Es geht um Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn, um „das Gedanken-Anregungs-und-Aufregungs-Verfahren“. Überlegungen zur Ästhetik sollten eingeschlossen sein.

Man muss nicht den radikalen Standpunkt von Susan Sontag mit "Against Interpretation" einnehmen, aber die Überlegungen Wolfgang Isers zur "Appellstruktur der Texte" sollte man einbeziehen: Die Vorstellung des Lesers erfüllt die Textwelt mit Leben. Die Bedeutung der literarischen Texte wird erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Ergebnis einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen.

Die zwei Annäherungsmöglichkeiten, die Richard Rorty für große verstorbene Philosophen vorgeschlagen hat, kann man auf literarische Texte und Kunstwerke übertragen. Sie versprechen Dialogmöglichkeiten und damit einen Gewinn, der in der Prüfung der eigenen Wertvorstellungen besteht und zu dem rein ästhetischen Wert des Textes hinzukommt.

Historische „Rekonstruktion“ - Interpretation

Es wird versucht, die geistige Landschaft der Personen zu erschaffen, indem man ihre Handlungen und Gespräche interpretiert, indem man sich in ihre Situation versetzt, ihre Wertvorstellungen und ihr Wissen reflektiert und sich vielleicht ausmalt, wie es wäre, ihre Sprache selbst zu benutzen. Dadurch lernt man eine andere Form geistigen Lebens kennen. Das kann nicht nur zu Einsichten, sondern auch zu Toleranz führen.

Rationale „Rekonstruktion“ - Interpretation

Man muss sich nun zwangsläufig anachronistisch verhalten: um die verschiedenen Personen zu unseren Gesprächspartnern zu machen, müssen wir Vokabeln und Probleme unserer Zeit in ihre Zeit und ihre Gedanken „einführen“. Stellen wir uns ein Gespräch mit ihnen vor, so können wir unsere Herausbildung von Wertvorstellungen und Sichtweisen als lange währenden Meinungsaustausch begreifen. Das „Gespräch“ kann man nur mit seinem eigenen Weltbild als Grundlage führen und es folgt ein Diskurs. Man kann seine Orientierung und seine Vorurteile mit denen in dem Text enthaltenen vergleichen und so die eigene Position klären und prüfen. Man kann den Text „anwenden“; er hat uns etwas zu sagen. Die von außen angebotenen Quellen von Werten, müssen im Inneren Resonanz finden.

Diese Annährungen verlangen eine intensive individuelle Auseinandersetzung mit den Texten und können zu zwei Arten von Diskursen führen: Text ↔ Person x und auch Person x ↔ Person y.

Ein gelungenes Beispiel für eine intensive Auseinandersetzung mit Literatur ist „The Reader Organisation“ (TRO, Liverpool). Jane Davis, der Initiatorin des „shared reading“ als Möglichkeit der Erwachsenenbildung, ist es gelungen, dass eine ganz heterogene Gruppe laut liest und diskutiert. Gelesen werden komplexe Texte, die existentielle Krisen und extreme Bewusstseinslagen schildern. Man kann sich über die Probleme und das Fehlverhalten einer Figur unterhalten, ohne das eigene Fehlverhalten oder die eigenen Probleme ansprechen zu müssen.

Thomas Böhm

Hans-Georg Gadamer spricht in solchen Fällen von einer Horizontverschmelzung; vermeintlich getrennte Sichtweisen (Vergangenheit - Gegenwart, Autor - Leser usw.) verschmelzen beim Verstehen.

Lesen ist bildend - das wird verkannt. An die Stelle des Lesens tritt die Auslese.

Schlussfolgerung:

Es gibt eine Wahrheit, die sich aus vielen Wahrheiten zusammensetzt. Sowohl literarische, humanistische Bildung, als auch umfassendes naturwissenschaftliches Verständnis sind wichtig. Bei jeder Handlung findet eine fallweise Vernetzung zu einer aktuellen Einheit statt.

Diskurs"kultur" in Deutschland

In einer Rezension von "Werte" (Andreas Urs Sommer: Werte, Stuttgart 2016) geht Michael Pawlik kritisch auf die Inhalte des Buches ein und ergänzt das Bild an vielen Stellen durch eigene Analysen und weiter führende Interpretationen. Es werden die Vorteile, die Werte gegenüber Prinzipien und Normen haben, untersucht: Pluralisierung ist gegeben, sie sind veränderbar, austauschbar, nicht messbar, kaum zu definieren. Es wird behauptet, dass sie gelten; schon die Frage nach einer Begründung, wird als politisch nicht korrekt empfunden. Es ist vorteilhaft, empört oder beleidigt zu sein (zu erscheinen).

Bei Diskursen - falls man sie so nennen kann - besteht in Deutschland die Tendenz, sämtliche Sachfragen in den Wertebereich zu verlagern und sie so zu Moralfragen um zu deklarieren. Jeder kann an dem "Diskurs", der häufig eine Beschimpfung ist, teilnehmen. Emotionen ersetzen Argumente. Problemlösungen werden verhindert. Am leichtesten ist ein solches borniertes Leben in einer abgeschotteter Gemeinschaft Gleichgesinnter (vergleiche USA) zu führen. Die Auswirkungen auf die politische Kultur eines Landes sind verheerend.


Schon diese einfache Übersicht der Bildungsziele zeigt bei näherer Betrachtung aus der Sicht des Individuums Spannungsbögen, die ausbalanciertes Verhalten erfordern:


Begriffe wie Arbeitsmarktverwertbarkeit zeigen, dass es der Wirtschaft nicht um den ganzen Menschen geht, sondern um Humankapital, dessen Arbeitskraft bei Bedarf kurzfristig und preiswert verfügbar sein soll. Deshalb sollte es auch Bildungspolitikern klar sein, dass man die Forderungen der Wirtschaft an Schule und Bildungspläne nicht unbesehen übernehmen kann. Schule und Bildung müssen den ganzen Menschen und sein zukünftiges Leben im Blick haben.

 

Literatur

Böhm, Thoma: Stell dir vor, da ist kein Himmel, FAZ vom 19.09.2015

Crawford, Mattthew nach Kullmann, Kerstin: Basteln fürs Selbst, Der Spiegel 46/2016

Dewey, John: Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989 (verfasst kurz nach dem 1. Weltkrieg)

Dewey, John: Die Suche nach Gewißheit, Frankfurt 1998

Dreyfus, Hubert und Charles Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus, Berlin 2016

Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit für Igel, Berlin 2012

Foucault, Michel: Die Sorge um sich, Frankfurt 1986

Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I, Tübingen 1990

Held, Klaus: Treffpunkt Platon, Stuttgart 2001

Hochkeppel, Willy: Mythos Philosophie, Hamburg 1976

Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt 1993

Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt 2008

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Frankfurt 2012 (Erstauflage 1987)

Pawlik, Michael: Zum Juchtenkäfer fällt jedem was ein, FAZ vom 14.09.2016

Popper, Karl. R. und John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn, München 1996 (Erstausgabe 1977)

Popper, Karl R.: Alles Leben ist Problemlösen, München 1995

Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie, Frankfurt 2002

Rorty, Richard: Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt 2000

Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 1972

Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Berlin 2009

Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, Berlin 2010

Sontag, Susan: Against Interpretation, New York 1966

Whitehead, Alfred North: Die Ziele von Erziehung und Bildung, Frankfurt 2012

2. Bildung für alle?

Teuer und exklusiv

In England ist ein Abschluss an einer Eliteschule (teuere Internate) eine gute Voraussetzung, einen Studienplatz in Oxford oder Cambridge (hohe Studiengebühren) zu erlangen. Mit dem Examen tritt man in das Beziehungsnetz der Ehemaligen ein.

41 Premierminister und knapp 150 Nobelpreisträger studierten in „Oxbridge“. Bei den Premierministern liegt der Schwerpunkt auf Oxford, bei den Nobelpreisträgern deutlich auf Cambridge.

Wie Martin Lanz in einem Artikel in der NZZ vorrechnet, liegen in den USA die Kosten für ein Bachelor - Studium bei 25.000 $ (z.B. für Einheimische an der staatlichen University of Minnesota) und 60.000$ (z.B. an der privaten Princeton University) pro Jahr. Nach dem Studium tritt man nach vier Jahren mit 100.000 $ bzw. 240.000 $ Schulden in das Berufsleben. Wenn man nicht gleich eine Anstellung findet, wird die Lage prekär.

Das jährliche Schulgeld für einen Bachelor ist seit 1995 real um 50% gestiegen. Es gibt zwar Finanzhilfen, die aber nicht mit der Preisentwicklung Schritt halten.

In Frankreich sind die Gymnasien sogar offiziell (in Deutschland nur inoffiziell) unterschiedlich gut. Da man das Gymnasium seines Wohnbezirks besuchen muss, reicht es nicht aus, Geld zu haben (wie in England), sondern man muss zusätzlich im richtigen Einzugsgebiet (mit hohen Immobilienpreisen) wohnen. Um die Aufnahmeprüfung an einer der Pariser Eliteuniversitäten zu bestehen, ist ein teures und stressiges Vorbereitungsjahr (privat finanziert) hilfreich, wenn nicht gar Voraussetzung.

In asiatischen Ländern gibt es ähnliche Verhältnisse. In Japan z.B. ist es wichtig, schon in dem „richtigen“ Kindergarten einen Platz zu erlangen. In Südkorea besuchen Kinder, deren Eltern es sich leisten können (200 - 300 EUR pro Fach und Monat), zusätzlich eine private Nachmittagsschule (etwa 28.000 „Hagwons“ alleine in der Hauptstadt).

Thomas Nipperdey geht auf die Verhältnisse in Deutschland ein. Das humanistische Gymnasium war im 19. Jahrhundert die Regelschule (auch für den Adel) der höheren Bildung in Deutschland. Die Zahl der Abiturienten war gering: In Preußen waren es zwischen 1830 und 1840 etwa 2‰ der Einwohner. Trotzdem kann man das Gymnasium als relativ "offen" bezeichnen, weil es zunächst jeder mit Begabung und den finanziellen Mitteln der Eltern besuchen konnte. Das Schulgeld betrug in Preußen durchschnittlich 50 Mark pro Jahr (ein Volksschullehrer in der Stadt verdiente etwa 750 Mark im Jahr). Die Zahl der höheren Schüler (Jungen!) lag auch deutlich höher als die der Abiturienten - in der Anfangszeit des Gymnasiums waren Frühabgänger ("Einjähriges") typisch. Das Schulgeld war eine Barriere, aber auch ein Schleuse des sozialen Aufstiegs, falls Eltern der Mittelschicht zu dem finanziellen Opfer bereit waren.

Das Gymnasium war in seinen Stoffen - den alten Sprachen, der Literatur, dem unmittelbar Nutzlosen - exklusiv. Das hielt die Unterschicht und große Teile der Mittelschicht fern, aber auch Jungen aus Handwerkerfamilien und Kinder von Kaufleuten und Unternehmern.

Ab 1850 mehrten sich die kritischen Stimmen, aber eine große Lobby verhinderte Veränderungen und das Unwahrscheinliche geschah: die Regelschule der höheren Bildung blieb das humanistische Gymnasium.

Das Unwahrscheinliche setzt sich bis heute fort. Bis auf den Austausch der alten Sprachen durch moderne hat sich an den Stundentafeln kaum etwas geändert.

Schützen in England und Frankreich in erster Linie die hohen Kosten die Privilegien, ist die Lage in Deutschland „subtiler“ und vielschichtiger. Hier arbeiteten Lehrplan (Kultusministerium), Lehrer (Philologen - „Freunde der Wissenschaft“ nicht der Kinder) und Eliten von Anfang an (Beginn des 19. Jahrhunderts) am Schutz der Privilegien zusammen. Das Bündnis besteht seit 200 Jahren.

Die Werte und Inhalte, die das Gymnasium (zu Beginn des 19. Jahrhunderts) vermittelte, standen jenseits der Welt der Arbeit, Technik und Industrie. Es ging um den neuhumanistischen „Geist“. Naturwissenschaften wurden weitgehend durch Mathematik repräsentiert. Schon im 19. Jahrhundert wurde das Fach Mathematik, das keine Naturwissenschaft ist, zur Verschleierung des Fehlens von naturwissenschaftlichen Fächern in den Stundentafeln missbraucht.

Die Kraft des „Geistes“ ließ bald nach und wurde oft zum museal-antiquarischen Bildungsgut und der Unterricht tendierte zu Rhetorik und Formalismus.

Die Gymnasiallehrer organisierten sich schon früh als eigener Berufsstand. Sie fühlten sich dem akademischen Beamtentum verbunden und hatten das Ziel, den Elitecharakter des Gymnasiums zu erhalten.

Die Schule hatte sich (teilweise) von der Herkunft verabschiedet, aber noch nicht auf Zukunft umgestellt.

Auch heute noch dient das Gymnasium eher dem Schutz von Privilegien als der Vorbereitung auf die Zukunft.

Bildung für alle? - Nein!

Liste von Gründen, die der Chancengleichheit entgegenstehen

Die Gründe und Fehler, die zu Benachteiligungen führen, sind viele, zum Teil weniger bedeutend erscheinende, die sich aber rückkoppelnd verstärken.

Grund 1. Wahlüberlegungen der Eltern

Akademikereltern wählen nicht; für sie ist es selbstverständlich, dass ihr Kind ein Gymnasium besucht. Die Frage ist dann nur: Wie erreicht mein Kind das Gymnasium? Andere Eltern beziehen in ihre Überlegungen die Länge des Schulweges und die Verkehrsmittel mit ein und suchen u. U. die nächstgelegen Schule aus.

Grund 2. Habitus („Stallgeruch“)

Ein Mensch der Oberschicht mit seinem ihm typischen Habitus – nach Pierre Boudon - nimmt die Welt in einer bestimmten Weise wahr, urteilt nach entsprechenden Wertvorstellungen, entwickelt seinen ihm eigenen Geschmack (Essen, Kleidung, Wohnungseinrichtung, Freizeitgestaltung, Umgang mit Kunst, besonders Musik und Literatur).

Er besitzt gute Umgangsformen („Manieren“), die er im Kreis der Bekannten bestätigt findet.

Der „Habitus“ der Familie prägt den des Kindes und er liegt seinen Entscheidungen und seinem Handeln zugrunde. Bis auf wenige Ausnahmen wird dieser Habitus durch die Schule nur geringfügig modifiziert.

Ausführlich und eindrucksvoll hat Bruno Preisendörfer die Nachteile dargestellt. Die tradierte Überlegenheit der Mitglieder aus "guter Familie" gegenüber den Angehörigen "niederer Herkunft", gehen auf den Habitus zurück.

Es sind nicht nur der materielle Wohlstand und die finanzielle Sicherheit sondern die unterschiedliche Lebenswelt und ihre Umgangsformen, die zu Selbstbewusstsein führen. Es ist nicht die Kleidung, die ein Junge trägt, sondern die Art, wie er sie trägt. Es sind die Sportarten, die er beherrscht. Wenn das Portrait des Gründers der Apotheke im Büro, das von einer Putzfrau sauber gehalten wird, auf den jetzigen Besitzer herabschaut, so ist der Habitus deren beider Kinder, ihr Denken, ihr Lebensgefühl ganz unterschiedlich.

Bestimmte Jungen besitzen eine "ererbte" Gelassenheit, eine angeborene freundliche Gewissheit, dass ihr Platz in der Welt schon reserviert ist.

Merkwürdigerweise wird auf diesen Punkt in pädagogischen Untersuchungen selten eingegangen; die Effekte lassen sich auch nicht messen.

Auch Heinz Bude (2011) beschäftigt sich mit diesem Themenfeld. Er legt dar, dass selbst ein „Aufstieg“ nur ein Teilerfolg ist. Die Aufsteiger haben etwas aus sich gemacht, weil sie sich den Regeln und Gesetzen "der Löwen" unterworfen haben. "Die Füchse" (Arbeiter-, Migrantenkinder) sind zu Löwen geworden. Sie haben mit dem Habituswandel einen Teil ihrer Identität aufgegeben.

Grund 3. Arbeitsplatz und Hilfen

Hier geht es nicht um direkte, punktuelle Hilfen bei Hausaufgaben, sondern um die Atmosphäre und einen ungestörten Arbeitsplatz.

Eine Büchersammlung, ein Abonnement einer Tageszeitung, Besuche von Museen, Ausstellungen, Konzerten und Opernaufführungen, selbst geplante Reisen (statt „all inclusive“ Urlaub), eine Familientradition mit einer Kommunikation auch über Briefe sind ein Umfeld, das anregt offen zu sein und bietet Hilfe bei der Beurteilung von Fernsehsendungen mit C- und D-Promis.

Manche Kinder haben schon frühzeitig die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen.

Nicht alle Wohnverhältnisse erlauben es, dass dem Kind eine eigenes Zimmer mit einem eigenen Arbeitsplatz zur Verfügung steht.

Zeigen die Eltern Interesse an den Lernfortschritten in den einzelnen Fächern (keine Kontrolle) und regen das Erstellen von Zeit- und Arbeitsplänen an, geben Hinweise auf Nachschlagemöglichkeiten oder schlagen Lösungswege oder Strategien vor, so sind das hoch einzuschätzende indirekte Hilfen.

Wichtig ist auch, dass so zum Ausdruck kommt, dass man die geistige Arbeit und das Lesen von Büchern schätzt und als Leistung ansieht.

Manchmal können auch direkte Hilfen nötig sein, wenn Verständnisschwierigkeiten vorliegen, weil das Kind nicht gut aufgepasst hat oder die Lehrkraft nur schlecht erklären kann. Es kann auch nötig sein, Unterrichtsstoffe, die an oder unter der Grenze zur Trivialität liegen, zu ergänzen oder darauf hinzuweisen, dass das noch nicht „alles“ ist.

Und dann sind da noch die Millionen, die jedes Jahr für Nachhilfe ausgegeben werden, ohne dass sich die Schule als ganzes oder einzelne (Mathematik-) Lehrkräfte schämen.

Während die einen in der Freizeit in Einkaufszentren herumhängen, haben die anderen einen durchorganisierten Wochenplan mit der Mutter als Taxifahrerin.

Grund 4. Sprache

Die Sprache spielt in der Schule die Hauptrolle; vom Sprachvermögen hängt alles ab. Die Meinungen der Eltern aus der Unterschicht interessieren die Gesellschaft kaum und sie selbst melden sich selten zu Wort („die schweigende Mehrheit“). Die Gesellschaft ist dann bei Demonstrationen (Pegida) und Gewalttaten (Fanal von Tröglitz) völlig überrascht.

Den Kindern „sprachloser“ Eltern fehlt nicht nur das Vorbild, sondern sie werden auch weniger in Gespräche einbezogen, erhalten deutlich mehr Ermahnungen als Ermutigungen. Nach Susanne Gaschke geben erste Untersuchungen Hinweise, dass sich die „Wortlosigkeit“ auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder auswirkt.

Ergänzt wird dieses Bild durch einen Bericht von Martin Spiewak: Eine amerikanische Studie (The Early Catastrophe) zeigte, dass umsorgte Kinder wohlhabender Eltern in den ersten drei(!) Lebensjahren 30 Millionen Wörter mehr hören als Kinder mit Eltern aus einfachen Milieus.

 

Es wäre eine der wichtigsten Aufgaben der Schule, dieser Ungleichheit entgegen zu arbeiten.

Das Gegenteil ist der Fall! Aus kurzsichtiger Bequemlichkeit (für alle Seiten) nimmt man langfristige gravierende Nachteile für ganze Schülergenerationen und Bevölkerungsteile in Kauf. Gemeint ist der Verzicht auf die Einhaltung von Rechtschreibregeln in den ersten Grundschulklassen, der Gebrauch von "klassik-light" Lektüren, die Verklärung von z.B. "Kiezdeutsch", die Hinnahme von Jugendsprache, Facebook - Gestammel und SMS - Abkürzungen, die Überführung von Alltagssprache(!) in "Leichte Sprache" mit dümmlichen Bildchen durch Behörden. - Dadurch bleiben viele Menschen - die, die man angeblich fördern will - auf ihr einfaches Sprachniveau beschränkt und sind dadurch von vielen Diskussionen über komplexere Themen ausgeschlossen. Verstehen, Wissen, Argumentieren entfallen. Anregungen und Ansporn bleiben aus.

Die Folge ist "Nudging" - das Gegenteil von Aufklärung. Wenn es um Geld geht, versuchen Politiker die Bürgerinnen und Bürger, die sie vorher dumm gehalten haben, in die aus ihrer Sicht gewünschte Richtung zu "stupsen". Man setzt nicht auf Einsicht, sondern versucht menschliche Schwächen auszunutzen. Auch Versicherungen versuchen immer häufiger zu entscheiden, was für uns gut und gesund ist; aus Datensammlungen bewerten sie das Verhalten nach ihren Kriterien und setzen Anreize, damit wir unser Leben ändern.

Da sich die negativen Folgen erst später einstellen und wir in einer komplexen Welt leben, haben die eigentlich Verantwortlichen immer Ausreden zur Hand. Wenn Lehrkräfte versagen, weisen sie die Schuld am Unwissen den "dummen" Schülerinnen und Schülern zu; wenn Pädagogen versagen, ist es die Gesellschaft, die Fehler gemacht hat. Der / die Dumme ist in beiden Fällen das Individuum, das fahrlässig um Chancen gebracht wurde.

Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, die Leistungen von Autoren zu schätzen und zu beurteilen: Sprachkunst, literarische Gestalt, Inhalte, geistige Debatten, ... Es fehlen häufig der Wortschatz und die Fähigkeit sich differenziert auszudrücken.

Falls man die Fähigkeiten der Leute nicht gering schätzte und selbst einen etwas größeren Überblick hätte, könnte man den "einfachen" Menschen tatsächlich helfen - nicht nur durch eine simple Anweisung für den gerade aktuellen Fall, sondern auch für zukünftige Fälle. Nötig wäre eine Einheit von Wort und Bild, bei der das Bild eine Funktion hat.

Ansätze bieten: Comics, Piktogramme, Infografiken (Otto Neurath), Bildwörterbücher (z.B. PONS Das große Bildwörterbuch) oder "Der Dinge-Erklärer" von Randall Munroe, der sich bewusst auf die 1000 am meisten verwendeten Wörter beschränkt und dadurch kreativ und anregend ist.

Sprache und Rechtschreibung spielen immer dann eine Rolle, wenn es ernst wird (Verträge, Bachelorarbeit, Bewerbungsschreiben, Vorschläge auf Konzernplattformen, ...).

Ein großer Wortschatz hilft, prägnant und passend zu formulieren. Sprache ist ein Erfolgsfaktor.

Sprache hat eine sozialisierende und individualisierende Energie.

Grund 5. Bücher - Bilderflut gegen Schriftwelt

Dag Solstad schildert in seinem Roman die Reaktion einer Schulklasse auf eine, wie ihr Norwegischlehrer Elias Rukla meint, originelle Sichtweise auf eine Nebenfigur in Ibsens Schauspiel "Die Wildente". Lehrer Rukla ist von seinem Geistesblitz begeistert - die Schüler langweilen sich und bringen es durch gekränkte Mienen zum Ausdruck. Es herrscht eine "strukturelle Feindseligkeit" gegen ihn und alles wofür er steht.

Es wird deutlich, dass sich hier zwei „Welten“ gegenüber stehen. Der Lehrer, der seine neue Sicht aus der Perspektive einer Nebenfigur vermitteln will und die Schüler, die für die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe keinen Bedarf mehr haben.

Die Szene ist überzogen dargestellt und zeigt aber besonders deutlich das Grundproblem der heutigen Schule:

BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, ...

Der kollektive Kern unserer Kultur ist eine Schriftwelt, die noch immer expandiert. Daneben gibt es die Computer- und Internetwelten, die in der Schulpraxis noch eine Nebenrolle spielen.

Die Lehrer leben in der Welt der Bibliotheken und kommunizieren (auch) über Briefe; die Schüler leben in den Fernsehwelten und Internetwelten und kommunizieren über das Smartphone. Sind die Fernsehwelten schon irreal, so werden sie von den virtuellen Spielewelten noch übertroffen. Nun ist „Bücher lesen“ genau wie „Rotwein trinken“ nicht ein Merkmal eines Menschen, sondern beides steht für eine Kombination von Eigenschaften - eben eine ganze Welt mit besonderen Ansichten. Aus dieser Lebenswelt mit besonderen Ansichten ergeben sich auch die Aussichten.

Viele Eltern und Jugendliche verkennen die Bedeutung von Büchern. Wenn die Familie bei Wissens- und Wertevermittlungen - aus welchen Gründen auch immer - nicht helfen kann, dann bleiben nur noch Bücher - und zwar viele. Grundwissen und Grundwerte lassen sich kaum aus dem Internet gewinnen, sondern nur durch eine Menge an Büchern. Die einzige Chance, die besteht, wird noch nicht einmal erkannt.

Grund 6. Bildungspläne und Stundentafeln

Denkt man an die Bildungsdefinition, die auch „die Lesbarkeit der Welt“ umfasst, und sieht sich die folgenden Stundentafeln an, so wundert man sich. Auf die „schiefe“ Weltsicht soll hier aber nicht eingegangen werden, sondern dargelegt werden, wie sich aus diesen Stundentafeln eine starke Benachteiligung der Kinder der „Unterschicht“ ergibt. In den Klassen 1 bis 4 sollen Grundlagen gelegt und Neugierde und Interesse geweckt werden. Die Klassen 5 und 6 als Startklassen entscheiden oft den weiteren Werdegang.

Die Analyse der Stundentafeln zeigt, dass Schule nicht auf die Zukunft, sondern auf eine vergangene Welt vorbereitet.

Die Zusammenfassung von Fächergruppen verdeutlicht die Schwerpunkte:

Die 50% Hauptfächer unter Betonung der Sprachen.

Fasst man Sprachen und musische Fächer zusammen, erhält man über 50%.

Alle Naturwissenschaften erreichen zusammen 15%.

Zur Klärung von Problemen und Schwierigkeiten steht 1 Stunde zur Verfügung.




Die Welt ändert sich rasant und in den alten Bundesländern ist alles beim Alten geblieben - die Schwerpunkte der Stundentafeln haben sich seit der Gründung der Bundesrepublik nicht geändert - keine Anpassung, kein Wandel, nur Jammern.

Aus dieser Schieflage folgen automatisch die zwei bekannten Probleme: Desinteresse an Mathematik und Naturwissenschaften und geringe Chancengleichheit.

Die Rechnungen verdeutlichen, dass fleißige Kinder, die in der Lage sind, einen Arbeitsplan aufzustellen und einzuhalten und einen Ort haben, an dem sie in Ruhe arbeiten können, sehr große Vorteile haben. Auf sie („die fleißigen Mädchen“) sind die Stundentafeln zugeschnitten. Ein zweites Feld, das anderen Kindern Chancen bietet, gibt es nicht.

Ziel sind die Kinder mit den „richtigen“ Eltern. Die Bereicherungen, die diese Kinder in der Familie erfahren haben, sind in einem Massenbetrieb durch „Fremde“ nicht auszugleichen oder gar nachzuholen. - Man muss aber Schule auch nicht so konstruieren, dass nur sie einen Vorteil haben. Neben diesem sprachlich-musischen Themenfeld muss ein zweites gleichgewichtiges Feld, das die reale Welt erklärt, eingerichtet werden.

Es gäbe damit ein zweites Feld, das die Bildung vervollständigt und das gleichzeitig zusätzliche Chancen eröffnet.

Kinder, die in einer bücherfreien Familie aufgewachsen sind und deren Eltern weniger Zeit zur Betreuung haben, sind oft technisch-naturwissenschaftlich interessiert. Falls das Interesse nicht da ist, lässt es sich aber wecken. Auf diesem Gebiet haben alle Kinder in unserer „merkwürdigen“ Gesellschaft die gleichen Voraussetzungen, nämlich keine. Dieses Gebiet ist, weil die Gesellschaft und die Politiker naturwissenschaftlich ungebildet sind, nicht „gymnasial“ und nur mit 15% vertreten. Um das zu verdecken, wird Mathematik zu den Naturwissenschaften gerechnet. Das ist unberechtigt und zeigt nur wieder die Unwissenheit. Glaubt man auch nur die Hälfte der Ergebnisse der Untersuchungen zum Mathematikunterricht, so ist klar, dass Unterricht mit diesen Inhalten und in dieser Form nur für wenige ein Chancen- und Ausgleichsfeld sein kann.