Kreative Leibtherapie

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Aus der Reihe: Semnos Lehrbuch
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2.1.5 Das Menschenbild der humanistischen Psychologie und das einfache Leibmodell der Kreativen Leibtherapie



Aus der Tradition der Humanistischen Psychologie und den daraus erwachsenen Therapien ist ein Modell des Leibverständnisses bekannt, das den Leib als Einheit von Körper, Seele und Geist versteht. Unter „Seele” werden dabei die emotionalen Empfindungen verstanden und unter „Geist” das Denken und die Imaginationen. Dieses Menschenbild wurde oft als „ganzheitlich” bezeichnet, um den Reduzierungen des Menschen zum Beispiel auf seine kognitiven Fähigkeiten entgegenzuwirken. Mit diesem Modell haben wir traditionell viel und erfolgreich gearbeitet, wobei wir immer die vierte Dimension Kontakt bzw. soziale Interaktion mit der Umwelt hinzugenommen haben.



Mit diesem Modell ergeben sich einfache Möglichkeiten, die vielfältigen Phänomene eines Menschen zu ordnen und die Kommunikation in der Therapie zu strukturieren: Was denken Sie? Was fühlen Sie? Was spüren Sie körperlich? Wie ist gerade der Kontakt zu mir? Vor allem ist dieses Ur-Modell der Leiblichkeit in der Therapie ein großer Schritt gegenüber der Negierung der Körperlichkeit oder der Gefühle bzw. weg von der Aufspaltung einzelner Aspekte menschlicher Lebendigkeit.



Grafik 2: Das Menschenbild der humanistischen Psychologie








Doch das Modell Körper-Seele-Geist-Kontakt wirft auch einige Fragen auf und kann zu Verwerfungen führen. Dies macht sich vor allem daran fest, dass innerhalb der einzelnen Begriffe sowohl leibliche Regungen gefasst sein können als auch Abspaltungen und Entfremdungen von der Leiblichkeit. Unter den „geistigen” Regungen können sowohl Bilder und poetische Ausdrucksweisen der Liebe versammelt werden als auch kalte und dem Erleben entfremdete Gebrauchsanweisungen der Unterwerfung und Disziplinierung. „Körper” kann die vielfältigen Regungen des Körpererlebens ebenso umfassen wir die lebensgefährdende Zwangsdiät eines anorektischen Mädchens oder das extreme Joggen, mit dem ein Mann das Spüren seiner Einsamkeit zu vernichten versucht. Auch unter den „seelischen” Regungen werden sowohl die Bewegungen der Gefühle, der Stimmungen und des Empfindens verstanden als auch die – jede andere leibliche Regung überlagernde – Panik, die sich vom leiblichen Grund „abgelöst” hat und jedes andere Erleben überflutet. Wenn z. B. Hilarion Petzold das „Leibsubjekt als Körper-Seele-Geist-Wesen” bezeichnet und den Leib genauer „definiert als die Gesamtheit aller sensorischen, motorischen, emotionalen, kognitiven und sozial-kommunikativen Schemata bzw. Stile in ihrer aktualen, intentionalen Relationalität mit dem Umfeld und dem anamnestisch archivierten Niederschlag ihrer Inszenierungen” (Petzold 1995, S. 607), dann wird mit der Verallgemeinerung „aller” Regungen genau die Unterscheidung zwischen Leib und Körper/Seele/Geist sowie zwischen leiblichen und vom Leib abgespaltenen Regungen verwischt.



Schon in den Bezeichnungen „Körper”, „Seele” usw. ist schon ein objektivierendes Moment enthalten, zumindest aber zugelassen. Bleibt dies unreflektiert, so „unterschlägt” das Urmodell Körper-Seele-Geist-Kontakt gerade die Differenzierung zwischen Leiblichkeit und Abspaltungen von der Leiblichkeit. Doch auf diese Differenzierung kommt es Therapeut/innen (und Klient/innen) in der therapeutischen Begegnung vor allem an. Ich schlage deshalb vor, die Formulierung der vier Aspekte im einfachen Leibmodell zu präzisieren und vom Körpererleben, von den Gefühlswelten, vom geistigen Erleben (auch Vorstellungskraft, Poesie, Imaginationen, ...) und vom sozialen Erleben (u.a.: Beziehungserleben) zu reden. Dieses Modell erfasst bei weitem nicht alle Aspekte der Leiblichkeit (deswegen „einfaches” Leibmodell), ist aber nützlich und handhabbar. Es ermöglicht, in einfachen Beschreibungen bei einem Klienten oder einer Klientin zu erfragen, worin er oder sie besonders in diesen vier Aspekten die eigene Lebendigkeit wahrnimmt und in welcher Hinsicht es Befremdlichkeiten/Störungen/Nicht-Gelebtes gibt oder solches vermutet wird.



Grafik 3: Leibmodell








Mit diesem einfachen Leibmodell wird die Auseinandersetzung mit der Objektivierung und Instrumentalisierung einzelner leiblicher Aspekte unterstützt. In einer knappen Übersicht können Notizen mit einzelnen Klient/innen erarbeitet und festgehalten werden, in denen die gelebten, die mehr im Hintergrund stehenden und die objektivierten bzw. instrumentalisierten jeweiligen Aspekte der Leiblichkeit beschrieben werden:



Grafik 4: Leibmodell − diagnostische Notizen








(Diese Grafik können Sie auf der Webseite des Verlages

www.semnos.de

 als Arbeitspapier herunterladen.)



In den folgenden Kapiteln wird es um die Weiterentwicklung und Entfaltung grundlegender Aspekte und Begrifflichkeiten der Leiblichkeit in Menschenbild und Therapie gehen, um über das einfache Leibmodell hinaus ein theoretisches Instrumentarium für die Therapie bereitzustellen.






2.2 Die Leibqualitäten



Mit Leibqualitäten bezeichnen wir Eigenschaften des Erlebens, die für alle Impulse oder Regungen des Erlebens zutreffen (Baer/Frick-Baer 2005): Meinhaftigkeit, Subjektivität, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Pulsieren, Zentralität, Intentionalität, Wirksamkeit, Zwischenleiblichkeit und Resonanz sowie Ähnlichkeit. Die leiblichen Aspekte sind so vielfältig und komplex miteinander verwoben, dass jede „Klassifizierung” der Untrennbarkeit der Leiblichkeit ein wenig Gewalt antut. Und doch ist solch eine Differenzierung notwendig, um nicht in bloßen und letztlich folgenlosen Forderungen nach „Ganzheitlichkeit” zu verbleiben. Je differenzierter die Eigenschaften, Impulse und Regungen der Leiblichkeit analysiert werden, desto genauere diagnostische Einsichten und desto genauere Grundlagen für therapeutische Interventionen und Interaktionen können gewonnen werden.



Die im Folgenden vorgestellten Eigenschaften können nicht quantitativ messbar sein, sondern müssen als Qualitäten des Erlebens beschrieben werden. Dass z. B. jedem Erleben die Qualität der Subjektivität innewohnt, meint zweierlei. Erstens wird damit ausgesagt, dass Subjektivität nicht messbar ist. Es gibt weder 3 Meter noch 2 Gramm Subjektivität, auch nicht 12 Prozent. Subjektivität ist eine Qualität des Erlebens, die als grundlegende Eigenschaft jedem Erleben innewohnt. Und gleichzeitig – das ist der zweite Aspekt der Aussage – ist diese Qualität selbstverständliches Potenzial des Erlebens. Sie wohnt jedem erlebenden Menschen inne

und

 kann gleichzeitig eingeschränkt, bedroht oder anderweitig gestört sein.



Wir reden von Leibqualitäten als selbstverständlichen Eigenschaften und Potenzialen des Erlebens. Dass sie gestört und in ihrer Entfaltung eingeschränkt sein können, macht sie für das Verständnis der Leiden der Klient/innen und für die Therapie so bedeutsam.



Die Aufzählung der Leibqualitäten erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ich habe die therapeutisch wichtigsten ausgewählt und mich auf sie konzentriert.



Grafik 5











2.2.1 Meinhaftigkeit



Dass die Nase, die Sie im Gesicht tragen, zu Ihnen gehört, ist ebenso selbstverständlich wie Ihre Gefühle, wenn Sie traurig sind oder sich freuen. Meinhaftigkeit ist die erste Qualität, die jedem menschlichen Erleben gemeinsam ist. „Meinhaftigkeit: Leibliche Regungen werden unmittelbar als ,zu mir gehörig’ oder ,meinhaft’ erlebt. Schmerz, Hunger oder Durst usw. nehme ich nicht distanziert wahr wie die Warnblinkleuchte oder Tankanzeige meines Wagens.” (Fuchs 2000a, S. 98) Die Meinhaftigkeit ist unmittelbar, wenn sie nicht gestört wurde, und bedarf weder der Reflektion noch der Entscheidung. Dass mein Lachen meines ist, steht außer Frage und bedarf keiner Überlegung. Dass ich mich schäme oder zornig bin, ist ebenso unzweifelhaft mein Gefühl.



Die Meinhaftigkeit leiblicher Regungen ist von vornherein auf die Welt bezogen, mein Lachen wie meine Scham sind verknüpft mit Erfahrungen in der Welt und beziehen sich auf sie. Dieses emotionale Erleben weist schon über die unmittelbare Sphäre des Leiblichen hinaus: Ich schäme mich „vor” jemandem und bin zornig „auf”. Die Leiblichkeit ist intentional. Der phänomenologische Begriff der Intentionalität „besagt, dass jedes Erleben sich auf etwas bezieht, indem es dieses in einem bestimmten Sinne meint.” (Waldenfels 2000, S. 367) Meinhaftigkeit meint also keinen egozentrischen Ausschluss der Welt, sondern ist wie jede Leiblichkeit immer auf die Welt bezogen. Die meinhafte Leiblichkeit stehe der Welt nicht gegenüber, kann Merleau-Ponty deshalb sagen, sondern: „Der Leib ist unsere Verankerung in der Welt.” (Merleau-Ponty 1966, S. 174)



Je weiter die leiblichen Regungen zu anderen Menschen hin und in den Lebensraum hinein reichen und je mehr sie sich von den Menschen entfernen oder je massiver Druck und Macht auf den Menschen ausgeübt wird, desto zweifelhafter und gefährdeter kann die Meinhaftigkeit werden.



„Ist die Scham wirklich

 mein

Gefühl?”, fragte die Klientin. Sie fühlte die Scham, insofern war es ihre. Doch ihre Scham war diffus und sie wusste nicht, warum und wovor sie sich schämte. In der Therapie stellte sich heraus, dass sie die Scham als „delegierte Scham” von ihrer Mutter übernommen hatte. Meinhaftigkeit und die Einverleibung von Fremdem überlappten sich.

 



Hier wird die Dialektik deutlich, die für alle Leibqualitäten gilt: Sie sind wie die Meinhaftigkeit den Menschen selbstverständlich eigen – u n d sie können durch soziale Erfahrungen oder andere Umstände eingeschränkt oder brüchig werden bzw. ganz verloren gehen. Die Beschreibung leiblicher Qualitäten ist folglich keine abstrakte philosophische Denkübung, sondern bildet den Ausgangspunkt für das Verständnis des Leidens der Klient/innen und Patient/innen und für deren Therapie.



Zurück zur Meinhaftigkeit: Je weiter Leiblichkeit in die Welt hinausgreift, desto anfälliger werden Menschen, ihre Meinhaftigkeit zu verlieren oder zu beschädigen. Wenn eine junge Frau vor dem Abitur müde vom Lernen ist, dann wird sie sich sicher sein, dass diese Müdigkeit die ihre ist. Wenn es dann um die Entscheidung geht, welchen Berufsweg sie einschlagen möchte, reden viele mit und fließen zahlreiche unterschiedliche Erfahrungen, Vorschläge, Meinungen, Warnungen und Tipps in die Entscheidungsfindung ein. Bewirbt sie sich schließlich für einen Ausbildungs- oder Studienplatz, ist immer noch selbstverständlich, dass sie es ist, die die Bewerbung verfasst. Doch ob die Entscheidung letzten Endes ihre ist oder ob sie sich den Meinungen anderer unterwirft, ist wahrscheinlich nicht mehr so selbstverständlich. Die Meinung entspringt zwar dem Wort „mein”, kann sich im Alltag aber von der Meinhaftigkeit lösen.



Häufig begegnen uns in der Therapie Menschen, die sich an großen oder kleinen Weggabelungen ihres Lebens nicht entscheiden können, welchen Weg sie einschlagen wollen oder können. Ihre Meinung hat die Verankerung in der Meinhaftigkeit verloren. Manche fragen sogar: „Ist das überhaupt noch mein Leben, das ich führe?” Diese Menschen haben noch eine Ahnung von der Meinhaftigkeit, doch zumindest im Hinblick auf ihre Impulse, ihr Wollen und ihre Entscheidungen ist sie ihnen verloren gegangen. In der Schizophrenie schließlich ist die Meinhaftigkeit so sehr beschädigt, dass auch die Grundäußerungen des Erlebens nicht mehr als selbstverständlich meinhaft erfahren werden. Die Regungen der linken Hand können als fremdgesteuert erlebt werden. Entscheidungen, Gefühle und andere Impulse können nicht mehr wie eigene wirken, sondern als von „außen” auf die Person zukommende betrachtet werden. Dann geht das mit der Meinhaftigkeit verbundene Grundgefühl der Einheit der Person verloren, das im folgenden Zitat benannt wird: „Der ‚Mein-Charakter‘ aller leiblichen Empfindungen ist zugleich ihr integrierendes Moment.” (Fuchs 2000b, S. 13).



Für jede Beeinträchtigung der Meinhaftigkeit gilt: Kreative Leibtherapie ermutigt Klient/innen, vor allem im kreativen Prozess Erfahrungen der Meinhaftigkeit zu machen. Die eigene Leiblichkeit wieder als meinhaft zu spüren und darin von den Therapeut/innen bestätigt und gewürdigt zu werden, ist dann ein Beginn der Veränderung. Dies schlägt sich in der Kreativen Leibtherapie in vielen Methoden und Modellen nieder, zum Beispiel in der Arbeit mit dem Zentralen Ort im Komplexen Theoriemodul der Bedeutungsräume, in Perspektiv- und Haltungswechseln, mit denen die Meinhaftigkeit gestärkt und ermutigt werden soll, und in vielem anderen mehr. Vor allem aber zeigt sich die Würdigung der Meinhaftigkeit in der grundlegenden therapeutischen Haltung der Klient/innen-Kompetenz – für uns Kreative Leibtherapeut/innen der einzige Weg, die Meinhaftigkeit der Klient/innen zu respektieren (s.

Kap. 5.7

).





2.2.2 Subjektivität



Jedes Erleben ist subjektiv. Die Leiblichkeit eines Menschen kann in Anderen Resonanz hervorrufen, diese können so Aspekte seines Erlebens teilen, andere können das Erleben eines Menschen beeinflussen – doch die subjektive Grundeigenschaft jedes Erlebens bleibt davon unbenommen. „Leiblichkeit ist eine nicht objektivierbare Weise unseres Daseins; sie fundiert und durchdringt all seine Vollzüge als präreflexive, gelebte Subjektivität.” (Fuchs 2000a, S. 333)



Die Leiblichkeit ist – philosophisch gesehen – nicht objektivierbar. Wird das Erleben in seinen Teilaspekten zum Objekt, verliert es seinen leiblichen Charakter, wird dieser Aspekt der Leiblichkeit verkümmert, deformiert, buchstäblich entleibt. Leiblichkeit ist subjektiv und immer originärer Inhalt und Ausdruck der Subjektivität eines Menschen. „Subjektive Sachverhalte können höchstens von einem einzigen Bewussthaber, und nur im eigenen Namen, ausgesagt werden.” (Schmitz 1989, S. 34)



Wenn dies ernst genommen wird, hat es weitreichende Konsequenzen für Diagnostik und Therapie. Wenn Leiblichkeit eine „nicht objektivierbare Weise unseres Daseins” ist, dann kann nicht so getan werden, als gäbe es objektive Kriterien zur Diagnostik der psychischen Erkrankungen von Menschen und damit ihres Leidens. Alle diagnostischen Systeme des ICD-10 oder DSM und die darauf beruhenden diagnostischen Instrumentarien ignorieren entweder die Subjektivität leiblichen Erlebens oder können allenfalls Annäherungen „von außen” ermöglichen. Als Abbild der Subjektivität des Erlebens der Klient/innen sind sie eine Fata Morgana.



Ihren Nutzen haben solche Systeme vor allem als Klassifizierungssysteme, wenn wir uns darauf verständigen, dass sie Gruppen von ähnlichen Phänomenen von Erkrankungen, Störungen und anderen Ausdrücken des Leidens abbilden. Solche Klassifizierungen als Abbild von Ähnlichem sind notwendig, um sich miteinander zu verständigen, und sinnvoll, um ähnliche therapeutische Interventionsweisen auszuprobieren. Doch klar muss sein: Die Subjektivität eines jeden Menschen ist existenzieller Bestandteil seiner Leiblichkeit und somit ist jedes Leiden einzigartig und nur subjektiv zu erfassen. Diagnostische Einsicht bedarf deshalb solcher Methoden, die auf „Objektivität” verzichten. Störungsbilder des ICD-10 oder DSM können deshalb nur Anhaltspunkte sein. Um das Leiden der Menschen zu verstehen, muss ihre Subjektivität ernst genommen werden. Das bedeutet, sie müssen danach gefragt und ihre subjektiven Äußerungen in Worten und Gesten, Bildern und Klängen müssen gewürdigt werden. Das machen Kreative Leibtherapeut/innen und stellen eine Fülle von Methoden zur Verfügung, die die Kompetenz der Klient/innen fördern, ihr subjektives Leiden in Worten, Bildern, Gesten oder Klängen auszudrücken. Therapeut/innen können sich dem subjektiven Erleben der Klient/innen darüber hinaus oft nur darüber annähern, dass sie ihre eigenen Erfahrungen der Zwischenleiblichkeit (s.

Kap. 2.2.9

) und insbesondere ihre leiblichen Resonanzen ernst nehmen und in den Dienst der Diagnostik und therapeutischen Begegnung stellen.



Kreative Leibtherapeut/innen verzichten deshalb konsequent darauf, kreative Äußerungen der Klient/innen nach scheinbar objektiven Kriterien zu „deuten”. Wenn ein Klient ein Bild malt, hat dies für ihn eine Bedeutung und für die Therapeutin ebenfalls. Beider Bedeutungszumessung ist subjektiv, weil sie Ausdruck dessen ist, wie sie das Bild erleben. Was für den Klienten ein bedrohlicher bunter See ist, der ihn zu verschlingen droht, kann für die Therapeutin ein farbenfrohes Potpourri der Lebendigkeit sein. Ein tiefer Ton kann für die eine Person Ruhe bedeuten und für die andere Angst. In einer aufgerichteten Haltung erlebt sich der eine Mensch würdevoll, der andere wachsam, damit er jede Bedrohung wahrnehmen kann.



Wir verzichten deshalb konsequent darauf, Farben und Formen, Klänge und Bewegungen mit irgendwelchen allgemeinen Bedeutungen zu behaften. Selbst wenn für 90 Prozent der Bevölkerung eine schwarze Farbe mit Trauer gleichgesetzt ist, wissen wir nicht um die Bedeutung der Farbe schwarz für die jeweilige Klientin oder den jeweiligen Klienten – denn wir arbeiten nicht mit Bevölkerungen, sondern mit einzelnen Menschen. Deshalb müssen wir nach dieser persönlichen Bedeutung fragen und die Subjektivität ernst nehmen. In der therapeutischen Begegnung stehen sich zwei Menschen in ihrer jeweiligen Subjektivität gegenüber, die sie miteinander vergleichen und einander so schenken können. Klient/innen können dadurch heilsame Erfahrungen der Begegnung machen, aber nur, wenn und solange ihre Subjektivität respektiert wird und auch die Therapeut/innen ihre Subjektivität ernst nehmen und wertschätzen.





Die Klientin hat ein Bild gemalt, voller schwarzer und dunkelgrauer Farben. Für mich, den Therapeuten, wirkt es düster und ruft in mir Traurigkeit hervor. Ich frage die Klientin: „Was sehen Sie?” Sie antwortet strahlend: „Ein Bild der Ruhe und des Friedens! Ich bin so glücklich, dass mir das gelungen ist. Ich sehne mich so danach, mal keine Farben und anderen Ablenkungen zu haben ...” Sie, und nur sie, kann die subjektive Bedeutung ihres Bildes benennen. Der Therapeut kann, wenn es sinnvoll erscheint, äußern, wie es auf ihn wirkt – aber nur, wenn dies d a n e b e n gestellt und die subjektive Bedeutung, die die Klientin dem Bild gegeben hat, gelassen und gewürdigt wird.





Die Anerkennung der Subjektivität des Erlebens hat also weitreichende Konsequenzen für die Haltung und die Tätigkeit der Therapeut/innen. Kreative Leibtherapie geht davon aus, dass die Therapeut/innen über Kenntnisse verschiedener Zusammenhänge menschlichen Erlebens verfügen und mögliche Richtungen von Veränderungen kennen müssen, die auf solchen Kenntnissen beruhen. Doch zu allererst müssen sie wissen und in ihrer Praxis beherzigen, dass die Subjektivität des Leidens eines jeden Menschen einzigartig ist und deshalb sich jede therapeutische Industrialisierung, wie sie sich in den modischen Therapie-Manualen niederschlägt, verbietet. Handreichungen, die detailliert für jede Stunde einer Therapie Themen, Fragen, Interventionen vorgeben, entwürdigen den Klienten bzw. die Klientin in ihrer Subjektivität und damit in einem Kernbereich ihrer Leiblichkeit. Therapie, wie Kreative Leibtherapie sie versteht, ist Kunst, denn in der Begegnung zwischen Klient/innen und Therapeut/innen begegnen sich zwei einzigartige Personen in ihrer subjektiven Erlebensfähigkeit, so dass jeder Moment dieser Begegnung einen einzigartigen Charakter hat. Und: Therapie ist Handwerk, weil Therapeut/innen wie Künstler/innen über ein solides Handwerkszeug verfügen müssen. Beides zusammen mag als Kunsthandwerk bezeichnet werden und liegt den Besonderheiten leibtherapeutischer Prozesse zugrunde, wie ich sie in

Kapitel 6

 vorstelle.






2.2.3 Räumlichkeit



Jedes Erleben ist räumlich. Wenn Sie vorhin in dem Kapitel über die Meinhaftigkeit bei dem Experiment, Ihr Herz oder Ihre Hand zu spüren, Ihr Erleben wahrgenommen haben, war dieses Erleben räumlich. Sie haben Ihr Herz wahrscheinlich „innen” wahrgenommen, vielleicht als „eng”, vielleicht als Sie „ausfüllend” – oder, wenn Sie gerade verliebt sein sollten, auf eine andere Person „gerichtet” oder „die Welt umarmend”. All diese Worte beschreiben Raumerleben. Wenn ich mich „niedergedrückt” fühle, ist dies eine räumliche Beschreibung meines Erlebens, in der sich mein Befinden ausdrückt. Andere räumliche Erlebensbeschreibungen betreffen eher bestimmte Regionen, die von Herrmann Schmitz als Leibinseln (Schmitz 1998b, S. 25ff) bezeichnet werden: den Schmerz im Fuß nach langer Wanderung oder den Hunger im Bauch.



Um es zu wiederholen: Jedes Erleben ist räumlich. Merleau-Ponty sagt deshalb: „Ich bin nicht im Raum und in der Zeit, ich denke nicht Raum und Zeit; ich bin vielmehr zum Raum und zur Zeit, mein Leib heftet sich ihnen an und umfängt sie.” (Merleau-Ponty 1996, S. 117) Die Räumlichkeit des Leibes ist selbstverständlich, sie bedarf nicht des Denkens oder eines bestimmten Verhaltens. Diese Räumlichkeit bezeichne ich als „erlebten Raum” oder „Raumerleben” und unterscheide ihn von dem messbaren „geometrischen Raum”, dessen Weite oder Volumen mathematisch berechnet werden kann. Plessner nennt den geometrischen Raum „raumerfüllend”, den Erlebensraum „raumbehauptend”: „Jedes physische Körperding ist im Raum, ist räumlich. Seine Lage besteht, was ihre Messung angeht, in Relationen zu anderen Lagen und zur Lage des Beobachters. (…) Ein raumerfüllendes Gebilde ist an einer Stelle. Ein raumbehauptendes Gebilde dagegen ist dadurch,

dass es über ihn hinaus (in ihn hinein) ist

, zu der Stelle ‚seines‘ Seins in Beziehung. Es ist außer seiner Räumlichkeit in den Raum hinein oder raumhaft und hat insofern seinen natürlichen Ort.” (Plessner 1975, S. 131f)

 



Welche Worte man auch immer benutzen mag, um die Unterscheidung zu treffen, ich entscheide mich für die verständlichen Bezeichnungen „erlebter Raum” und „geometrischer Raum”. Wir begegnen hier (und an anderen Stellen) dem Doppelcharakter mancher Aspekte der Leiblichkeit. Wie bei der Unterscheidung zwischen Körper und Leib gibt es einen Begriff, der das Erleben betont, und einen, der die Objektivierbarkeit und die Objekthaftigkeit bezeichnet. Beim Raum gibt es den objektivierbaren Raum der Landvermesser, die Höhengrade und Kilometer-Entfernungen feststellen – und das Raumerleben, das uns in der Kreativen Leibtherapie interessiert.



Unser räumliches Erleben geht über ein als „innen” vorstellbaren leiblichen Eigenraum hinaus.





Wenn Sie mit geschlossenen Augen Ihre Hand spüren, werden Sie keine klaren Grenzen zwischen innen und außen wahrnehmen. Wenn Sie eine Hand fordernd nach vorne ausstrecken, wird sich Ihr Erleben nach vorne richten, über die körperliche Grenze der Hand hinaus. Wenn Sie Ihre Arme aus einer Verschränkung heraus ausbreiten, schaffen Sie einen erlebten Raum zwischen den ausgebreiteten Armen und darüber hinaus.





Fuchs drückt dieses räumliche Erleben so aus: „Das leibliche Spüren spannt also einen dynamisch strukturierten Raum auf, der zwar ohne die gleichzeitige Vorstellung der sichtbaren Körpergrenzen nur unscharf und zerfließend, aber doch als unmittelbare Wirklichkeit erlebt wird.” (Fuchs 2000a, S. 89)



Unsere Sprache ist voller Wendungen und Formulierungen, die das Raumerleben bezeichnen:



Ich brauche mehr Rückendeckung.



Ich habe Schwierigkeiten einen festen Standpunkt zu beziehen.



Ich finde in dieser Gruppe keinen Platz.



Du engst mich ein.



Ich verliere den Boden unter meinen Füßen.



In der Therapie begegnen wir in Sprache und Gestik einer Fülle räumlicher Phänomene, die wir mit dem Wissen um die Räumlichkeit des Erlebens besser verstehen und aufgreifen können.





Der Klient erzählt von einem Streit mit seiner Partnerin und sagt: „Meine Frau nimmt mir den Raum. Ich fühle mich so eingeengt.”







Der Therapeut schlägt vor: „Legen Sie doch mal mit einem Seil den engen Raum, den Ihre Frau Ihnen lässt.”







Der Klient legt einen Kreis von gut einem Meter auf den Boden und stellt sich hinein. „Da bleibt mir fast die Luft weg, so eng fühle ich mich.”







„Welchen Impuls haben Sie, wenn Sie so in diesem Raum stehen?”







„Abzuhauen.”







„Was hält Sie fest?”







„Hier ist es sicher.” (...)








Und so geht es weiter. Der Mann legt schließlich mit Seilen den Raum auf den Boden, den er „braucht” und sich wünscht. Ein „Zwischenraum” kommt hinzu, der Raum seiner Frau, ein gemeinsamer Raum usw. Immer werden räumliche Bemerkungen „beim Wort” genommen und immer werden räumliche Qualitäten des Erlebens sichtbar, spürbar und veränderbar.





Den grundsätzlich räumlichen Charakter jedes Erlebens nimmt Thomas Fuchs zum Anlass, eine sehr differenzierte Analyse des Raumerlebens vom primär leiblichen Raum über den Richtungsraum, Stimmungsraum und personalen Raum bis hin zum Lebensraum vorzunehmen. Darauf werden wir in

Kapitel 4.3.3

 der „Big Ten” ausführlicher eingehen und verdeutlichen, wie sich die räumliche Qualität des Erlebens in der Theorie und Praxis Kreativer Leibtherapie manifestiert. Auch in den Raum- und Richtungs-Leibbewegungen und anderen Modellen Kreativer Leibtherapie ist die räumliche Qualität des Erlebens Grundlage. Dies gilt ebenso für zahlreiche Methoden Kreativer Leibtherapie (wie das Verraumen), die nur „funktionieren”, weil die Räumlichkeit Grundqualität jeden Erlebens ist.



Den Leib als „Zentrum räumlichen Existierens” (Fuchs 2000a, S. 15) zu verstehen, bedeutet nicht, ihn einem „Innen” zuzuordnen, dem ein „Außen” gegenüber steht.



„Das seelische Erleben – unsere Empfindungen, Triebregungen, Gefühle, Stimmungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken – ist als solches nicht irgendwo im Raum unseres Körpers lokalisierbar, auch nicht im Gehirn. Es ist überhaupt nicht nur irgendetwas in uns. Seelisch sind wir bei den Dingen und Menschen, die wir wahrnehmen und auf die wir zugehen, nehmen wir