Kreative Leibtherapie

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Aus der Reihe: Semnos Lehrbuch
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2.3 Musterbildung und Leiblichkeit

In der Musterbildung vereinigen sich mehrere Leibqualitäten.

Wenn sich ähnliche Tätigkeiten wiederholen, werden sie zur Gewohnheit. Wenn wir Menschen gelernt haben, Auto zu fahren, brauchen wir nicht mehr in jeder Situation überlegen, wie weit wir das Fußpedal treten oder den Lenker bewegen. Wenn wir einen Text auf dem Computer schreiben, müssen wir nicht mehr jede Taste einzeln suchen. Auch wenn wir nicht im Zehn-Finger-System tippen können, ist uns die Lage der meisten Buchstabentasten vertraut. Ob beim Autofahren oder Computerschreiben, solche Aktivitäten sind uns „in Fleisch und Blut” übergegangen, wurden „einverleibt”. Das gilt auch für die Wahrnehmungen.

Wenn Sie diesen Text lesen, werden Sie nicht mehr jedes Wort einzeln entziffern oder gar aus den einzelnen Buchstaben zusammensetzen. Sie werden Worte und Wortgruppen „erfassen”, weil sie Ihnen vertraut sind (auch wenn Sie sie in anderen Schriftgrößen oder anderen Schriftarten kennen).

Wir nennen solche Verfestigungen „Muster”. Sie erwachsen aus Gelerntem und Erfahrenem und sind zu Gewohnheiten geworden.

In der philosophischen Betrachtungsweise der Leibphänomenologie werden der Leiblichkeit in diesem Zusammenhang zwei besondere Eigenschaften zugeschrieben: Zur Leiblichkeit gehört die Eigenschaft der „Formbarkeit oder Plastizität, die zur Anpassung an unterschiedlichste Milieus befähigt, andererseits auch eine Beharrlichkeit, die der willkürlichen Beeinflussung einen Widerstand entgegensetzt. Sie besteht wesentlich aus ‚gewachsenen‘ Strukturen, womit das Allmähliche und Kontinuierliche ihrer Entwicklung aus dem jeweils Gewordenen angesprochen ist.” (Fuchs 2000a, S. 326)

Solche „gewachsenen Strukturen”, die wir als Muster bezeichnen, sind notwendig, damit Menschen sich in der Welt zurechtfinden können. Diese Muster beruhen auf der Leibqualität der Ähnlichkeit. Ein bestimmtes Verhalten wiederholt sich nie „genauso” wie zuvor; aber es ist ähnlich und wird deshalb als Wiederholung erlebt.

„Immer wenn wir uns streiten, haust du ab und machst dicht”, warf die Freundin ihrem Freund vor. Er antwortete: „Und du weißt ja gleich alles besser und hörst mir gar nicht richtig zu. Da brauche ich doch nicht weiterreden ...”

Beide hatten ihre Konfliktmuster gut gelernt. Auch wenn sie diese immer wieder als schmerzlich erlebten - sie warfen sie sich um die Ohren.

Muster umfassen unterschiedliche Aspekte des Lebens und Verhaltens und können ebenso das Denken betreffen, zum Beispiel das Selbstbild oder Methoden, wie die Lösung eines Problems angegangen wird. Auch sich wiederholende Strukturen des Körpererlebens, nämlich der Art und Weise, sich zu bewegen, zu gehen oder Erregungen auszuleben und auszudrücken, können Teil von Mustern sein. Die Art und Weise, Gefühle auszudrücken oder dies zu vermeiden, kann genauso gut Bestandteil der Musterbildung sein, wie sich wiederholende Verhaltensweisen in sozialen Beziehungen. Manche Muster lassen sich bestimmten einzelnen Aspekten leiblicher Regungen vordergründig zuordnen, zumeist aber sind in den Mustern verschiedene leibliche Regungen beteiligt. Zum Beispiel umfassen Muster wie: Wie trägt ein Mensch Konflikte aus? Oder: Wie geht eine Person mit Stress um? mehrere Aspekte und Qualitäten unserer Leiblichkeit.

Ein Klient „steckte fest”, wie er sagte. „Irgendwie passiert mir immer wieder das Gleiche, wenn ich in Stress gerate. Und am Ende geht es mir dreckig und alle sind sauer mit mir.”

Der Therapeut bat ihn, sein „Stressmuster” zu malen, den Verlauf, wie er in Stress gerate und wie es dann weitergehe und was ihm sonst noch dazu einfalle. Er nahm ein großes Blatt und malte. Bei der Besprechung wurde deutlich:

 Wenn sein Stress begann, ignorierte er ihn zuerst einmal über längere Zeit. Meist ging es um beruflichen Stress. Überhöhte Arbeitsanforderungen, die nicht zu erfüllen waren, wurden von ihm klaglos hingenommen.

 Dann bemühte er sich mehr, intensivierte Arbeitstempo und -intensität. Sein innerer Druck stieg und stieg.

 Dabei zog er sich immer mehr von seiner Familie zurück, ebenso von seinen Arbeitskolleg/innen. Seine Zwischenleiblichkeit und Resonanz verkümmerte, er ging „in den Tunnel”, wie er es ausdrückte.

 Schließlich bedrängte ihn innerlich alles so sehr, dass er gar nicht mehr unterscheiden konnte, von wem nun Druck ausging, und er grantelte immer aggressiver mit allen Menschen seiner Umgebung.

 Diese zogen sich immer mehr zurück, der Prozess verstärkte sich.

 Sein Zeiterleben kam völlig durcheinander. Er war nur noch auf zukünftige Termine ausgerichtet, seine Jetzthaftigkeit ging verloren.

 ...

So ging es weiter, bis irgendwann der Zusammenbruch kam. Dieses Muster wiederholte sich. Nie „genauso” wie zuvor, aber immer ähnlich.

Die Musterbildung beginnt sehr früh im Säuglingsalter. In der Zwischenleiblichkeit des Säuglings mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen macht der Säugling schon bestimmte Erfahrungen mit der Art und Weise von Blicken, Berührungen, Lauten, Spannungen usw. Wiederholt sich diese Erfahrung mehrmals, beginnt sie sich im Säugling zur „Repräsentation generalisierter Interaktionen” (englische Abkürzung: R. I. G.) zu verfestigen (Stern 1992). Stern, Dornes u.a. beschreiben, wie sich bei Säuglingen aus Wiederholungen im Erleben „Repräsentationen” formen und bezeichnen diese als „Sensomotorische und Ereignisschemata”, „Gefühlsgestalten” oder „zeitliche und dynamische Muster” (Dornes 1993).

Die Musterbildung ist folglich ein Aspekt der Leiblichkeit, der sich in zunehmendem Maße entwickelt. Manche Muster haben eher nebensächliche Bedeutung, andere sind von grundsätzlicher Bedeutung für einen Menschen und machen in ihrer Gesamtheit seinen Charakter aus. Wir bezeichnen sie als Basismuster. Im Prozess menschlichen Älterwerdens verfestigen sich Muster. Ist diese Verfestigung gestört, werden Menschen haltlos und überflexibel und reagieren nur noch auf alle von außen kommende Impulse. Bei den meisten Menschen bilden sich aber solche Muster heraus, die stabil sind und gleichzeitig in sich die Möglichkeit enthalten, auf unterschiedliche Herausforderungen des Lebens immer wieder schöpferisch zu reagieren. Ich habe das einmal so beschrieben: „Im Idealfall sind Muster lernende Muster, die sich auf neue Situationen einstellen, indem sie sich ergänzen und erweitern. Kreatives Tun ist auch hier Teil des Lebensalltages, nicht nur des Kindes, das neue Lebensweisen des Körpers, des Denkens, des Fühlens und des sozialen Verhaltens erprobt, sondern auch des Erwachsenen, der mit bewährten Mustern der körperlichen Bewegung, des Denkens, des Fühlens, des sozialen Verhaltens kreativ die Bewältigung neuer Herausforderungen dem Lebensalltag anpasst.” (Baer 1999/2008, S. 315) Perls, Hefferline und Goodman nannten diesen kreativen Prozess „schöpferische Anpassung” (1981). Kreativität ist folglich ein grundlegender Bestandteil menschlicher Lebensäußerung, „konstituierender Grund menschlichen Seins” (Baer a.a.O., S. 315), damit verhärtete Muster nicht die Leiblichkeit erstarren lassen, sondern damit sich der Mensch flexibel in verändernden Situationen bewegen kann.

Doch viele Klientinnen und Klienten, mit denen wir in der Therapie arbeiten, leiden darunter, dass ihre Kreativität erloschen ist und ihre Muster erstarrt sind. Sie sehnen sich nach Veränderung, sind aber oft unfähig, Schritte der Veränderung zu unternehmen: Aus gleichzeitig stabilen und flexiblen Mustern wurden harte Muster. Als Beispiel für den Unterschied zwischen flexiblen Mustern und verhärteten Mustern mag das Beispiel des Straßenverkehrs dienen. In Deutschland und in Mitteleuropa fahren wir im Straßenverkehr auf der rechten Seite. Dies müssen wir nicht jeweils neu entscheiden, sondern es ist eine Gewohnheit, der entsprechend wir uns im Straßenverkehr verhalten und auch die Verhaltensweisen anderer Menschen wahrnehmen. Wenn wir aber nach England oder Irland fahren und dort ein Auto mieten und über die Straßen fahren wollen, sind wir plötzlich mit der Situation des Linksverkehrs konfrontiert. Unsere Gewohnheiten greifen nicht mehr, im Gegenteil, sie rufen sogar Gefahren hervor. Manche Menschen können sich auf die neue Situation einstellen – ihr Muster hat so viel Flexibilität, dass dies möglich ist – andere nicht: Bei ihnen ist das Muster zu sehr verhärtet, so dass es ihnen unmöglich ist, in Ländern mit Linksverkehr Auto zu fahren.

Nun muss die mangelnde Flexibilität beim Umstellen auf den Linksverkehr in einem anderen Land kein großes Drama beinhalten. Wer kein Auto im Linksverkehr fahren kann, mag den Bus nehmen. Doch solche Wahlmöglichkeiten bestehen bei anderen harten Mustern nicht. Die Schwierigkeiten, Muster flexibel zu halten oder zu flexibilisieren, können großes Leiden hervorrufen. Wer zum Beispiel immer wieder in neuen Beziehungen den gleichen Mustern folgt, wird sich nicht auf unterschiedliche Menschen einstellen können. Wer in seinen Wahrnehmungsund Verhaltensmustern, die er mit kleinen Kindern entwickelt hat, nicht flexibel genug ist, diese zu verändern, wenn die Kinder groß sind oder erwachsen werden, hat große Beziehungsprobleme zu ihnen zu erwarten. Zu den Aufgaben Kreativer Leibtherapie wie jeder Therapie gehört es deshalb, mit Klientinnen und Klienten auf die Suche zu gehen, verhärtete Muster wieder zu flexibilisieren. Dabei wird es immer Phasen der Unsicherheit, Angst und Verwirrung geben, denn harte Muster, so sehr der Mensch auch darunter leiden mag, sind vertraut und geben Sicherheit und Halt. Diese Durchgangsphasen sind aber notwendig, um aus harten Mustern weiche werden zu lassen.

 

2.4 Das Leibgedächtnis

Auch im Leibgedächtnis begegnen uns komprimiert verschiedene Qualitäten der Leiblichkeit. Ohne ein Verständnis des Leibgedächtnisses ist Kreative Leibtherapie nicht vorstellbar. Die Musterbildung ist grundlegend dafür, dass sich ein Leibgedächtnis entwickelt – und umgekehrt: ohne Leibgedächtnis gäbe es keine Gewohnheit und damit keine Musterbildung.

Doch beginnen möchte ich mit der Frage, was unter Gedächtnis zu verstehen ist. Wenn üblicherweise vom Gedächtnis die Rede ist, werden damit zwei miteinander zusammenhängende Gedächtnissysteme gemeint. Üblicherweise wird unter Gedächtnis verstanden, etwas wiedergeben zu können, das wir gelernt haben, manchmal auch auswendig gelernt haben. Zu diesem Gedächtnissystem zählen auch die Erinnerungen an bestimmte biografische Ereignisse. „Dieses Gedächtnis enthält die einzelnen Episoden unseres Lebens in kalendarischer Ordnung: Wir können die Erinnerungen zumindest grob in ein autobiografisches Zeitgitter einordnen.” (Fuchs 2008b, S. 38) Dieses Gedächtnis wird in der Gedächtnisforschung das „explizite Gedächtnis” genannt. Es ist geprägt vor allem durch zeitliche Zuordnungen und davon, dass es uns Menschen bewusst ist und wir uns bewusst erinnern.

Davon zu unterscheiden ist das Leibgedächtnis, in der Gedächtnisforschung auch das implizite oder das prozeduale Gedächtnis genannt. Die als eindeutig bezeichnete Unterscheidung beider Gedächtnissysteme ist so nicht zutreffend, wie wir später sehen werden. Doch betrachten wir zuerst einmal die Unterschiedlichkeiten, wie sie in der Gedächtnisforschung beschrieben werden:

Nehmen wir ein Beispiel. Ich treffe einen Mann auf der Straße. Er begrüßt mich. Ich weiß aber nicht mehr, wie diese Person heißt, erinnere mich nicht an seinen Namen. Das explizite Gedächtnis versagt in diesem Moment und gleichzeitig ist das implizite Gedächtnis vorhanden. Ich weiß, dass ich diesen Menschen schon kenne, ihm schon einmal begegnet bin. Ich weiß auch, dass ich etwas vergessen habe, und das Wissen um diese Leerstelle ist Teil des Leibgedächtnisses. Manches an ihm und manches an der Art unserer Begegnung ist mir vertraut – das Leibgedächtnis wirkt gegenwärtig.

Vielleicht ist das Leibgedächtnis auch in gewisser Weise daran beteiligt, dass ich diesen Menschen nicht wiedererkenne. Vielleicht bin ich ihm zuletzt im Zusammenhang mit einer traumatischen Situation begegnet und diese Begegnungserfahrung wurde im Leibgedächtnis mit der Zielsetzung „unbedingt vermeiden” verknüpft.

Vielleicht aber wirkt ein solcher Zusammenhang nicht und ich wechsle einige Worte mit dem Mann, dem ich begegnet bin und er lacht dabei und dieses Lachen ist ein Auslöser dafür, dass mir sein Name wieder einfällt. Das Leibgedächtnis kann das explizite Gedächtnis beeinflussen, beide Systeme sind nicht voneinander getrennt.

Differenziert betrachtet zeigt sich das Leibgedächtnis in verschiedenen Phänomenen (siehe auch Fuchs 2011):

 Das erste Phänomen ist das prozeduale Gedächtnis. Leibliches Erinnern entwickelt sich aus dem Prozess, aus sensomotorischen Wiederholungen und Gewohnheiten. Die Bremse eines Autos zu finden und zu betätigen, bedarf keiner expliziten Erinnerung, sondern ist durch Gewohnheiten so implizit verankert, dass gleichsam „automatisch” darauf zurückgegriffen wird. Dieser Prozess wird auch – vereinfachend – als Körpergedächtnis bezeichnet. Sein Wirken gibt den Menschen die Möglichkeit, sich auf aktuelle Aktivitäten zu konzentrieren. Der Psychologie-Begründer William James verdichtete dies in seiner berühmten Bemerkung, dass sich das Bewusstsein aus allem zurückzieht, wo es nicht unbedingt benötigt wird.

 Das Leibgedächtnis ist auch räumlich, was Thomas Fuchs als „situativ” bezeichnet. Unser Leben ist räumlich und deswegen fließt die räumliche Qualität des Erlebens auch in unser Leibgedächtnis ein. Wir brauchen nicht mehr zu überlegen, von welcher Seite wir den Kühlschrank öffnen und welchen Abstand vom Küchentisch wir einhalten müssen, um an ihm vorbeigehen zu können. Doch wird die Wohnung umgeräumt, stoßen wir gegen den Tisch. Es müssen sich erst wieder neue Gewohnheiten herausbilden und ins implizite Gedächtnis Eingang finden. „Das Gedächtnis des Leibes ist die Grundlage unserer Vertrautheit mit der Welt. Die in ihm verankerten Gewohnheiten und Vermögen legen sich über die Umwelt wie ein unsichtbares Netz, das von dem Sinn und Gliedern ausgeht und uns mit den Dingen verbindet, ja, uns unauflöslich in die Welt verstrickt. Das Gedächtnis ist somit keineswegs nur in unserem Inneren beheimatet, sondern es erstreckt sich auf den Raum, in dem wir leben.” (Fuchs 2008b, S. 7f)

 Das Leibgedächtnis ist ferner zwischenleiblich. Wenn wir einem andern Menschen begegnen, sind zwischenleibliche Erfahrungen dieser Begegnungen unbewusst präsent. Unsere Haltung, Gestik, Mimik ist in den Interaktionen aufeinander abgestimmt, kann sogar zu einem Muster, einem impliziten Beziehungsstil werden. Auch Schamerfahrungen und Erfahrungen von Beschämung fließen implizit in solche zwischenleiblichen Begegnungen ein, ebenso wie andere Gefühle.

 Das Leibgedächtnis wirkt ebenfalls als traumatisches Gedächtnis. In der traumatischen Erfahrung wird der neuronale Modus kognitiver Verarbeitung als nicht überlebensnotwendig reduziert, die traumatische Erfahrung wird mit sinnlichen und Beziehungseindrücken behaftet und meist tief im Leibgedächtnis gespeichert. Dort wirkt sie wie ein „Fremdkörper” (Fuchs a.a.O.) und hat gerade dadurch besonders nachhaltige Wirkung auf den Lebensalltag.

Eine Klientin hat in der traumatisierenden Erfahrung sexueller Gewalt den Duft von „Kölnisch Wasser” gerochen und dies im Leibgedächtnis verankert, ohne dass es ihr explizit bewusst ist. Als sie in der U-Bahn diesen Duft wahrnimmt – nur am Rande ihres Bewusstseins – beginnt sie zu zittern und bekommt eine Angstattacke. Die Erinnerung an den Duft wirkt „überfallartig”, ohne dass ihr der Zusammenhang mit der traumatischen Erfahrung bewusst ist.

All diese Erfahrungen, die im Leibgedächtnis verdichtet sind und uns dadurch einwohnen, wirken in der Gegenwart. Die Sprache, die ich gelernt habe, spreche ich jetzt, die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, nutze ich jetzt. Das Leibgedächtnis „enthält die Vergangenheit als gegenwärtig wirksame Insel. Es führt nicht zurück zum Vergangenen, sondern bedeutet im Gegenteil die Möglichkeit, sich einer neuen Gegenwart zuzuwenden.” (Fuchs 2008b, S. 38)

Die Beschreibung des Leibgedächtnisses macht deutlich, dass die Vorstellung zweier „Gedächtnisse” nicht zu halten ist. Das Verhältnis zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis ist nicht dergestalt, dass es sich um zwei völlig voneinander getrennte Systeme handelt. Menschen verfügen über ein Gedächtnis, das verschiedene besondere Qualitäten aufweist, die von der Gedächtnisforschung als unterschiedliche Gedächtnissysteme bezeichnet werden. Ich habe bislang die Bezeichnungen implizites und explizites Gedächtnis als Arbeitsbegriffe genutzt. Treffender und sinnvoller ist es, vom Leibgedächtnis und vom expliziten Erinnern zu sprechen. Es ist mir wichtig zu betonen: Das explizite Erinnern ist in das Leibgedächtnis eingebettet. Ich habe als Beispiel erwähnt, dass ich mich in der Begegnung mit dem Mann, dessen Name mir entfallen ist, an eine frühere Situation erinnere, in der ich ebenfalls dieses Lachen gehört habe, und dass mir im Zusammenhang mit dieser Erinnerung der Name des Mannes wieder einfällt. Hier wird die explizite Erinnerung wieder funktionsfähig über den Umweg des impliziten, über eine sinnlich-situative Erinnerung.

Solche und ähnliche Zusammenhänge zeigen, dass das explizite Erinnern und das Leibgedächtnis nicht nebeneinander stehen und ebenfalls in keiner Weise getrennt sind. Sie sind ineinander verwoben. Das Leibgedächtnis ist dabei das primäre. Es wirkt schon in den ersten Lebenswochen und Lebensmonaten, wenn das bewusste, explizite Erinnern noch nicht funktionieren kann, und es wirkt immer, auch wenn das explizite Erinnern eingeschränkt oder funktionsunfähig ist. In der Schule und in anderen Lernorten wird das explizite Gedächtnis trainiert, doch auch dort lernen die Schüler in weitem Maße implizit. Schulen sind nicht nur Orte des kognitiven Lernens, sondern in besonderem, leider zu wenig berücksichtigtem Maße Orte des emotionalen und sozialen Lernens. Leibgedächtnis bringt uns Menschen dazu, z. B. jede Beschämungssituation in der Schule nachhaltig zu vergegenwärtigen, oft mehr als mathematische Formeln oder grammatikalische Regeln. Manchmal ist die Beschämungserfahrung aus dem expliziten Erinnern verschwunden, bewirkt aber als Teil des Leibgedächtnisses Erstarrung und Blockaden in ähnlichen Situationen, was zu schlechten Leistungen führt.

Deswegen ist vor allem das Wissen über das Leibgedächtnis von eminenter Bedeutung für die Kreative Leibtherapie. Es wirkt gegenwärtig und in ihm wirken die angehäuften Lebenserfahrungen. Negative wie positive Erfahrungen werden über das Leibgedächtnis zugänglich, und dadurch wird deren Wirkungsmacht auf das gegenwärtige Empfinden und Verhalten veränderbar. Eine Traumatherapie, ohne das Leibgedächtnis zu kennen und zu beachten, ist für mich nicht vorstellbar, wenn man die Wirkungsweise des Leibgedächtnisses kennt. Mögen Erinnerungen an traumatische Ereignisse im expliziten Gedächtnis verdrängt sein, so wirken sie doch nachhaltig über das implizite, das Leibgedächtnis.

Über das Leibgedächtnis „produzieren” Menschen die festgefahrenen Muster, um deren Flexibilisierung wir uns in den therapeutischen Prozessen bemühen. Die Tatsache, dass das explizite Erinnern im Leibgedächtnis eingebettet ist, hilft uns in der Arbeit mit Menschen mit Gedächtnisstörungen, seien sie neurologisch bedingt oder Ausdruck von demenziellen Erkrankungen. Die alte Dame, die an Alzheimer-Demenz diagnostiziert ist und ihren Namen nicht mehr weiß, kann aber zehn Strophen singen, wenn sie nur einige Takte eines Volksliedes hört, und weiß dann auch oft ihren Namen wieder! Insbesondere die sinnlichen, körperlichen, situativen, imaginativen Qualitäten des Leibgedächtnisses werden durch die kreativen Angebote der Kreativen Leibtherapie angesprochen. Dies geschieht nicht vergangenheitsgerichtet, etwa mit der Absicht, dass die Klient/innen wieder in die Vergangenheit „zurückgehen”, sondern so, dass das, was an Vergangenem über das Leibgedächtnis in ihre Gegenwart hineinwirkt, wieder zugänglich, lebbar und handhabbar werden kann – und damit veränderbar.