Mein Blutsbruder: Der Orden der Schwarzen Löwen – Die Jagd auf eine Mörderbande

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9. Kapitel

Wir hatten uns für alle Fälle in der Nähe des Bahnhofs in einem Hotel drei Zimmer gemietet und im Voraus bezahlt. So konnten wir uns ein wenig ausruhen und waren bereit, sofort abzureisen, sollte eine Meldung von Waller bei uns eintreffen. Der Kommissar war überaus kooperativ und hatte seinem ›Kollegen‹ Sepp versprochen, sofort einen Boten zu uns zu schicken.

Während ich problemlos ein kleines Nickerchen hielt, war der alte Offizier und Geheimagent unruhig auf und ab gegangen und fasste schließlich einen Entschluss. Als ich bei ihm am Nachmittag an die Zimmertür klopfte und mich wunderte, dass er nicht antwortete, drückte ich die Türklinke nach unter. Die Tür war unverschlossen, Sepp nicht anwesend, aber auf dem Tisch lag eine gekritzelte Notiz.

›Wilde Sau, zehn Uhr‹, hatte er vermerkt – mehr nicht, und ich drehte und wendete den Zettel vergeblich.

Ich ging zu Anton hinüber, dem es schon wieder gut ging. Er hatte den Verband abgenommen und schien keine Schmerzen mehr zu haben, begrüßte mich freudig und erkundigte sich, was wir jetzt unternehmen wollten.

»Das wird vermutlich die Spelunke sein, von der Sepp erfahren hat!«, bemerkte ich dazu. »Keine Ahnung aber, was er in der Zwischenzeit macht. Ich würde sehr gern dort einmal vorbeigehen und mir die Gegend ein wenig näher ansehen.«

»Gut, ich bin dabei!«, antwortete er rasch entschlossen, griff seine Jacke, die über einer Stuhllehne hing, und folgte mir in die Hotellobby.

»Da wollen Sie doch nicht wirklich hin!«, antwortete der junge Mann, der hier Dienst tat. »Das ist eine ganz üble Wirtschaft, und sicher nicht geeignet, um dort etwas zu sich zu nehmen. Wenn ich Ihnen da etwas empfehlen dürfte …«

»Leider nicht, es muss die Wilde Sau sein.«

Der junge Mann zog die Augenbrauen hoch, dann nahm er einen Bleistift und fertigte geschickt auf einem Blatt Papier eine Skizze an.

»Überlegen Sie es sich lieber noch einmal. Und falls Sie Hilfe benötigen – hier, an dieser Kreuzung, steht immer ein Schutzmann.«

Ich bedankte mich, und wir zogen durch die Straßen, orientierten uns an der kleinen Zeichnung und waren gerade vor der schmalen Gasse, in der sich das berüchtigte Lokal befinden sollte, als ich unvermittelt stehen blieb und Anton gegen mich stieß.

»Was ist?«, knurrte er unfreundlich.

»Drüben vor dem Lokal steht der Baron!«, sagte ich halblaut.

»Ach was, das ist doch nicht möglich!«, antwortete Anton und schob sich um die Hausecke, nur, um im nächsten Augenblick zurückzuzucken. »Sakra! Das ist er leibhaftig!«

»Er unterhält sich dort mit jemand und scheint gar nicht daran zu denken, dass man ihn hier aufspüren könnte. Anton, tue mir den Gefallen, lauf zu der Straßenkreuzung und alarmiere über den Polizisten dort den Kommissar. Dann komm, so schnell es geht, zu dem Lokal!«

»Und was machst du derweil?«

»Ich passe auf. Sollte der Kerl verschwinden, werde ich ihm verfolgen. Dann bin ich zwar allein auf mich gestellt, aber das bin ich gewöhnt. Wir treffen uns dann auf jeden Fall am Abend in unserem Hotel wieder.«

Einen Moment zögerte Anton, dann nickte er zustimmend und eilte davon.

Falkenstein setzte noch immer sein Gespräch mit einem kleineren, älteren Mann fort, dessen Gesicht ich allerdings nicht erkennen konnte. Gerade überlegte ich, ob ich die Gasse umgehen und mich von der anderen Seite nähern sollte, weil mir dort ein Vorgarten bessere Deckung ermöglichte, als sich die beiden per Handschlag verabschiedeten und der Baron in das Lokal zurückging.

Jetzt war guter Rat teuer.

Ein Blick umher – weder von Anton noch von einem Polizisten konnte ich etwas erkennen. Also gab es für mich nur einen Gedanken. Ich musste diesem Mann folgen, wollte ich ihn nicht vielleicht im letzten Moment aus den Augen verlieren. Als ich noch im Schatten der Häuser ging, entdeckte ich die Brandgasse neben dem Lokal. Mich durchzuckte der Gedanke, dass es dort möglicherweise einen Nebenausgang gab. Rasch bog ich in die dunkle Gasse ein und sah tatsächlich neben ein paar Holzkisten mit leeren Flaschen eine Tür, klein und unauffällig. Ich probierte die Türklinke und – stand gleich darauf in einem nach allerlei Unrat riechenden Abstellraum. Hier hatte man offenbar Küchenabfälle in offene Holzkisten geworfen, daneben standen und lagen Flaschen aller Art, und auch in einem Regal befanden sich mit Abfällen gefüllte Kisten. Das alles erfasste ich innerhalb eines Augenblickes, denn mattes Dämmerlicht fiel durch ein Fenster, das nach vorn zur Straße ging. Obwohl die Scheiben vom Dreck und Staub fast vollkommen verklebt und trüb waren, reichte das eindringende Licht für mich zur Orientierung aus.

Von irgendwoher hörte ich laute Stimmen und Gelächter. Vorsichtig öffnete ich die gegenüberliegende Tür und lauschte. Die Stimmen deuteten auf die Gaststube, die über einen schmalen Flur vom Abstellraum zu erreichen war. Jetzt war ich auch an dieser Tür und öffnete sie zentimeterweise, bevor ich eintrat.

Ich hatte mich verrechnet, denn das war nicht der Gastraum.

Es handelte sich wohl um den Raum mit den Bierfässern, denn der unangenehme Abfallgeruch des Vorraumes mischte sich hier deutlich mit dem Dunst der auf dem Steinfußboden austrocknenden Bierlachen. Auf der anderen Seite standen zwei Personen und sprachen halblaut miteinander. Ich duckte mich sofort hinter eines der Fässer und konzentrierte mich darauf, das Gespräch zu verstehen.

»Dann eben der Zug … zehn Uhr. Es ist wichtig, dass ich … und Trier … dort treffe …«

Obwohl ich mich anstrengte, war beim besten Willen nicht zu verstehen, was der andere antwortete. Wieder sprach der größere der beiden, und machte dabei wohl ein paar Schritte in meine Richtung. Jetzt konnte ich an der Stimme den Baron zweifelsfrei erkennen.

»Wahnsinn von Euch, das Haus zu sprengen! Jetzt werden sie alle Schlupfwinkel durchsuchen, und ich muss sehen, dass ich die anderen rechtzeitig warne!«

»Wir mussten so handeln, um das Material rechtzeitig zu vernichten. Übrigens, die Bahnhöfe werden streng überwacht, wie willst du es anstellen?«

Der Baron ließ sein arrogantes Gelächter hören, das ich während des Aufenthaltes in der Hütte schon mehrfach von ihm vernommen hatte.

»Keine Sorge, mein Freund. Ich bin ein Meister der Maske und kann dir versichern, dass mich niemand … warum kommst du von der Seite?«, unterbrach er seine Rede.

Das hätte mich warnen sollen, aber es war schon zu spät, als ich ein leises Scharren hinter mir vernahm. Instinktiv wich ich dem Schlag aus, konnte aber nicht verhindern, dass er mich noch am Kopf erwischte und dann meine rechte Schulter traf. Jemand war mir über den gleichen Weg gefolgt!, war mein letzter Gedanke, als mich der zweite Schlag traf und betäubte.

Ich schlug die Augen auf und hatte das Gefühl, nicht sehr lange ohnmächtig gewesen zu sein. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass man darauf verzichtet hatte, mich zu fesseln. Und wenn meine Nase mir das Gefühl übermittelte, auf einer Müllhalde zu liegen, so konnte das eigentlich nur der erste Raum sein, den ich betreten hatte. Allerdings war der Raum jetzt in ein sehr diffuses Licht getaucht, und ich musste also doch über längere Zeit betäubt gewesen sein. In meinem Kopf hämmerte und klopfte es, als ich mich mühsam an einer Wand wieder aufrichtete und dann zur Tür wankte. Sie war verschlossen, was mir jedoch keine Sorge bereitete. Hatten mich meine Gegner nur niedergeschlagen und hier unten eingeschlossen, so bestand noch die Hoffnung, sie zu erwischen – vor der Abfahrt des Zuges, von dem sie gesprochen hatten.

So gut es ging, orientierte ich mich in dem Raum, tastete über den Kisten entlang und entdeckte schließlich in einer Ecke ein massives Eisenrohr, das meinen Zwecken dienlich schien. Wenig später war es mir gelungen, es als Hebel am Türschloss einzusetzen und mit etwas Anstrengung konnte ich es herausreißen. Polternd fiel es auf den Steinboden. Ich hielt inne und lauschte.

Im Haus blieb es ruhig, ich zog die Tür auf, stand einen Augenblick später in der dunklen Brandgasse und fluchte leise vor mich hin. Meine Hoffnung, dass ich nur für kurze Zeit ausgeschaltet war, erfüllte sich nicht. Die Dämmerung war hereingebrochen, und es wurde höchste Zeit für mich, zu handeln. Auf der Kreuzung traf ich allerdings keinen Polizisten an und beeilte mich nun, zu Kommissar Waller zu gelangen, um ihn ins Bild zu setzen.

»Der Kommissar ist im Einsatz, ich kann ihn nicht erreichen!«, lautete die Antwort eines bull-beißig aussehenden Hünen in Polizeiuniform, der sich mir im Eingangsbereich entgegenstellte und vorsichtshalber schon einmal einen Knüppel in die Hand nahm. Die Blicke, mit denen er mich musterte, verrieten mir einiges über mein Äußeres, das mir erst jetzt richtig bewusst wurde. Ich sah an mir hinunter und nahm meine beschmutzte und zudem übel riechende Kleidung wahr.

»Hören Sie, wir waren heute zusammen mit dem Kommissar im Einsatz beim Haus der Anarchisten, das in die Luft gesprengt wurde. Ich weiß jetzt, wo sich ein weiteres Mitglied der Bande aufgehalten hat, wir müssen sofort mit einem Polizeiaufgebot dorthin und das Nest ausnehmen!«

Der Mann verzog keine Miene, als er mit lauter Stimme antwortete:

»Ich bedaure, aber ich kann und darf Ihnen dazu nichts weiter sagen!«

Doch so schnell gab ich nicht auf.

»Dann schicken Sie dem Kommissar einen Mann hinterher, der ihm die Adresse der ›Wilden Sau‹ nennt. Dort bin ich dem Mann begegnet, der sich Baron von Falkenstein nennt und wurde hinterrücks niedergeschlagen!«

Die Miene des Polizisten verfinsterte sich deutlich.

»Und was haben Sie in dieser Spelunke zu suchen gehabt?«

 

»Hören Sie, guter Mann, die Sache eilt jetzt wirklich, wenn wir verhindern wollen, dass ein Mörder und Bombenleger entkommt!«

Kurz zog der Mann die Augenbrauen hoch, dann ließ er sich zu der Bemerkung herab: »Mag ja sein, dass Sie recht haben. Aber der Kommissar ist genau dorthin geeilt. Vor vielleicht einer Viertelstunde.«

»Zum Treffpunkt dieser … Kerle?«

Der Polizist presste die Lippen fest aufeinander und schien nicht bereit zu sein, sich weiter zu äußern. Also entschloss ich mich, in unser kleines Hotel zurückzukehren und hoffte, dort Sepp und Anton anzutreffen. Doch auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht, sie waren dort noch gar nicht wieder gesehen worden. Ihre Zimmerschlüssel hingen an den Haken. Deshalb ließ ich mir meinen Schlüssel und den vom Bad geben, reinigte mich gründlich, zog mir frische Sachen an und nahm meinen Colt Navy aus meiner Reisetasche. Ich hatte nach dem Verlust meiner Adams Revolver die Vorteile dieser Waffe kennengelernt und war froh, sie für alle Fälle mit auf die Gamsjagd genommen zu haben.

Über diese Dinge war es neun Uhr geworden und von meinen Freunden nichts zu sehen, deshalb machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Erfreut stellte ich fest, dass es hier wirklich von uniformierten Beamten geradezu wimmelte. Niemand kam durch die Sperren, ohne sich richtig ausweisen zu können. Außerdem würde es hier sicherlich noch zahlreiche Geheime geben, die in ziviler Kleidung Ausschau hielten.

Ich ging hinüber zu einem Geschäft in der Bahnhofshalle, das in seiner Auslage einige internationale Zeitungen hatte und tat, als würde ich die Schlagzeilen studieren, während ich aufmerksam die Gesichter der vorübereilenden Reisenden musterte. Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr zeigte mir, dass es noch reichlich eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges nach Triest war. Gerade entschuldigte sich jemand neben mir mit ein paar gemurmelten Worten und griff sich eine der oberen Zeitungen aus dem Fach, als mein Blick auf die darunter liegende englische Tageszeitung The Times fiel. In großer Aufmachung wurde über einen Bombenanschlag auf einen Abgeordneten des Oberhauses berichtet. Ich überflog die erste Seite, weil ich die Parallelen zu den hiesigen Ereignissen erstaunlich fand. Hier wie dort war eine Gruppe Anarchisten dabei, Bombenanschläge zu verüben, ohne dass man ihre Ziele kannte. Ich blätterte die Titelseite um und las mich gleich darauf fest, denn in der Fortsetzung des Artikels wurde über einen Orden aus Deutschland berichtet, der sich von dem ursprünglichen durch Streit abgespalten hatte. Gerade fand ich einen Hinweis auf die Verbindung zu anderen Gruppen in Österreich, der Schweiz, Italien und – Deutschland, als ein kleines, leicht gebeugtes Männlein mich am Ärmel zupfte und auf die Times deutete.

»Vor dem Lesen bitte bezahlen, der Herr!«

»Oh, ja, natürlich!«

Ich zog meine Börse heraus, bezahlte und nahm die Zeitung mit, denn ich hatte gerade vor der Unterbrechung einen weiteren Artikel entdeckt, der sich mit dem deutschen Orden beschäftigte. Er beschrieb ziemlich genau den ursprünglichen Zweck zur Zeit der Kreuzritter. Damals entstanden ja zahlreiche solcher Orden als Schutzverbände; unter ihnen sicher die berühmtesten, die Templer. Und in der Zeitung waren auch die Namen einiger Großkomture vermerkt, darunter Baron Hermann von Falkenstein. Ich setzte mich auf eine der Holzbänke und vertiefte mich erneut in die sehr aufschlussreiche Lektüre, als mein Blick zufällig auf die Schuhe eines Mannes fiel, der dicht an mir vorüberging. Nicht, dass an den knöchelhohen Stiefeletten etwa Staub oder Dreck klebte. Nein, sie waren so blitzblank poliert, dass man sich darin spiegeln konnte.

Umso mehr fiel aber die wohl drei Zentimeter lange dicke Schramme auf, die sich quer über das Oberleder zog. Ich hatte Schuhe mit einer solchen Schramme zuletzt in der Pirschhütte gesehen. Der Baron war damit beschäftigt, seine Schuhe sorgfältig zu putzen und fluchte gerade auf sehr unpassende Weise über die Schramme, die er sich im Vorübergehen an einem vorstehenden Nagel gerissen hatte.

Von den Schuhen ging mein Blick sofort an der langen Gestalt aufwärts, und was ich sah, konnte durchaus zum Baron passen. Allerdings nicht das ziemlich lange, leicht gewellte, graue Haar, das ihm, einem Bohème nicht unähnlich, bis über den Kragen reichte. Dazu trug der Mann einen hellen, leicht taillierten Übermantel und einen breitrandigen Hut. Ich war alarmiert, erhob mich sofort, kaum dass er ein paar Schritte vorüber war, und folgte dem Mann.

Ein Blick zur Bahnhofsuhr – der Zug würde in fünf Minuten abfahren. Alles deutete darauf hin, dass dieser Reisende den Zug nach Triest besteigen wollte, aber er schien noch viel Zeit zu haben. In der linken Hand trug er eine kleine, leichte Reisetasche, in der rechten schwang er unternehmungslustig einen Stock, den er immer mit Nachdruck auf die Steinplatten des Perrons (Bahnsteig) stieß.

Ich war dicht hinter ihm, als er die Sperre erreichte.

Schon stellte er seine Reisetasche ab, griff in die Tasche, holte ein Papier heraus und hielt es dem Kontrolleur hin. Ich stellte mich absichtlich etwas abseits, um ihn besser beobachten zu können. Doch sein breitrandiger Hut ließ es nicht zu, dass ich sein Gesicht erkennen konnte. Das Einzige, was ich im unteren Bereich des Kopfes ausmachen konnte, war ein grauer Vollbart.

Der Bahnkontrolleur sagte etwas zu den beiden Polizisten, die links und rechts neben dem schmalen Durchgang standen, die Gewehre geschultert. Jetzt trat einer der beiden Uniformierten vor und warf einen Blick auf das Dokument.

»Sie sind Herr von Seydlitz aus Hamburg?«, erkundigte sich der Polizist, das Ausweispapier in der Hand haltend.

»So ist es!«, lautete die kurze, aber gut verständliche Antwort.

»In Geschäften unterwegs nach Triest?«, erkundigte sich der Beamte weiter.

»Ja, natürlich, warum fragen Sie? Der Zug wird gleich abfahren, ich möchte einsteigen!«, erwiderte der Reisende.

»Moment bitte, warten Sie hier!«

Der Beamte trat zu seinem Kollegen, zeigte ihm das Papier, und jetzt beugten sich beide über das gestempelte Dokument, um es genau zu prüfen.

»Bitte, meine Herren, was gibt es da so lange zu prüfen? Meine Papiere sind in Ordnung, ich fahre seit Jahren regelmäßig nach Triest, um mich mit meinen Geschäftspartnern aus Kairo zu treffen.«

Der erste Polizist blickte ihn mit strenger Miene an.

»So, nach Kairo wollen Sie also reisen?«

»Nein, ich fahre nach Triest und treffe mich dort mit anderen Kaufleuten aus Kairo! Bitte, beeilen Sie sich doch, es ist für mich sehr wichtig, dass ich diesen Zug erreiche! Eben werden die Abteile geschlossen!«

»Moment, bevor wir diese Papiere nicht überprüft haben, reisen Sie nirgendwohin!«

Der Polizist wandte sich ab und machte ein paar Schritte auf das kleine Häuschen zu, das mitten auf dem Perron stand und sonst wohl dem Bahnpersonal zum Aufenthalt diente. Kaum stand er vor der Tür, als sie sich öffnete, und zu meiner grenzenlosen Überraschung kein anderer als Kommissar Waller heraustrat. Der Polizist flüsterte ihm hastig etwas zu, und der Kopf des Kommissars flog herum, um den Fremden zu mustern.

Ich bemerkte eine Veränderung in der Haltung des Mannes.

Von einem Augenblick zum anderen hatte er sich völlig verwandelt. War er eben noch ein forsch auftretender Handlungsreisender, so schien er jetzt angespannt und wachsam die Polizisten zu mustern, die eben an die Absperrung zurückkehrten, wo der zweite Uniformierte wie eine Statue stand.

Ein Pfiff ertönte, und ich hörte das typische Geräusch der zischenden Ventile, dann gab es einen Ruck an der großen Pleuelstange, ein Zittern schien durch das gewaltige, schwarze Ungetüm zu laufen, das kurz vor dem Ende des Perrons bereit zur Abfahrt stand.

Der Grauhaarige griff mit der Linken in die Tasche seines Überziehers, als sich die beiden Polizisten näherten. Zugleich ruckte nun die Maschine laut an, die Räder bewegten sich und schienen durchzudrehen. Die Waggons schlugen mit ihren Puffern gegeneinander, und als die beiden Polizisten eintrafen, schrie der Fremde etwas, was im Lärm der anfahrenden Lokomotive unterging. Ich sah nur, wie er einen Revolver aus der Tasche zog und auf die Beamten richtete.

Mit zwei, drei Sätzen war ich bei ihm und schlug seinen Arm nach oben, als der Schuss krachte. Doch der Fremde, in dem ich den Baron vermutete, ließ den Revolver nicht fallen. Noch immer hatte er in der rechten Faust seinen Spazierstock, den er nun dem ersten Polizisten ins Gesicht schlug, sodass der Mann mit einem Aufschrei zurücktaumelte, die Hände abwehrend hochnahm, aber auch gegen die beiden anderen Polizisten taumelte und sie mit sich riss. Der Angreifer hatte seine Reisetasche zurückgelassen und lief eben über den Perron, während die Lokomotive schnaufend und stampfend die lange Waggonreihe aus dem Bahnhof zog und bereits im Freien war.

»Halt, stehenbleiben, Polizei!«, schrie jemand, und ich hoffte, dass die beiden sofort abgegebenen Schüsse nur Warnschüsse in die Luft waren, denn ich war dicht hinter dem Flüchtenden. Während der Zug beschleunigte, lief der Baron mit weit ausgreifenden Schritten hinter den davonrollenden Wagen her. Er war jetzt neben dem zweiten oder dritten und sprang auf das Trittbrett, klammerte sich an einen Haltegriff und riss die erste Abteiltür auf. Ich holte rasch auf, erreichte den letzten Waggon und folgte dem Beispiel. Auch ich fand Halt auf dem Trittbrett, riss die Tür auf und ließ mich mehr hineinfallen, als dass ich den letzten Schritt machte. Der Zug hatte jetzt ein Tempo erreicht, das mich taumeln ließ, und ich konnte in letzter Minute verhindern, dass ich einer jungen Dame auf den Schoß fiel. Neben ihr saß ein älterer, würdiger Herr, der mir einen missbilligenden Blick zuwarf. Als ich mich mit einer Entschuldigung aufrappelte, erkannte ich, dass der Mann das Gewand eines Priesters trug. Die anderen Plätze waren nicht belegt. Ich zog die schlagende Abteiltür heran und verriegelte sie nach einem schnellen Blick den Zug entlang, der jetzt bereits seine Reisegeschwindigkeit erreicht hatte und durch die Landschaft eilte.

»Bitte um Verzeihung, aber es handelte sich um eine Notsituation. Gnädiges Fräulein, Hochwürden – wir werden sicher nicht länger das gemeinsame Reisevergnügen haben, so sehr ich das auch bedaure!«

Der Geistliche stieß ein verächtliches Schnauben aus.

»Wie stellen Sie sich denn das Verlassen des Abteiles vor? Es gibt keinen Seitengang, mein Herr!«

Darüber hatte ich nicht weiter nachgedacht, denn die amerikanischen Waggons, in denen ich bislang unterwegs gewesen bin, waren vollkommen anders konstruiert und erlaubten den Reisenden nicht nur ein Höchstmaß an Beweglichkeit, sondern zudem auch mehr Komfort in der Ausstattung.

»Sie müssen schon mit uns bis zum nächsten Halt Vorlieb nehmen!«, sagte jetzt das Fräulein leise. Als ich sie anblickte, errötete sie leicht und senkte den Kopf, sodass ihr Gesicht wieder im Halbschatten ihres Hutes lag. Sie war keine Schönheit, aber auch nicht hässlich, kurz, eine Frau, die man vielleicht beim ersten Blick nicht richtig wahrnahm, dabei aber doch freundlich und warmherzig, wie sich bald erweisen sollte.

»Bitte nochmals um Verzeihung, Fräulein. Es ging bei meiner etwas unkonventionellen Art, diesen Zug noch zu erreichen, um Leben und Tod. Was ist denn die nächste Station?«

Die junge Dame sah rasch zu dem Geistlichen hinüber, der mit wütendem Gesicht aus dem Fenster starrte, als ginge ihn das alles im Abteil nichts mehr an.

»Das wird Laibach sein, in wohl erst sieben Stunden.«

»Oh, das wusste ich nicht. Dann also auf eine gute, gemeinsame Fahrt!«

Ich richtete mich an der Abteiltür auf meinem Sitz ein wenig bequem ein und beobachtete die dunkle Landschaft, durch die wir eilten. Meine Gedanken waren mehr bei den Gefährten, die ich in Innsbruck zurückgelassen hatte – und meine beiden Gewehre, die mir so oft treue Dienste leisteten. Aber ich war zuversichtlich, dass Sepp nach den Ereignissen auf dem Bahnhof die richtigen Schlüsse ziehen würde.

Und ich war im selben Zug wie der flüchtende Anarchist und Attentäter, der sich als Baron bezeichnet hatte. Großkomtur einer Loge, die vom König selbst geführt wurde! Was für ein Wahnsinn!, dachte ich. War es denkbar, dass es eine Verbindung zu den Ereignissen in London gab? Darauf schien die mehrfache Erwähnung des Georg-Orden zu deuten, aber man konnte ja nicht die altehrwürdige Einrichtung mit diesen Verbrechen in Verbindung bringen!‹

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