Mein Blutsbruder: Der Orden der Schwarzen Löwen – Die Jagd auf eine Mörderbande

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6. Kapitel

Unser gemeinsames Ziel war nicht Tölz, sondern Innsbruck.

Von Baron Falkenstein hatten wir eine ziemlich gute Beschreibung, die uns auf dem Bahnhof der Nebenstrecke die Gewissheit brachte, dass der Flüchtige dort ein Ticket erstanden hatte und nach Innsbruck unterwegs war. Leider hatte er inzwischen einen Vorsprung von gut vierundzwanzig Stunden, und diese Nebenstrecke wurde nur zweimal am Tag bedient.

Sepp, Anton und ich versuchten alles Mögliche, um die Verfolgung rascher aufnehmen zu können, aber selbst mit einer Generalvollmacht des bayerischen Königs, die Sepp dem Stationsvorsteher präsentierte, war nichts zu beschleunigen. Verzweifelt erkundigte sich der Beamte, ob er denn eine Lokomotive per Telegraf anfordern solle und damit einen Sonderzug für uns zusammenstellen könnte, und begeistert stimmten wir dieser Möglichkeit zu.

Doch nach einigen telegrafischen Nachrichten hin und her stellte es sich heraus, dass eine solche Lokomotive nur in München bereitstände und nicht vor Mittag des folgenden Tages eintreffen könnte. Und hier, in Tölz, gab es nur einen alten Personenwagen, den man für uns hier vor Ort ankoppeln konnte. So verzichteten wir schweren Herzens, verbrachten eine schlechte Nacht in der Dienstwohnung des Stationsvorstehers und stiegen dann am nächsten Tag um neun Uhr in den Tageszug nach Innsbruck.

»Himmel, Herrgott, Sakra!«, schimpfte nach einer Stunde mühsamen Dahinzuckelns der Sepp und riss das Abteilfenster auf. Neben dem Rauch der Lokomotive wehte auch ein frischer Wind herein, der uns frösteln ließ. »Da kann man ja während der Fahrt noch Blumen pflücken!«

»Beruhige dich doch, Sepp!«, antwortete ich ihm. »Falkenstein hat zwar einen Vorsprung, aber schneller als wir kam er auch nicht nach Innsbruck!«

»Aber Charly, ich verstehe deine Ruhe gar nicht! Er kann den nächsten Zug nach Triest nehmen, steigt dort auf einen Dampfer und verschwindet auf Nimmerwiedersehen!«

»Macht er nicht, Sepp«, antwortete ich vollkommen gelassen.

»Ach so, du kennst seine Pläne?«, ereiferte sich Sepp, während Anton die ganze Zeit über in seiner Ecke lehnte und aus dem Fenster sah.

»Das zwar nicht, aber ich kenne die Abfahrtzeiten der Dampfer des Österreichischen Lloyds ziemlich genau. Du erinnerst dich? Kurz vor meinem Vortrag in München war ich gerade erst aus dem Orient zurückgekehrt, wo ich mit meinem alten Freund, Sir David Lindsay, ein paar sehr aufregende Abenteuer in Mesopotamien erlebte (vgl. dazu: Mein Orient-Tagebuch – Der Löwe von Assur). Ich habe mir für alle Fälle den neuen Fahrplan mitgenommen und weiß daher, dass die Schiffe nach Konstantinopel in dieser Zeit nur einmal wöchentlich gehen, und zwar am Dienstag.«

Der alte Offizier starrte mich verblüfft an, dann lachte er fröhlich heraus.

»Hört Euch den alten Fuchs an! Wer hätte gedacht, dass ich einmal an der Seite Old Shatterhands / Kara Ben Nemsi in den Orient reisen werde? Und vielleicht treffen wir da auch noch deinen guten Freund Hadschi Halef Omar?«

Jetzt musste auch ich laut herauslachen.

»Mein lieber Sepp, du kommst mir schon fast vor wie Sir David Lindsay! Immer, wenn es in ein neues Abenteuer ging, pflegte er zu sagen: ›Ah, wonderful, Abenteuer, viele Abenteuer! Ich zahle, zahle sehr gut!‹ Aber ich denke mal, wenn unsere Depeschen an die Polizeibehörde in Innsbruck erfolglos bleiben, werde ich allein weiterreisen müssen!«

»Das kommt ja überhaupt nicht infrage!«, empörte sich Sepp, und nun rappelte sich auch Anton aus seiner Ecke auf.

»Will mir mal einer erzählen, was das für Leute sind? Ein Old ... Schätterhand oder Kara Ben ist mir noch nie begegnet, warum sollen die denn auch noch mitkommen?«

Jetzt lachte der Wurzelsepp so herzlich heraus, dass ihm schließlich die Tränen über die Wangen rollten, während unser Bummelzug langsam in den Bahnhof von Innsbruck einlief.

Wir griffen unser Gepäck auf und stiegen aus unserem Abteil, wobei wir einiges Aufsehen erregten, denn wir alle trugen unsere Gewehre über der Schulter. Nun, ich räume ein, dass die zahlreichen Jagdausflügler zu dieser Zeit durchaus in ähnlicher Weise herumliefen – trotzdem war es doch immer ein ungewohnter Anblick, gleich drei Männer mit Gewehren über der Schulter auf dem Bahnsteig zu sehen. Und wir erregten auch gleich die Aufmerksamkeit eines Gendarmen, der uns schon von Weitem beobachtet hatte, dabei unaufhörlich seinen Schnurrbart abwechselnd auf beiden Seiten zwirbelnd. Er setzte sich in Bewegung, und wir blieben stehen, stellten die kleinen Reisetaschen ab und begrüßten den Polizisten mit freundlichen Gesichtern, während er stirnrunzelnd unsere Waffen musterte.

»Jagdausflug, die Herren?«, schnarrte er schließlich mit seltsam metallisch klingender Stimme, und Sepp griff in die Jackentasche, zog seine königliche Legitimation heraus und reichte sie dem Beamten, der einen raschen Blick darauf warf und uns dann zunickte.

»Schon in Ordnung, wenn auch in Bayern und nicht in Österreich ausgestellt. Dann wünsche ich noch eine gute Weiterreise, wohin soll es denn gehen?«

»Wir brauchen die Hilfe der Polizei!«, antwortete Sepp mit geheimnisvoll gesenkter Stimme. »Wo ist denn die nächste Wache?«

»Oh, da begleite ich Sie am besten, meine Herren. Es ist nicht weit von hier aus.«

7. Kapitel

»Ihre Beschreibung hört sich zwar sehr detailliert an, aber eine Fotografie wäre da natürlich etwas einfacher«, erklärte uns Kommissar Waller, nachdem wir unseren Bericht beendet hatten. Der Beamte hatte uns aufmerksam zugehört, jetzt nahm er eine Mappe auf, blätterte eine Weile darin und zog schließlich eine Vergrößerung heraus, drehte sie zu uns und deutete auf den dort erkennbaren Mann.

»Das ist Baron Hermann von Falkenstein!«, rief ich erstaunt aus. »Sie haben also eine Akte über ihn? Wie kommt das?«

Der Beamte machte eine abwehrende Handbewegung.

»Nicht so voreilig, mein Herr. Dieser Mann hier ist also mit Ihrem Herrn Baron identisch?«, vergewisserte er sich noch einmal.

Auch Sepp nickte nach einem raschen Blick.

»Natürlich, ich habe ihn mehrfach bei Hofe erlebt. Der Baron ist bei uns ein bekannter Mann!«

»Also …«, antwortete der Kommissar und nahm das Blatt noch einmal auf. »Entweder hat er einen Doppelgänger, oder dieser Falkenstein ist ein ganz abgefeimter Betrüger und Anarchist!«

Jetzt war es an uns zu staunen.

»Anarchist?«, echote ich, und auch Sepp hatte erstaunt seinen Mund weit aufgesperrt. Nur Anton tippte mehrfach auf das Foto und nickte dazu.

»Der Sumser geat ma aufn Zoager!«, verkündete er barsch, und als ihn der Kommissar verständnislos ansah, ergänzte er: »Der Mann ist mir vom ersten Tag an auf die Nerven gegangen!«

»So, dann suchen wir also doch den gleichen Mann, wie es scheint!«, stellte Waller mit leicht ironischem Unterton fest. »Sollte mich mit dem Gesicht auch wundern! So ein blasierter Mensch fällt einem auf, und man vergisst es so schnell nicht wieder. Also, meine Herren, dann habe ich gute Nachrichten für Sie!«

»Er wurde bereits in der Stadt gesichtet?«, rief Sepp erfreut aus, und der Kommissar schmunzelte.

»Nein, viel mehr. Er befindet sich bei uns in sicherem Gewahrsam!«

»Das ist aber mal eine gute Nachricht!«, stieß Sepp aus und ließ ein erleichtertes Schnaufen folgen. »Aber wie ist das möglich?«

Anton fiel immer wieder in seinen Dialekt zurück, so auch jetzt, als er sich wieder einmal erkundigte: »Kruzifix noamal eini, wia ischn des passiert?«

»I vergiss mi«, erwiderte aber der Kommissar im Innsbrucker Dialekt. »Es isch ietz amol a so. Und ich würde mich sehr freuen, wenn wir ab jetzt wieder Hochdeutsch sprächen!«

»Das kann eh nur der Charly hier!«, warf Sepp ein, und damit löste sich die leichte Spannung. Der Kommissar lehnte sich lächelnd auf seinem Stuhl zurück und erklärte:

»Es war einer meiner Beamten, die Dienst am Bahnhof taten. Ihm fiel der Mann auf, weil er eine Auseinandersetzung mit einem anderen Herrn hatte, als er auf dem Bahnsteig stand. Schließlich wurden die beiden handgreiflich, und der Beamte schritt ein. Während der, den Sie den Baron nennen, auch gegen ihn ausfallend wurde, nutzte der andere die Gelegenheit und verschwand im Gewühl der Reisenden.«

»Und – Baron von Falkenstein? Sitzt tatsächlich in Ihrem Gefängnis?«, wollte ich wissen.

»Aber ja, natürlich, ich sage es Ihnen doch gerade! Eine Überprüfung seiner Personenbeschreibung ergab, dass ein gewisser Friedhelm Morgenstern alias Baron von Falkenstein bereits wegen mehrfachen Wechselbetruges in Deutschland wie auch in Luxemburg, Belgien und Monte Carlo gesucht wird. Und man verdächtigt ihn nicht nur dieser Betrügereien, sondern zudem auch der Beteiligung an einem Bombenanschlag hier in Innsbruck. Inzwischen wissen wir es mit Bestimmtheit, dass er im Kontakt mit einer hiesigen Gruppe Anarchisten steht.«

Kommissar Waller zeigte eine äußerst zufriedene Miene, als er seinen Bericht wieder endete.

»Ein Bombenanschlag – wie das?«, wollte ich wissen.

»Nun – wie unsere Ermittlungen ergeben haben, hatte er in einem Pfandhaus mehrere Goldstücke versetzt und wollte sie auslösen, hatte aber den Pfandschein nicht mehr. Der Betreiber verweigerte zu Recht die Herausgabe. Noch in der Nacht explodierte eine Bombe in dem Haus und ließ es niederbrennen.«

»Und – der Bombenwerfer war dieser Morgenstern?«, hakte ich nach.

»Man hat ihn dort kurz vor der Explosion gesehen, und zwar in einem gegenüber an der Ecke befindlichen Lokal. Dort hat er in der Zeit von elf Uhr dreißig des Nachts bis zur Mitternachtsstunde gesessen und nur immer an seinem Glas Bier genippt. Dabei fiel dem Wirt seine Nervosität auf, denn immer wieder zog er seine Taschenuhr heraus und las die Zeit ab.«

 

»Das ist natürlich sehr verdächtig!«, sagte ich ironisch, aber der Kommissar nickte nur bestätigend.

»Wollen wir einmal hinüber in das Gefängnis gehen? Ich muss nur zwei Beamte dazu mitnehmen, wir wollen ja kein Risiko eingehen!«, sagte Waller und lächelte dabei höchst vergnügt.

Kaum fünf Minuten später waren wir auf dem Weg und gingen durch ein paar endlose Gänge des Nebenhauses, wo uns jeweils die dort stehenden Beamten nach kurzem Blick die vergitterten Türen aufschlossen.

»Hier sind wir richtig!«, meldete einer der Schließer dem Kommissar, suchte eine Weile an seinem Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel und drehte ihn schließlich mehrfach herum. Dann öffnete er die Tür und – erstarrte nach dem ersten Schritt.

»Aber das … das ist unmöglich!«, stammelte der Schließer.

Wir drängten uns hinter ihm durch und standen in der leeren Zelle. Das Fenster stand weit offen, von den Stäben waren in der Mitte alle entfernt, nur rechts und links waren zwei stehen geblieben. Dort hatte der Gefangene das Bettlaken angeknüpft, sich durch die Öffnung gezwängt und war an der Außenwand hinuntergeklettert. Ich sah aus dem Fenster und erkannte, dass eine Flucht nach der Überwindung dieses Fensters geradezu sträflich leicht war. Vom Fenster war es nicht weit nach unten zu einem breiten, umlaufenden Steinsims. Und von dort in die Freiheit war es wirklich nur noch ein Katzensprung, denn das Gebäude war selbst ein Teil der Gefängnismauer, die jeweils direkt an das Gebäude mündete.

»Der ist auf und davon, Herr Waller!«, sagte ich bedauernd, und der Kommissar begann eine schier endlose Schimpftirade auf alle unfähigen Schließer loszulassen. Dann bückte er sich plötzlich unter die Pritsche, auf der nur noch das dünne Kopfkissen lag. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er eine Metallsäge in der Hand. Waller war dunkelrot im Gesicht angelaufen, seine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen.

»Das wird ein Nachspiel haben!«, rief er wütend.

»Der Mann hat auf alle Fälle Hilfe von außen bekommen!«, sagte ich dazu und warf einen Blick auf die Säge, die deutliche Spuren ihrer Benutzung aufwies.

»Dann treffen unsere Informationen also zu …«, bemerkte der Kommissar mehr zu sich selbst, aber ich hakte sofort ein.

»Wissen Sie mehr über diesen Baron, Kommissar?«

»Wir gehen zurück in mein Büro, dort können wir uns ausführlich unterhalten. Der Alarm ist durch die Schließer ausgelöst, jetzt wird eine Fahndung in der Stadt anlaufen. Auch den Bahnhof werden wir überwachen.«

Ich zuckte die Schultern, denn der Ausbruch konnte nur in der Nacht unbemerkt geblieben sein. Das wenig verlockende Frühstück bestand aus einer Schale mit einem undefinierbaren Brei, der noch hinter der Türklappe stand, als wir eintraten.

Der Mann hätte also längst die Stadt verlassen und alle Spuren verwischen können.

Auf dem Weg zurück ins Kommissariat begegneten wir auf den Fluren vielen bewaffneten Wächtern, die aufgeregt hin und her liefen, aber das schien mir nun ein wenig zu spät zu sein. Doch die nächste Überraschung erwartete uns im nachfolgenden Gespräch.

»Wissen Sie, meine Herren, ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien!«, begann der Kommissar. Er hatte uns eine kleine Kiste mit Zigarren herübergeschoben und wartete nun auf Kaffee für uns alle, den er bei seinen Kollegen im Nebenraum bestellt hatte. Während wir uns also zu einer recht gemütlich wirkenden Besprechungsrunde zusammenfanden, knallten auf dem Flur die Türen, Stiefelabsätze polterten, Boten mit Telegrammen trafen ein, Fußstreifen und solche zu Pferd kamen und gingen.

»Doch nun bin ich überzeugt davon, dass uns die in den letzten Stunden eingetroffenen Nachrichten ein ganz anderes Bild zeichnen.«

Waller schaute auf, als einer der uniformierten Polizisten hereinkam und auf einem Tablett Tassen, eine Kaffeekanne und ein Kännchen mit Milch balancierte. Er stellte alles auf dem Tisch ab, um den wir saßen und rauchten und zog dann einen zusammengefalteten Bogen aus der Uniformtasche und gab ihn dem Kommissar. Der warf einen raschen Blick darauf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Tassen hochsprangen. »Endlich einmal eine gute Nachricht! Der Mann, der sich Baron von Falkenstein nennt, muss noch in Innsbruck sein! Hier, sehen Sie selbst, meine Herren!«

Sepp und ich schauten zugleich auf das Blatt, während Anton uns gespannt beobachtete.

»Der letzte Zug hat Innsbruck in der Nacht um elf Uhr verlassen, und der ging nach München ab. Heute Morgen sollte der erste Zug um sechs Uhr dreißig nach Triest abgehen, aber die Maschine hat einen Kesselschaden, eine Ersatzlokomotive wurde geordert und trifft erst in einer Stunde hier ein.«

»Und der Ausbruch könnte nicht so passiert sein, dass der Baron den Zug um elf Uhr erreichte?«, erkundigte sich Sepp.

»Ausgeschlossen, Herr Brendel, ganz ausgeschlossen. Die Zellen werden zur Nachtruhe um zehn Uhr kontrolliert, und zwar mit dem Betreten der Zelle und dem Anruf des Gefangenen, der darauf zu antworten hat. Auf diese Weise ist eine vollständige Nachtkontrolle gewährleistet.«

»Gut, und Sie überwachen auch den Bahnhof weiter und überprüfen alle Droschken?«

»Selbstverständlich, Herr Brendel. Sie müssen nicht von uns glauben, dass der Ausbruch eines Gefangenen ein Beweis für unsere schlechte Arbeit ist. So etwas geschieht eigentlich nie, jedenfalls nicht, solange ich im Dienst bin. Und damit bin ich auch mitten in unserem Thema.«

»Die Verschwörung!«, warf ich ein, und der Kommissar nickte bedächtig. Er stand auf, holte etwas aus einer Schublade seines Schreibtisches und legte wenige Augenblicke später eine dünne Mappe vor uns auf den Tisch.

»Wenn Sie sich selbst einmal überzeugen möchten? Das alles wurde von unseren Polizeiagenten zusammengetragen, die meiner Abteilung unterstellt sind. Natürlich geheim, und ich denke mal, dass Sie schweigen können, meine Herren! Von Herrn Joseph Brendel bin ich durch seine Legitimation überzeugt, und Sie beide …« Damit fiel ein prüfender Blick in meine und Antons Richtung, bevor er fortfuhr. »Sie beide sind mir ja durch den Herrn Brendel empfohlen worden.«

Wir nickten gleichzeitig, und während Sepp die Mappe öffnete und interessiert auf ein Wappen blickte, setzte Kommissar Waller seine Ausführungen fort. Je mehr wir erfuhren, desto verwunderter wurde ich. Da zeichnete sich ein Bild ab, das eine Katastrophe erahnen ließ, sollten diese Männer alles umsetzen, wie es hier in kurzen Stichworten aufgeführt war. Insbesondere Sepp war es, der nun gar nichts mehr von der Gemütlichkeit eines Wurzelsepps an sich hatte. Seine Gesichtszüge waren ernst und geradezu finster, und mit routinierter Art stellte er Waller seine Fragen, die uns halfen, etwas Licht in das Geschehen zu bringen.

Danach war der angebliche Baron Hermann von Falkenstein einer der Großkomture des Ordens vom Heiligen Georg, den der König als Großmeister selbst ernannt hatte. Der Orden ging zurück auf die Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts und wurde im 15. Jahrhundert von König Maximilian I. erneuert. Über die Jahrhunderte wechselte seine Bedeutung mit den veränderten Statuten, und unter König Ludwig II. kam es zur vollständigen Erneuerung. Doch damit wurde auch der Bruch eingeleitet, denn als Großkomtur wurde vorausgesetzt, dass die ernannten Adligen über acht männliche und acht weibliche Ahnen in der Adelskette Zeugnis ablegen konnten.

Genau daran kamen in der Linie von Falkenstein Zweifel auf, und schließlich legte man dem König nahe, Falkenstein aus dem Orden zu entfernen. Aber König Ludwig wollte den Mann nicht brüskieren, solange ihm nicht zweifelsfreie Berichte vorlagen. Auch das war einer der Gründe, den Baron zur Jagd einzuladen und ihm damit Vertrauen entgegenzubringen.

Für seinen Vertrauten und Geheimagenten Sepp erhielten dadurch aber auch der seltsame Schuss und der Vorfall mit der Steinlawine eine ganz andere Bedeutung.

»Ja, Herrschaftszeiten!«, stöhnte der Alte gerade und schob die Mappe von sich. »Das ist ja ein Verbrecher, und wir lassen ihn noch in die Nähe unseres Kini!«

»I glab dem Schmähtandler gor nix mehr«, ließ sich Anton knapp hören. »Wegen dem Gschichtldrucker bin i iatz der Deschek (habe ich jetzt den Schaden)!«

»Und für mich ist nun auch klar, dass der Kerl hier vor Ort Helfer hat. Da kam ein Bericht erst vor ein paar Wochen auf meinen Tisch, als dieser saubere Herr Baron in einer Schenke gesehen wurde, in der einige bekannte Anarchisten verkehren. Deshalb wird sie überwacht, und meine Agenten schreiben über jeden einen Bericht, der da ein und ausgeht.«

Ich beugte mich etwas vor und sah dem Kommissar direkt in die Augen.

»Das heißt doch aber auch, dass Sie Namen und wohl auch Adressen der Männer haben, die Falkenstein dort getroffen hat?«

Kommissar Waller machte eine lässige Handbewegung.

»Selbstverständlich. Und Sie dürfen mir glauben, dass in diesem Moment starke Polizeiabteilungen unterwegs sind und diesen Herren einen freundlichen Besuch abstatten.«

»Dann sind wir jedenfalls gut aufeinander abgestimmt. Jetzt bliebe nur noch …«, hatte ich begonnen, als die Tür aufgerissen wurde und ein Uniformierter eintrat.

»Herr Kommissar, es hat eine Schießerei gegeben!«

Waller sprang auf und öffnete seinen Schrank, um seine Dienstwaffe an sich zu nehmen.

»Was und wo, Mann, rasch!«

»In der Herrengasse beim Dom! Das Haus ist umstellt, wir warten darauf, dass die Männer endlich herauskommen – geschossen wurde noch immer, als ich losgeschickt wurde.«

»Ist ein Fahrzeug für mich bereit?«

»Selbstverständlich, Herr Kommissar!«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlossen wir uns Waller an, als er jetzt auf den Hof eilte, wo bereits eine Kutsche auf ihn wartete. Der Kommissar wollte etwas einwenden, als wir ebenfalls einstiegen, dann besann er sich aber und schwieg während der gesamten Fahrt.

8. Kapitel

Man hatte die Straße vorsorglich gesperrt, überall standen uniformierte Polizisten, die Karabiner in den Händen. Als wir aus der Kutsche stiegen, wurden gerade mit einem Messingtrichter, einem sogenannten Megafone, laute Befehle zu einem Haus gerufen. Das Gebäude bestand aus zwei Geschossen und machte einen etwas verwahrlosten Eindruck. Der Putz war zum Teil heruntergefallen, einige Fenster waren, vermutlich durch Einschüsse, zerstört, und die Gardinen flatterten im Luftzug. Es war ein seltsamer, geradezu gespenstischer Eindruck, denn auf den ersten Blick wirkte das Haus verlassen.

»Zum letzten Mal – kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, sonst werden wir das Haus erstürmen!«, klang die Stimme durch den Schalltrichter, und jetzt rief jemand aus: »Achtung, zweites Fenster, erster Stock!« Fast gleichzeitig fielen von dort in rascher Folge Schüsse. Ich vermutete, dass man mit einem Revolver schoss, und sofort wurde das Feuer von den Polizisten erwidert. Im Kugelhagel blieb in dieser Etage keine einzige Scheibe mehr heil.

»Vorwärts, holt die Verbrecher heraus!«, kommandierte ein Offizier der uniformierten Polizei, und etwa dreißig Polizisten, die Gewehre im Anschlag, liefen auf das Haus zu. Ich wollte Kommissar Waller etwas zurufen, denn ich hatte gerade in einer schmalen Gasse neben dem Gebäude, einer Brandgasse, kaum breit genug für eine Person, eine Bewegung gesehen. Da zerriss eine ohrenbetäubende Explosion die nach dem Polizeikommando gerade wieder eingetretene Stille, und Ziegelsteine polterten vom Dach auf die Polizisten herunter. Dann stieg eine grelle, rot-gelbe Flammensäule aus dem zerstörten Dach, und eine zweite Explosion erfolgte in der ersten Etage, die allerlei Schutt herumschleuderte.

Direkt neben mir stöhnte jemand schmerzerfüllt auf, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass Anton eine stark blutende Kopfwunde erhalten hatte. Fassungslos hielt er seine Stirn, während ihm das Blut durch die Finger rann und auf seine Jacke tropfte.

»Anton! Schnell, hier herüber!«, rief ich aus, packte ihn am Arm und zog ihn hinter die Polizeidroschke, deren Pferde jetzt so unruhig waren, dass der Kutscher Mühe hatte, sie trotz der angezogenen Bremse zu bändigen. Rasch zog ich dem Verletzten die Jacke herunter und versuchte, mit meinem Taschentuch die Blutung zu stillen. Ohne ein Wort sackte Anton, kreidebleich geworden, in meinen Armen zusammen.

»Sanitäter!«, rief ich den Polizisten zu, die in dem von der Explosion aufgewirbelten Staub kaum zu erkennen waren. »Hierher! Sanitäter!«

 

Da erkannte ich zwei schemenhafte Gestalten, die hustend durch die Staubwand eilten, eine Trage bei uns abstellten und sich um die Kopfverletzung des Gamsjägers kümmerten.

»Nicht weiter schlimm, eine Platzwunde und vermutlich eine Gehirnerschütterung. Das wird wieder!«, sagte der eine der beiden Männer zu mir. Ich wunderte mich, warum der Mann so leise sprach. Erst dann wurde mir klar, dass ich von der Explosion noch immer einen Druck auf dem Ohr verspürte.

»Wir werden ihn aber ins Hospital schaffen!«, ergänzte der andere, und ich nickte nur rasch, sah mich nach Sepp um und bekam den nächsten Schreck. Als Anton plötzlich so stark blutete, hatte ich mich nicht weiter umgesehen, sondern dafür gesorgt, dass er in Deckung kam. Jetzt hielt ich vergeblich Ausschau nach dem alten Geheimagenten, der wie vom Erdboden verschwunden schien.

»Kommen Sie mit mir zurück ins Präsidium?«, vernahm ich eine Stimme, die immer noch wie durch einen Pfropfen an mein Ohr drang. Kommissar Waller wiederholte seine Frage, als er meinen Blick bemerkte.

»Ich muss noch auf die Rückkehr von Joseph Brendel warten, Herr Waller!«, antwortete ich und schluckte mehrfach, um den Ohrendruck loszuwerden.

»Kein Grund zur Sorge. Der alte Fuchs hatte mir etwas zugerufen und will uns nachkommen. Und der dritte Mann in Ihrem Bunde ist auch schon wieder auf dem Weg zum Revier, wie mir eben der zurückgekehrte Kutscher des Krankenwagens sagte. Er wäre wohl am liebsten gleich mit ihm gefahren, aber da hat der Arzt wohl noch Einspruch erhoben.«

Kaum eine halbe Stunde später saßen wir wieder im Dienstzimmer des Kommissars, als kurz nach uns tatsächlich der Gamsjäger Anton eintraf. Er hatte einen abenteuerlichen Kopfverband, schien aber schon wieder fröhlich und unternehmenslustig und bat als Erstes um eine neue Zigarre.

»Na, dann scheint ja alles in Ordnung zu sein!«, vermerkte der Kommissar, als er lächelnd die Kiste zu uns herüberschob. »Was werden Sie jetzt tun, meine Herren?«

»Das hängt davon ab, was der gute Sepp herausgefunden hat. Ginge es nach mir, würde ich gern selbst den Bahnhof beobachten. Allerdings kennt mich der Baron und würde sicher bei meinem Anblick sofort untertauchen.«

Waller lächelte und deutete auf seinen großen Schrank.

»Wenn ich Ihnen behilflich sein kann? Schauen Sie doch mal auf der rechten Seite nach, möglicherweise finden Sie dort etwas, was Sie verwenden können!«

»Holla!«, rief plötzlich jemand in der Tür laut heraus. »In der Boazn treibt si as ganze Gschwerl rum!«

»Also Sepp, wenn du möchtest, dass ich dich verstehe, kannst du ruhig hochdeutsch mit mir reden!«, antwortete ich gelassen.

»In der Boazn …«, begann er erneut, aber dann machte er eine abwehrende Handbewegung und fuhr fort: »Ich habe von einer Spelunke erfahren, in der sich das Gesindel trifft – ist das für den Herrn Shatterhand verständlicher?«

Ich lachte, wurde aber sofort wieder ernst, als Sepp auf den Stadtplan wies, der an der Wand hing.

»Hier ist sie, aber selbst am Tage riskant, dort einfach hineinzutappern und ein Bier zu bestellen!«, vermerkte er dazu, und Waller trat an seine Seite, warf einen Blick auf Sepps Finger, mit dem er die Stelle markierte.

»Hätte ich mir fast denken können. Augenblick, bin gleich zurück, schicke nur die Jungs da mal hin!«

Während er in den Nebenraum zurückkehrte, raunte mir Sepp zu:

»Ich bin mir ganz sicher, dass dort zwei oder drei Burschen aus dem gesprengten Haus sitzen. Sie taten ganz so, als wären sie Maurer oder Putzer mit ihrem verdreckten Kram, aber mich täuscht man nicht so leicht. Die Brüder gehören zu der Bande, die alles in die Luft gejagt hat.«

»Und, war der Baron dabei?«

Jetzt grinste mich Sepp herausfordernd an.

»Was denkst von mir, Charly? Würde ich dann hier in aller Ruhe mit dir sitzen und plaudern? Nein, aber ich habe die Adresse von seinem Gspusi bekommen! Bei der hockt er, bis es dunkel wird, und dann will er die Stadt verlassen.«

»Und – diese Adresse hat dir wer gegeben?«

Erneut lachte Sepp fröhlich auf.

»Ja, mei, jetzt glaubt’s wohl auch, der Sepp ist alt und hinfällig und zu nix mehr in der Lage? Euch jungen Leuten zeig’ ich’s noch allemal!«

Sepp verstummte und machte eine ernste Miene, als der Kommissar wieder zurückkehrte.

»Ich hatte gerade schon erklärt – die Spelunke wird jetzt gründlich durchsucht und alle Individuen auf das Revier gebracht.«