Rüpel in Roben

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Rüpel in Roben
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

Verlag

Buddhismus Heute des Buddhistischen Dachverbands Deutschlands (KKD) e.V.

Heinkelstr. 27, 42285 Wuppertal

Copyright 1998 © Tomek Lehnert

Veröffentlicht bei: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.co.uk

ISBN 978-3-7375-7033-6

Die englische Originalausgabe erschien 1998 bei

Blue Dolphin Publishing, Nevada City, California, USA

Übersetzung: Erik Weiss, Daniel Johnson, Peter Speier und Susi Steed

Gesamtgestaltung, Satz: MAC

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Vorwort

Am Morgen des 13. Dezember 1981 wachte Polen - mein Heimatland - in einer bestürzenden Realität auf. Wenige Stunden zuvor, um Mitternacht, hatte die kommunistische Regierung die Nation mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes überrascht. Gespenstische Fernsehsprecher in Polizeiuniformen grüßten die fassungslosen Zuschauer mit Androhungen von langen Gefängnisstrafen und sogar dem Tod für all jene, die es wagen sollten, den neuen Militärgesetze Widerstand entgegenzusetzen. Die einfachsten Grundrechte unserer Landsleute wurden außer Kraft gesetzt. Die Regierung hatte vor, die „Bewegung Solidarität“ zu vernichten und so das Land wieder in eine sowjetische Umlaufbahn zu befördern.

Trotz der bedrohlichen Nachrichten, die in allen staatlichen Massenmedien auftauchten, gingen am nächsten Tag Tausende auf die Straßen, um gegen das rigorose Durchgreifen der Kommunisten zu protestieren. Fabriken schlossen ihre Tore und Studenten besetzten die Universitäten. Als wir uns in Danzig (Gdansk), meiner Heimatstadt und der Geburtsstätte der „Solidarität“, mit der berühmt-berüchtigten Bereitschaftspolizei „Zomo“ Straßenschlachten lieferten, hatten wir - vielleicht etwas naiv - die Hoffnung, daß unsere frisch erworbene Freiheit siegen könnte.

Zehn Tage später rollten Panzer in die Danziger Leninwerft, die letzte Festung der Protestierer. Die paar hundert Arbeiter, die das Werk noch besetzt hielten, wurden zusammengetrieben, geschlagen und verhaftet. Eine Handvoll Studenten, meine Freunde, die sich innerhalb des Werksgeländes verbarrikadiert hatten, teilten das Schicksal der Arbeiter. Die Regierung verkündete triumphierend, daß die anti-sozialistischen Elemente ausgemerzt worden seien und somit die „Gewerkschaft Solidarität“ - die Wiege des Imperialismus - abgeschafft sei. Eine dunkle Wolke zog sich über Polen zusammen und wir sahen wie sich unsere Träume in Nichts auflösten.

Wenn ich heute auf diese Tage zurückblicke, so erinnere ich mich an die Gefühle der Frustration und des Zorns, die die meisten von uns in Polen hatten. Für unsere Gruppe von Freunden in Danzig sollte aber die bittere Stimmung des Landes bald einer freundlicheren Denkweise weichen. Die trostlose und unruhige Realität mit der wir konfrontiert waren, löste eine gründliche Selbstbeobachtung und die Suche nach bleibenden Werten aus. Anfänglich noch scheu, streckten wir unsere Hände nach einer uralten östlichen Philosophie aus. Sechs Monate Ausnahmezustand später - als ob er auf unser neu gefundenes spirituelles Interesse antworten wollte - erreichte ein buddhistischer Lama unsere aufrührerische Stadt. Für uns ergab sich damals in dem abgeschotteten Land eine einmalige Gelegenheit. Uns war bewußt, daß das kommunistische Polen nicht gerade der ideale Nährboden für religiöse Lehrer war und so eilten wir zur Akademie der Künste um den buddhistischen Meister Ole Nydahl zu treffen.

Der athletische Däne der auf die Bühne sprang und den paar hundert Zuschauern ein breites Lächeln zuwarf zerstreute sogleich jedermanns Vorstellung von einem Guru. Er riß Witze, machte sich über die verachtete Obrigkeit lustig und - nicht im geringsten von den Geheimpolizisten eingeschüchtert, die sich unter die Menge gemischt hatten - ließ keinen Zweifel aufkommen, was er über die kommunistische Diktatur dachte. Sofort sahen meine Freunde und ich jemanden, mit dem wir uns identifizieren konnten. Aber als der westliche Lama zum Kern seines Vortrages kam, wurde sein persönliches Erscheinungsbild noch hundertfach von seiner Botschaft übertroffen. Die Logik, Klarheit und Weisheit des Buddhismus beeindruckte uns zutiefst. Hier wurde uns ein einzigartiges Werkzeug angeboten, um das Leben zu meistern, ein System, das die Störungen des Bewußtseins in Vollkommenheit umwandelte. Und was noch wichtiger war, wir konnten jeden Aspekt unserer Aktivität in das Streben nach Befreiung und Erleuchtung mit einbeziehen. Nun konnten wir das Unrecht bekämpfen, ohne dabei die Unterdrücker hassen zu müssen. Der Lama betonte, daß man seinen Alltag meistern kann, wenn man frei von den blendenden Emotionen ist, „die verhindern, daß wir sehen was wirklich da ist“. Völlig überzeugt nahmen wir den Buddhismus wie enthusiastische Idealisten an, die einen noblen Kampf verloren hatten, nur um statt dessen eine andere wertvolle Aufgabe zu finden.

Dies war der Beginn meiner spirituellen Reise, die mich an der Seite von Lama Ole auf die vielbevölkerten Wege mehrerer Kontinente bringen sollte. Ich begleitete Ole und seine Frau Hannah auf ihrer Odyssee, den tibetischen Buddhismus in die moderne Welt zu bringen. Es war eine faszinierende Herausforderung, ein Wettlauf gegen die Zeit, um das unvergleichliche Wissen Tibets zu retten, bevor die kommunistischen Chinesen es endgültig zerstören würden. Es war ein Unternehmen das nicht nur ein tiefes Vertrauen in das buddhistische System, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen in die hohen tibetischen Lamas mit sich brachte, die dieses System übertrugen. Die Rinpoches - so der Name der ehrwürdigen Lehrer - waren Beispiele einer großen Verwirklichung. Auch wenn sie noch nicht ganz die endgültige Erleuchtung erreicht hatten, so waren sie dennoch auf dem besten Weg dort hin. Zumindest dachten wir das.

Dann kam das Jahr 1992, ein Jahr, an das man sich noch lange in den Annalen des tibetischen Buddhismus erinnern wird. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel brach eine peinliche und unerbittliche Fehde zwischen den Lamas unserer Karma Kagyü-Linie aus. Während die ganze buddhistische Welt ihren Atem anhielt, konnte man beobachten, wie eine Gruppe von Kagyü-Meistern bedenkliche Vorwürfe erhob. Es tauchten Beweise auf, die auf eine heimliche Verschwörung die Kagyü Schule zu übernehmen hindeuteten. Eine bedeutende Persönlichkeit der Linie wurde mit dem kommunistischen China in Verbindung gebracht. Verrat war das Wort, das einem in den Sinn kam.

Es war mehr, als viele im Westen vertragen konnten. Wir hatten das Gefühl, daß unser Idealismus verraten worden war. Und wieder sah ich Panzer, die durch die Tore der Danziger Werft ratterten. Es gab keine Alternative, man mußte sich gegen diesen Mißstand auflehnen. Schon von Beginn an protestierten und kämpften Lama Ole und Hannah gegen diese Manipulation. Während der nächsten Jahre stellten sie sich gegen Regierungen, Würdenträger und mächtige Organisationen und versuchten, die Verschwörer zu entlarven und die Kagyü Schule zu schützen - ein Unterfangen, das mit hohen Risiken und Schwierigkeiten verbunden war.

Dieses Buch ist eine Chronik unserer Suche nach der Wahrheit. Es entstand aus einem unwiderstehlichen Verlangen, sich nicht dem Betrug und der Tyrannei zu beugen, etwas wofür die Menschen in Polen äußerst empfindsam gewesen waren. Es ist auch ein Versuch Tibet zu entmystifizieren und den Konflikt unter einer historischen Perspektive zu betrachten. Vielleicht schockiert dieses Buch einige wegen dem kompromißlosen Stil und den herben Schlußfolgerungen, aber die dargelegten Fakten verlangen nach einer rigorosen Analyse und ebensolcher Kritik. Zur selben Zeit ist dieses Werk aber auch eine Einladung, die wahren Schätze die Tibet bewachte zu ergründen: die Belehrungen Buddhas, die immer vollkommen sind. Es gibt sehr viel Eisen, aber nur wenig Gold und das Königreich im Himalaya bildete da keine Ausnahme. Der Leser dieser Seiten ist aufgefordert, das Gold vom Eisen zu trennen und der Zukunft des Buddhismus eine reine und unerschütterliche Form zu geben.

La Jolla, Kalifornien

21. Mai 1998

Danksagung

Dieses Buch wäre nicht ohne die unschätzbare Hilfe von Freunden rund um die Welt möglich gewesen. Während viele zur endgültigen Fassung beitrugen, mochte ich vier Leute erwähnen, die mir wertvollen Rat gaben, Mut machten und meinen ersten literarischen Versuch in eine lesbare Form brachten. Einen ganz herzlichen Dank an Euch, Stephen james, Don Marshall, Brooke Webb und Lara Brainstein aus Cambridge (England), Sydney (Australien), San Francisco (USA) und Montreal (Kanada).

Fur die ausgezeichnete Übersetzungsarbeit möchte ich meinen deutschen und österreichischen Freuden Erik Weiss, Daniel Johnson, Peter Speier und Susi Steed danken. Speziellen Dank an Mac für seine Wichtige Unterstützung seit Beginn dieses Projekts.

Besetzung der Darsteller


Rangjung Rigpe Dorje, der 16. Karmapa,

Oberhaupt der Karma Kagyü Schule des Tibetischen Buddhismus


Shamar Rinpoche oder Künzig Shamarpa oder Shamarpa,

Hauptschüler Karmapas


Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama,

 

hoher spiritueller Führer und König Tibets


Thaye Dorje, der 17. Karmapa,

von Shamar Rinpoche anerkannt


Tai Situ Rinpoche oder Situ Rinpoche oder Situpa,

zweithöchster Schüler Karmapas

(hier zusammen mit Urgyen Trinley)


Urgyen Trinley,

von Tai Situ Rinpoche und vom

kommunistischen China als 17. Karmapa

anerkannt und bestätigt durch den Dalai Lama


Jamgön Kongtrul Rinpoche oder Jamgön Rinpoche oder Jamgön Kongtrul,

hoher Kagyü-Lama und enger Schüler Karmapas


Goshir Gyaltsab Rinpoche

oder Gyaltsab Rinpoche oder Gyaltsabpa,

hoher Kagyü-Lama und enger Schüler Karmapas


Topga Yulgyal order Tobga Rinpoche oder Tobgala,

Generalsekretär von Rumtek

und vom Karmapa Charitable Trust


Lopön Tsechu Rinpoche order Tsechu Rinpoche,

hoher Lama und Vertrauter des 16. Karmapa


Akong Tulku,

Kagyü-Lama, der in Schottland lebt; Situ Rinpoches Abgesandter zu den kommunistischen Chinesen


Tenga Rinpoche,

bekannter Kagyü-Lama, der in Kathmandu lebt


Lama Ole Nydahl,

erster westlicher Schüler des 16. Karmapa, Gründer von

über 600 buddhistischen Zentren im Westen

Einführung

Als das Telefon auf der Insel Kauai klingelte, ahnten wir nicht, daß dies der Beginn eines gewaltigen Sturmes sein würde - ein Sturm, der durch die Karma Kagyü-Linie des Tibetischen Buddhismus fegen, ihre Grundmauern erschüttern und der Politik des mittelalterlichen Tibet einen letzten Stoß versetzen sollte. Ein tropischer Strand war wohl kaum der richtige Schauplatz für ein Drama mit Hintergrund im Himalaya, dennoch rollte eine größere Krise auf die Küsten Hawaiis zu. Mitten in einer von Oles arbeitsreichen Belehrungstouren, eingelullt von der Schönheit der Pazifikinsel, waren wir nicht wirklich auf die Neuigkeiten vorbereitet, die da kommen sollten.

Elf Zeitzonen entfernt in Deutschland schlug Sys - Oles Sekretärin - Alarm. Ein mysteriöser Brief aus Asien war in allen unseren Zentren in Europa angekommen. Mit einer bunten Marke aus Nepal und einer kaum leserlichen Adresse, sah der Brief nach einem weiteren höflichen Kontaktversuch tibetischer Mönche mit dem Westen aus. Als aber die Leute in unseren Zentren den Text genauer studierten, wurde ihre Überraschung nur noch von ihrem Mißfallen übertroffen. Der Brief entbehrte jeder Höflichkeit und der Kontakt den er suchte, beinhaltete politische Intrigen und sektiererische Kämpfe.

Die Autoren, eine obskure Gruppe tibetischer Händler aus dem Kathmandu-Tal namens “Derge Association” nahmen sich kein Blatt vor den Mund. Was sie zu sagen hatten, sollte den tibetischen Buddhismus in ein noch nie dagewesenes Durcheinander stürzen. Mit Drohungen und unverschämten Forderungen wollten sie die Aufhebung einer Jahrhunderte alten Tradition erzwingen, die dazu gedient hatte, die aufeinanderfolgenden Inkarnationen des Gyalwa Karmapa - des geistigen Oberhaupts der Karma Kagyü-Linie Tibets - anzuerkennen.

Unsere Freunde in Europa, die mit dem korrupten Einfluß von Politik auf die Religion noch nicht vertraut waren, rannten erstaunt an ihre Telefone. Sys erreichte uns als erste. Ihr Berichte glich einer Wortkaskade und sie machte kaum eine Pause um Luft zu holen. Als sie fertig war, schauten wir uns ungläubig an. Überhaupt nicht an solch zwielichtigen Affären gewöhnt, die seit Jahrhunderten einen wesentlicher Bestandteil des Himalaya-Königreiches darstellten, glaubten wir der Himmel bräche über uns zusammen. Das heilige Tibet benahm sich auf einmal gar nicht mehr so heilig.

Lama Ole Nydahl schien als einziger die wahre Bedeutung zu erfassen. Irgend jemand, der sich hinter dieser Gruppe nepalesischer Händlern verbarg, versuchte die Karma-Kagyü-Linie zu spalten. Dieser Brief war nur der erste sichtbare Schuß. Das, was eigentlich auf dem Spiel stand und zwischen den Zeilen dieser Nachricht lauerte, war viel bedeutsamer als die Identität der Angreifer. Ihr Angriff traf die Linie mitten ins Herzen. Ihr heimliches Ziel, das bis zu diesem Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis von Verschwörern bekannt war, war die Kontrolle über den nächsten Gyalwa Karmapa, den König der tibetischen Yogis.

Als erster wiedergeborener Lama Tibets, war Karmapa einzigartig unter den vielen Inkarnationen, die sich im Land des Schnees manifestiert hatten. Er wurde von seinem Volk als Buddha verehrt und hatte die Herrschaft über den ganzen östlichen Teil des Landes. In einer ununterbrochenen Folge von mehr als 900 Jahren besaß jede seiner Inkarnationen die vollständige Mittel Buddhas, um mit dem Geist zu arbeiten und es war nicht ungewöhnlich, daß Karmapa vor seinem Tod Anweisungen über die Umstände seiner nächsten Wiedergeburt hinterließ. Diese schriftlichen, manchmal auch mündlichen Hinweise beschrieben mit erstaunlicher Genauigkeit die Umstände seiner zukünftigen Wiederkehr.

Historisch gesehen spielten zwei notwendige Komponenten eine Rolle in dem heiklen Prozeß der Anerkennung des nächsten Karmapa: Die Taten der jungen Inkarnation und die Anweisungen, die sein Vorgänger hinterlassen hatte. Nachdem der 16. Karmapa 1981 gestorben war, glaubten also seine Schüler, daß auch er traditionsgemäß eine Reihe von Anweisungen hinterlassen hatte. Die brennende Frage nach seinem Tod war somit die Entdeckung seines spirituellen Testaments gewesen. Bei einem allgemeinen Kagyü-Treffen nach der Feuerbestattung im Jahre 1981 hatten seine engsten Schüler - vier hochgestellte Lamas - gemeinsam die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, den Vorhersagebrief ihres Lehrers und seine nächste Inkarnation zu finden.

„Die Briefkampagne“ aus Kathmandu kam für die Übertragungslinie zu einer sehr unsicheren Zeit. Elf Jahre waren seid dem Tod des 16. Karmapa vergangen und die 17. Inkarnation war nirgendwo in Sicht. Die vier Lamas, mit ihrer riesigen Pflicht betraut, schienen außerstande mit einer Lösung aufzuwarten. Die lange Wartezeit begann ihren Tribut zu fordern. Eine Anzahl politisch orientierter Gruppen tauchte in der buddhistischen Szene im Osten auf. Sie übertrafen sich gegenseitig in der Verbreitung absurder Gerüchte und beteiligten sich an einem Feldzug, der die Linienhalter zum Handeln nötigen sollte.

Die „Derge Association“ war nur eine dieser vielen Gruppen. Was sie jedoch von den anderen unterschied, war der Versuch, einen von Karmapas früheren Schüler, Tai Situpa, den anderen drei Lamas vorzuziehen. In ihrem Brief, der in Umlauf gebracht worden war und in dem sie sich anmaßten, die Mehrheit der Kagyü-Praktizierenden zu vertreten, behaupteten sie unverblümt, daß nur die jeweilige Inkarnation des Tai Situ Rinpoche (*Fußnote: Rinpoche ist ein Ehrentitel, der soviel heißt wie “Kostbarer” und der oft an buddhistische Meister verliehen wird) das historische Recht gehabt hätte, den nachfolgenden Karmapa anzuerkennen. Sie baten Tai Situ eindringlich, sofort von seinem einzigartigen Recht Gebrauch zu machen. Diese Forderung war ein abrupter Abschied von alten Gewohnheiten. In der Vergangenheit war es immer jene Person mit der größten geistigen Verwirklichung, die über ihre Träume und Visionen sprechen würde, um so den heiklen Prozeß, einen wiedergeborenen Tulku zu finden, zu unterstützen. Kein Lama hatte das alleinige Recht, Inkarnationen zu identifizieren und schon gar nicht die aufeinanderfolgenden Karmapas zu finden, die sich letzten Endes immer durch ihre Taten zu erkennen gaben.

Nun plante jedenfalls irgendwer eine Revolte. Eine größere Auseinandersetzung innerhalb der Linie stand bevor. Man bezeichnete Tai Situ als den einzigen, der berechtigt sei, den jungen Karmapa zu identifizieren, während seine drei Kameraden als Verhinderer bezeichnet wurden, die das ganze Vorhaben blockieren wollten. Zum ersten Mal seit sie der Öffentlichkeit im Osten solche Überlegungen einzutrichtern versuchten, dehnten die Kaufleute aus dem Kathmandu-Tal ihren Aktionsradius jetzt auch nach Westen aus. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug ihre Nachricht in der Szene der europäischen Buddhisten ein.

Während wir regungslos Sys Worten lauschten und versuchten ihren Ausführungen zu folgen, schätzte Lama Ole ruhig die Situation mit den Worten ein: „Das bedeutet Krieg”. Wir sollten während der nächsten zwei Jahre noch herausfinden, wie treffend seine Worte waren. An diesem Morgen des 17. März 1992 fielen die ersten Schüsse im Karma-Kagyü-Krieg. Ole erkannte dies mit seinem militärischen Instinkt sofort. Von da an eskalierte die Situation zusehends. Ein harter, kompromißloser Kampf sollte sich entfalten. Die Protagonisten, hochrangige und angesehene tibetische Lamas, verstrickten sich in Auseinandersetzungen und Schlammschlachten, die eher zu ehrgeizigen Politikern als zu religiösen Lehrern gepaßt hätten. Der kommende Konflikt sollte die Reife und Entschlossenheit Tausender buddhistischer Praktizierender auf der ganzen Welt prüfen. Er sollte die Landschaft des tibetischen Buddhismus im Westen verändern. Die Auswirkungen auf den Osten sind noch gar nicht voll abzuschätzen.

Als sich die Situation zuspitzte und - wie wir in diesem Buch erfahren werden - als sich die überschlagenden Ereignisse fast zur Übernahme der Kagyü-Linie durch das kommunistische China geführt hätten, beschäftigte uns alle eine brennende Frage: Wie konnte das nur passieren? Wie konnte eine Gruppe hochentwickelter Wesen, an der spirituellen Spitze einer Linie, Angelegenheiten, die das Wohlergehen und Wachstum ihrer Schüler betrafen, in solch einen unordentlichen Zustand bringen?

Heute, nach Jahren sorgfältiger Auswertung der Ereignisse, liegt die Antwort klarer auf der Hand, als wir das ursprünglich dachten. So seltsam es auch für moderne westliche Ohren klingen mag: die gegenwärtige Loyalität, die Rivalitäten und Feindseligkeiten der Lamas im Himalaya haben direkte Verbindung mit dem, was in Tibet und auch in China vor mehreren hundert Jahren geschah. Die Tibeter sind, wie alle Menschen - die hohen Lehrer mit eingeschlossen - ein Produkt der sozialen und politischen Bedingungen, in welche sie hineingeboren wurden. Ihre Handlungen und Geistesgewohnheiten sind in großem Maße von früheren Erlebnissen bestimmt. Um nun die Gründe und die Vielfalt ihrer Probleme zu erkennen, muß man in die Geschichte Tibets eintauchen. Diese besondere Geschichte beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts in den dunklen Gängen des majestätischen Potala Palastes in Lhasa - Residenz der Dalai Lamas. Sie führt uns durch eine Reihe von Ereignissen hin zu den heutigen tibetischen Lagern und Klöstern im Himalaya und auch zu den modernen tibetischen Zentren im Westen.

Als 1959 die ehrwürdigen Rinpoches, Lamas und Mönche Tibet verlassen mußten und zuerst nach Indien und dann in den Westen kamen, waren sie vom Feudalismus geprägt. Sich brachten nicht nur die gesammelten Werke Buddhas mit - die kraftvollsten Mittel, um mit dem Geist zu arbeiten - sondern auch ihre eigenen Probleme. Deswegen liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres bisweilen recht eigenartigen Verhaltens im Westen, in der Geschichte Tibets, eines bis zur chinesischen Invasion hermetisch abgeschlossenen Landes. Es ist das Land des Schnees längst vergangener Tage, sagenumwoben und eingehüllt in Mythen und Halbwahrheiten, das die Hintergründe des gegenwärtigen Dramas im tibetischen Buddhismus erhellen kann.

 

Dieses Buch versucht weder eine radikale Lösung zu bieten, noch hat es zum Ziel „keinen Stein auf dem anderen zu lassen“. Es ist der persönliche Erlebnisbericht eines Menschen, der Zeuge dieser Krise war, ein chronologischer Bericht über den Zeitraum von zwei Jahren, in denen das „Kagyü-Haus“ beinahe unter die Kontrolle des kommunistischen Chinas geraten wäre. Der Leser kann, bei genauerer Betrachtung der ungewöhnlichen Vorkommnisse, nach und nach Einblick in die Motive dieser Auseinandersetzung erlangen. Wenn man diese dann mit den alten sozialen Strukturen Tibets vergleicht, wird man zu einer etwas objektiveren Bewertung der Hauptcharaktere in dieser Verschwörung gelangen und sich darüber bewußt werden, daß es gefährlich ist, auf solche Charaktere blind hereinzufallen. Lassen wir Fakten für sich selbst sprechen und folgen wir der Geschichte und dem Menschenverstand. Möge die Vergangenheit die Rätsel der Gegenwart enthüllen und als Lektion für die Zukunft dienen.