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Thomas Espedal

GEHEN

Oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen

Aus dem Norwegischen von Paul Berf


Erste Auflage Berlin 2011

© 2011 MSB Matthes & Seitz Berlin

Verlagsgesellschaft mbH

Göhrener Str. 7, 10437 Berlin

info@matthes-seitz-berlin.de

© der Originalausgabe Gå. Eller kunsten å leve et vilt og poetisk liv 2006 Gyldendal, Nors Forlag, Oslo

Umschlaggestaltung: Falk Nordmann, Berlin

eISBN: 978-3-88221-956-2

www.matthes-seitz-berlin.de

Für meinen Vater

INHALT

Erster Teil

1. Warum nicht mit einer Straße beginnen

2. Auf den Hund kommen, zu Boden gehen

3. Ehe ich gehe

4 Das unmögliche Wohnzimmer

5 Der Traum vom Verschwinden

6. Aus einer Beziehung gehen

7. Träumereien eines einsamen Spaziergängers

8. Ich hätte einen Beruf haben sollen

9. Die offene Straße hinab

10. Swansea. Wales. Sommer 98

11. Staufen. Deutschland. Frühjahr 99

12. Vom Ursprung der Einsamkeit

13. Voll Abschieds

14. Der perfekte Tag

15. Ich fand eine Ruhestatt

16. Frühstück bei Familie Dale in Modalen

17. In die Berge

18. Nachpt in den Bergen

19. Der Weckruf der Sonne

20. Bei Anders Øvrebø in Ortnevik

21. Ich singe den Menschen und die Stiefel!

22. Beim Friseur

23. Der Nachmittag des Fauns

24. Allein oder in Begleitung gehen

25. Die Wanderbücher

26. Die Tagebücher

27. Ein Versuch

28. Ein Sommernachtstraum

29. Vom Schlafen unter freiem Himmel

30. Am Strand

Zweiter Teil

1. Sport und Zerstreuungen

2. Giacometti und die Huren

3. Die Strecke Rimbaud

4. Wie beginnt eine Reise?

5. Vom Finden des Wegs

6. Aus Hellas in die Türkei

7. Durch die Straßen Istanbuls

8. Der lykische Weg

9. Ein Aufenthalt in Olympos

10. Vom Heimweh

Epilog Warum nicht mit einem Weg schließen

ERSTER TEIL

1

Warum nicht mit einer Straße beginnen. Jener Straße und Strecke, die ich zwei Jahre fast täglich hin und zurück gegangen bin. Die Bjørnsonsgaten, viel befahren und schmutzig, Arbeiterwohnungen in Reihen zu beiden Seiten des Schattens, der einem Weg gleicht, einer Verkehrsader, blutarm und kalt, ein schmaler Bürgersteig, an Fabrikgeländen, Tankstellen vorbei, zum Danmarksplass, dem finstersten Lichtkreuz der Stadt. Eine schäbige Straße, durchzogen von entmutigenden Spuren: ein sterbender Baum, das halb verfallene Holzhaus und eine abgasstaubige Hecke, das Fenster, hinter dem sie steht und ihren Wollpullover auszieht.

Eine schäbige Straße, meine Adresse und Lieblingsroute in die Stadt. (Heute – ich wohne inzwischen auf der anderen Seite der Stadt, in einer hellen, sauberen Wohnung mit Terrasse und Blick aufs Meer – nehme ich zuweilen den Bus zur Bjørnsonsgaten, um wieder auf dieser Straße und der alten Strecke in die Innenstadt zu gehen.) Die Straße öffnet sich rechter Hand zur Berufsschule und zum Sportplatz Krohnsminde, linker Hand zu Hochhäusern und dem Wasser der Solheimsviken, ich schlendere an den Kochlehrlingen auf der Steintreppe zur Schule vorbei, sie rauchen im Stehen unter ihren luftigen weißen Kochmützen, als hielten sie mit den Mützen die Wolken in die Höhe; sieben, acht angehende Köche neben den Friseurlehrlingen aufgereiht, die man unschwer an ihren Frisuren erkennt, roten, grünen Mähnen in allen Längen und Richtungen (eine der jungen Frauen hat sich die Haare in einer Schiene von der Stirn bis in den Nacken abrasiert, als führte die Straße über ihren Kopf), und ich gehe geradeaus, zum Danmarksplass. Unter den Verkehrsknotenpunkt. Rechts oder links im Tunnel der Unterführung? Er gabelt sich, heute gehe ich nach rechts, und im Nachhinein muss ich froh sein, nicht nach links gegangen zu sein, denn kurze Zeit später, auf der rechten Route, gleich hinter dem Forum Kino, nach dem Hang zum Store Lungegårdsvann hinunter, auf der Brücke, wo auf dem Asphalt Fische liegen und sterben, treffen die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild und ein Glücksgefühl übermannt mich überraschend. Es sagt nichts weiter als: Du bist glücklich. Hier und jetzt. Grundlos. In diesem Moment bist du glücklich, ein Geschenk. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, glücklich zu sein, bin verkatert und deprimiert, habe vier Tage ununterbrochen getrunken, wohne allein in einem dreckigen Haus in einer schäbigen Straße, schlafe auf einer Matratze, keine Möbel, bin verlassen worden von ihr, mit der ich es schaffen zu können glaubte. Ich bin auf dem besten Weg, mich zugrunde zu richten, es ist eine harte und ernste Untergangsarbeit, ich trinke und gehe vor die Hunde, und dann bin ich urplötzlich glücklich. Warum? Weil die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild treffen? Es verschlägt mir den Atem, ich muss stehenbleiben. Mein Körper ist von warmer und jubelnder Klarheit erfüllt. Die Gedanken erwachen und verlieren an Gewicht, es ist eine ganz konkrete Erfahrung, meine Gedanken werden leichter, und ich gehe, nun leichter, weiter Richtung Nygårdshøyden und Innenstadt. Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst.

2

Auf den Hund kommen, zu Boden gehen: kriechen, auf allen vieren, den Bauch auf dem Fußboden, mit dem Gesicht nach unten, eine Narbe in den Augen, das Licht, es schlägt wie ein Stock, eine Wunde, in der jemand pfeift, sie pfeift im Blut, es pfeift im Kopf, wer ist das, der da pfeift, sich dem nähern, über den Boden kriechen, unter den Tisch, eine Alkohollache, sie auflecken, sich herumwälzen und unter dem Tisch zusammenrollen, du siehst die Hälfte oder weniger von allem, die Taille, vielleicht, die nackten Füße, und am Abend den Saum des Nachthemds. Die Tischkante verdeckt das Gesicht, es ist dein Vater, dein Herr und Meister, der schöne Rücken, der Schweiß und das Hemd, wir ziehen wieder um. Das leere Zimmer, so befreiend nackt, eine Lampe, ja, etwas zum Lieben, eine Lampe lieben, zieh dich aus, lösch das Licht und geh zu Bett, wenn du nur wüsstest, woher willst du das wissen, was weißt denn du, er findet die Zigarette, kriecht unter den Tisch, wie schön es doch ist, zu kriechen, in sich selbst zu ertrinken. Wie schön es doch ist, zu trinken, sich mit Vergessen zu füllen, vor die Hunde und heim zu gehen.

 

Die sinkende Dunkelheit unter dem Tisch, als wohnte man in einem Haus im Haus, Montag, Dienstag, Donnerstag, eine Hundehütte, du kriechst heraus, rollst zur Wand, steckst den Dorn der Gürtelschnalle in die Steckdose, jetzt!, fühlst du das Licht, fühlst du die Kraft, nun kannst du sehen, wie er sich aufrichtet, zur Tür vortastet, kämpft und springt, einen Satz zur Türklinke macht und sie mit der Schnauze erreicht, sie herunterbeißt, das Metall an der Zunge, die Tür aufbellt und in den Flur hinausläuft, lärmt und all die Laute von sich gibt, die erforderlich sind, damit jemand kommt und ihn fortholt.

3

Ehe ich gehe: Lasst uns die Freuden aufzählen, die wir kennen! Zu trinken, an der Theke zu stehen und zu schwanken, das Glas zu erheben, die Zigarette anzuzünden, zu reden, ohne zu wissen, was gesagt wird, ein unaufhaltsamer Strom des Vergessens, aufgenommen von einem beliebigen Mund.

Am Tag danach, zu kriechen, durch die Stadt zu kriechen, die Treppen hinauf, zur Tür herein, über den Teppich, zum Fenster aufzuschauen, mit den Kindern zu spielen, zu den Kleinen zu sprechen wie ein Irrer.

Zu lieben, will sagen, mich auf sie zu stürzen, sie anzuziehen, Slip und Strumpfhose, Unterhemd, Pullover, ihr die Mütze aufzusetzen und die Jacke überzustreifen und sie abzuliefern, anschließend zu rennen, jetzt rasend schnell, vom Kindergarten kommend, die Kurven und Treppen hinab, in die Wohnung zu stürmen und mich auf sie zu stürzen, ihr Pullover und Strumpfhose, Slip und Unterrock auszuziehen, sie ins Bett zu zwingen, will sagen, hier hast du mein Leben. Eine reine Freude, zu schlafen.

Eine ernste Freude, zu erwachen, jeden Morgen zum Ernst des Lebens zu erwachen. Es ist eine Freude, dass das Leben ernst ist. Du erwachst, das ist eine Freude, du erwachst zum Ernst, das Leben erwacht, nicht nur du, sondern auch der Nachbar und das Geschäft, die Straßen und Geräusche und die Luft, die sie nicht mehr atmet.

Die Freude am Leben. Ich liebe das Leben. Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich über das Leben. Ich habe immer größere Angst vor dem Tod. Das erstaunt mich. Ich werde mit den Jahren nicht klüger, im Gegenteil, es könnte sogar sein, dass ich auf eine reine und allumfassende Dummheit zusteuere.

Die Freude, sich Ruhe zu gönnen, längere Zeit, zu Hause zu bleiben, eingesperrt in der Wohnung, die Tür abzuschließen, das Licht zu dämpfen, im Lampenschein am Schreibtisch zu sitzen, zu schreiben oder nicht zu schreiben.

Die Freude über den Schreibtisch, über die Dinge, den Aschenbecher und die Lampe, das Fenster, die Stühle, den Teppichboden und die Türen. Die Freude an den Dingen. Von Menschenhänden erschaffen. Das Haus, die Treppen, der Aufzug, all die Türen und Quadrate, Bücher und Briefe, dieser Schreibtisch, dieser Stift, aus Sprache erschaffen.

Es ist Dienstag, und erst heute, an diesem Tag, denke ich über die Freude nach, sprechen zu können. Ich freue mich, denken zu können, gerade heute freue ich mich, schreiben zu können, es ist Dienstag und ich bin froh, dass Dienstag ist.

Ich habe auch die Freude am Reisen nicht vergessen. Die erregende Freude daran, sich fortzubewegen, in einem Auto zu sitzen und loszubrausen, regungslos und in rasendem Tempo, ich liebe es, schnell zu fahren, schnell und weit, aus der Stadt raus, in der Dunkelheit, nachts zu fahren, aus der Stadt raus und wieder zurück. Oder die kurzen Strecken, mit Bus oder Boot, die gleiche Strecke hin und zurück; am liebsten sind mir die Fähren, oder Züge, sie weichen nicht von ihren ursprünglichen Plänen ab.

Wir vergessen. Wir vergessen das Fundamentale, die Freude darüber, aufwachen, in die Küche gehen und ein Glas Wasser trinken zu können.

Ein Glas kaltes Wasser!

Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst … Dieser Triumph, sich aufzurichten, vom Fußboden, und stehen zu bleiben und zu wanken, diese plötzliche Befähigung und kindliche Freude darüber, von Zimmer zu Zimmer gehen zu können.

Ja, am meisten freut es mich, zu gehen.

Es ist Dienstag und ich gehe aus. Ich gehe aus und trinke. Eine idiotische Freude. Die Freude darüber, zu schwanken und die Worte und das Gleichgewicht zu verlieren, zu torkeln und zu kriechen, es ist fast, als würde man wieder zum Kind.

4

Direkt gegenüber von dem Haus in der Vestre Torggate, in dem ich als Kind lebte, liegt eine Gaststätte. In dieser Gaststätte befindet sich eine Theke. An dieser Theke habe ich zwei Jahre fast jeden Abend gesessen und getrunken. Von meinem Tisch am Fenster aus habe ich zu jenem Fenster hinaufschauen können, an dem ich als Kind stand und zu den Lampen hinter der Glasfront hinabstarrte, unter denen ich jetzt sitze.

Gut möglich, dass sich unser Leben im Umkreis weniger entscheidender Orte abspielt und ich zu einem dieser Orte zurückgefunden habe. Eine Straße. Sie führt aufwärts, steigt steil an und kreuzt eine Stichstraße, ehe sie in Treppen übergeht; die Stufen zur Johanneskirche hinauf. Die Gaststätte liegt links, mein Elternhaus rechts; vor dem Hauseingang gibt es ein viereckiges Fleckchen Garten und einen Baum, ich glaube, es ist eine Buche, ich schreibe, dass es eine Espe ist, und hinter dem Eingang, in der Gaststätte, steht eine hufeisenförmige Theke, und hier sitzt meine neue Familie. Ja, das Lokal erinnert wirklich an ein Wohnzimmer. Hier sitzen mein Trinkbruder und meine Trinkmutter und mein Trinkvater, und dort sitzt meine Trinkschwester, sie gibt mir Bier und Zigaretten. Aber ich möchte allein sitzen. Ich möchte die ersten Biere allein mit den Gläsern und der Theke und dem Wirt trinken. Lauschen und schauen. Die immergleichen alten Geschichten hören, die gleichen Gesichter sehen und ein Anderer werden.

Wer wirst du sein? Wem wirst du begegnen? Wo wirst du landen? Was wird geschehen? Sich an die Theke zu setzen ist, als bräche man zu einer Reise auf. Trinken ist wie reisen, ohne sich vom Stuhl zu rühren.

Die Dunkelheit ist ein Ort, das Licht ist ein Weg, schrieb Dylan Thomas. Ich befinde mich in der Dunkelheit, habe meinen Stammplatz an der Theke gefunden und bestelle ein Bier. Das erste ist gut. Das zweite am besten. Das dritte ist besser als das erste, das vierte ist ganz ausgezeichnet, das fünfte auch, bei den restlichen geht es nicht mehr um den Geschmack, sondern ums Trinken, es geht um den Rausch. Ein gutes, langsames Vergessen. Nicht wie bei Wein oder Schnaps, nicht so ungeduldig, nicht so beflissen; wir werden hier lange sitzen, das ist die Kunst, zu sitzen und zu trinken, einen ganzen Abend bis in die Nacht hinein, darin besteht die Kunst: so lange ruhig sitzen zu bleiben, bis du dich bewegst. Sachte und unbeschwert reist du fort von dir selbst.

Man muss sich diesem Gedanken einmal stellen: Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben. Du kannst eine neue Geliebte finden, du kannst Freunde und Familie verlassen, verreisen, eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst verkaufen, was du besitzt, und dich von allem trennen, was dir nicht passt, aber solange du lebst, wirst du dich nie von dir selbst trennen können.

Es gibt Phasen im Leben, da sagst du dir: Du bist eine ungeduldige Person. Es gibt Phasen im Leben, da hast du Lust, auf den Hund zu kommen. Vor die Hunde und heim zu gehen. Du trinkst und gehst zu Bruch, du sinkst. Du arbeitest hart daran, bis zum Grund zu sinken. Du bist auf dem Weg nach unten, und das Gute an dieser Zerstörungsarbeit ist, dass du sie genießt.

Es gibt simplere Gründe dafür, dass ich trinke. Ich liebe Alkohol. Ich mag diese Theke. Hier fühle ich mich zu Hause. Es ist eine gute Theke. Die Theke ist ein guter Ort, ein Trinkort. Die Theke ist ein perverses Zuhause, ein unmögliches Wohnzimmer.

Es ist Dienstag, der beste Abend. Das Lokal ist voll, ich mag Gedränge. In eine niedrigere Einheit zu fallen, in eine Art untere Gemeinschaft; eine betrunkene Gesellschaft. In diesem Moment hat die Uhr zwölf geschlagen, es ist weder Dienstag noch Mittwoch, es ist Trinkzeit. Es ist Zeit, zu verschwinden, hier, inmitten deiner Freunde und deiner neuen Familie und all jener, die du nicht kennst. Du sitzt an der Theke und trinkst. Du hast dich in die Menge geworfen, und ohne dass es jemandem auffallen würde, sinkst du bis zum Grund hinab und bist fort.

5

Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren.

Der Traum, ein anderer zu werden. Freunde und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden; alle Bande abzuschütteln, Heim und Gewohnheiten zurückzulassen, Besitz und Geborgenheit, Zukunftsaussichten und Ambitionen aufzugeben, um ein Fremder zu werden.

Sich einen Bart stehen und die Haare wachsen lassen, seine Augen verbergen, eine Brille, zerschlissene Kleider, ausgelatschte Schuhe tragen, das Gesicht aufquellen, die Hände schwarz werden lassen, sich in seiner gewohnten Umgebung bewegen, unter seinen alten Bekannten, und beobachten, welchen Eindruck das alles auf einen macht, wenn man selbst fort ist.

Der Traum von einer Verwandlung.

Als wachtest du eines Morgens im Bett neben einem Gesicht auf, das du nicht kennst. Als spräche sie deinen Namen aus, und dein Name erschiene offen. Als würdest du aus dem Bett steigen, durchs Zimmer gehen und den Lichtschalter nicht dort finden, wo er sein sollte: Der Nachttisch ist fort, die Wände sind verändert, die Decke ist abgesenkt worden, und die Tür, einen Spaltbreit offen, ist links vom Bett und nicht rechts wie sonst. Und wo ist das Fenster? Das Fenster zum Hinterhof, es bietet Aussicht auf eine Landschaft, die du noch nie gesehen hast, aber dennoch erkennst, vielleicht aus einem Traum oder früheren Leben, oder die Landschaft gehört zu einem Leben, von dessen Kommen du wusstest, zu einem Ort, von dem du wusstest, du würdest ihn finden, und nun bist du hier, stehst am Fenster, siehst hinaus und bist für einen Moment glücklich; du hast vergessen, wer du bist.

Oder die geträumte Verdoppelung, ein Albtraum; du stehst an einer Straßenecke und siehst auf der anderen Straßenseite jenen Mann, den du von allen am meisten fürchtest; du siehst dich selbst. Du kannst dem Drang nicht widerstehen, ihm zu folgen, und kommst nicht umhin zu bemerken, dass er einen Weg und eine Route nimmt, die du kennst und deine eigene nennst. Dein Name steht auf seinem Briefkasten. Er liest deine Briefe. Deine Gewohnheiten scheinen ihm vertraut zu sein. Er hat ganz offensichtlich deinen Platz eingenommen. Was sollst du tun? Was wirst du tun? Du wolltest verschwinden, kannst aber jederzeit ersetzt werden, bist schon ersetzt worden, und erkennst nunmehr schmerzlich und klar, wie sehr du an dich und deine Eigenart gefesselt bist.

Oder die Kehrseite dieses Traums, der schwarze Spiegel, du blickst in die Dunkelheit und willst sterben. Wie bist du hierher gekommen? Du trittst einen Schritt vor, zum Bett oder Fenster; sollst du dich hinausstürzen, auf die Straße, der harte Schluss, oder dich ins Bett legen und ein Glas Tabletten schlucken, was willst du? Wie bist du hierher gekommen? Eine Stimme schreit in deinem Kopf, eine andere in den Ohren, eine dritte in der Brust, eine vierte im Bauch: Tu es nicht! Du aber gehst zum Fenster, schaust hinunter, auf die Straße hinab, die Straßenlaternen brennen, es ist Nacht. Du trägst deine besten Kleider, das Hemd ist gebügelt, die Haare sind gekämmt, das Gesicht ist rasiert, als wolltest du zu einer Reise aufbrechen, einer letzten Reise. Wie leid ich es bin, zu reisen. Wie leid ich es bin, daheim zu sein, wie leid ich das alles bin. Ja, wie bin ich hierher gekommen, zu diesem Fenster oder Bett, und zu dem Gedanken, aufzugeben? Ich will nicht auf der Straße gefunden werden, so feucht und offen, so entblößt und zerstört. Ich wähle das Bett und gehe zum Bett, liege im Bett, es schreit im Mund und im Hals, in den Händen und der Hand: Tu es nicht!

Oder der Traum, nicht mehr zu sein, allerdings nur, um als etwas Neues wiederaufzuleben, nicht als Käfer, nicht als Blume, nicht als etwas Höheres oder Niederes, nicht als Nichts, sondern wie im christlichen Traum von Lazarus: zu einem neuen Leben zu erwachen. Wiedererkennbar für sich und andere, gleichwohl verändert. Ein neuer Mensch.

Ein alter Traum. So alt wie der Mensch, wie der Überdruss am Sein. Wie die Unzufriedenheit darüber, man selbst zu sein. Nein, jetzt habe ich genug. Nein, jetzt kann ich nicht mehr. Und dann diese Lüge, die allmählich zu Stumpfsinn, zu einer lebensmüden Wahrheit geworden ist; ich habe alles gesehen, alles gehört, alles getan.

 

Die Langeweile. Nicht die gute, stille, sondern die quälende, erstickende, angstvolle Langeweile. In das große, allumfassende, leere, sinnlose Nichts zu starren.

Heute habe ich meinen Glauben verloren. Den Glauben an etwas Neues.

Es bleibt einem nichts, als sich zu wiederholen.

Was wurde aus den Freuden?

Der Freude, sich zu wiederholen?

Aufzustehen, sich das Gesicht zu waschen, sich im Spiegel zu betrachten, sich anzuziehen, zu frühstücken und sich an den Schreibtisch zu setzen. Alltägliche Verrichtungen: sich abmühen, um etwas Neues zu finden, ein neues Wort, einen neuen Satz, ein neues Buch.

Ist dir nie eine Stunde gekommen,

Ein jäher, göttlicher Funke, der

diesen ganzen Schwindel,

Mode und Reichtum, diese geschäftigen Ziele

voll Eifer – Bücher,

Politik, Liebesaffären –,

in völliges Nichts zersprengt?

Schrieb Walt Whitman, und heute, Donnerstag, den neunzehnten August, um acht Uhr dreiundvierzig, ist diese Stunde ein zweites Mal zu mir gekommen. Was tat ich beim ersten Mal? Ich hörte auf zu schreiben. Es währte vier Jahre. Ich zog aufs Land, heiratete und bekam Kinder, versuchte einen Kleinbauernhof zu bewirtschaften, es wollte mir nicht gelingen.

Es gelang mir weder, verheiratet zu sein, noch auf dem Land zu leben, es gelang mir nicht, das Schreiben aufzugeben. Es gelang mir nicht, mich selbst loszuwerden. Es gelang mir nicht, ein Anderer zu werden. Ich vermisste mein früheres Leben. Ich wollte allein sein. Wollte Bücher schreiben. Ich isolierte mich. Ich schrieb. Ich nahm mein altes Leben wieder auf. Meine alte Geschäftigkeit. Neue Beziehungen. Neue Träume, neue Reisen, neue Begegnungen, neues Geld, neue Bücher. Neue Zusammenbrüche. Aber niemals ein neues Leben. Was meinst du, ist es möglich, ein neues Leben anzufangen? Ich weiß es nicht. Heute ist alles zusammengebrochen, zum reinen Nichts, und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Liebste.

Ich gehe, ich verlasse dich heute.

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