Buch lesen: «Ziegelgold», Seite 4

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Sonntag 16:51 Uhr

Zwischen dem Schornstein und den Dachsparren war eine kleine dreieckige Lücke. Alex wusste, was sein Freund vor hatte und tippte sich an die Stirn. Die Lücke war höchsten 40 cm breit. Da würden sie nie und nimmer durchpassen. Tim reagierte überhaupt nicht auf die unqualifizierte Geste seines Freundes. Mit Schwung fädelte er seine Beine in das Loch und robbte langsam rückwärts hinein. Bald konnte Alex nur noch den Kopf seines Freundes erkennen, der dann dann auch im Dunkel verschwand. „Was ist? Brauchst du eine Sondereinladung? Nun komm schon“, vernahm Alex Tims schärfer werdende Stimme aus der Dunkelheit. Er wollte gerade protestieren, als die Stimme Dr. Eykens näher kam. Diese hörte sich sehr verärgert an und Alex hatte keine Lust, ein zweite Mal von dem falschen Doktor entdeckt zu werden. Schnell fädelte er sich in das Loch, so wie er es bei Tim gesehen hatte. Leider war er etwas kräftiger als sein schmal gebauter Freund. Bis zur Hälfte ging es recht gut, doch dann blieb er wegen seiner breiten Schultern stecken. „Arme hoch, Ausatmen und Luft anhalten“, raunte Tim von hinten. Alex seufzte und streckte sich lang wie beim Kopfsprung, als ihn Tim kräftig an den Knöcheln anpackte und unsanft in das finstere Loch zog.

Kaum war Alex' Kopf in dem Versteck verschwunden, liefen schon Tims Großvater und Dr. Eyken an ihrem unfreiwilligen Verlies vorbei. „Los, hier geht es noch ein paar Meter weiter“, flüsterte Tim kaum vernehmbar und kroch weiter in das staubige Versteck. Alex folgte ihm nur widerwillig. Sie erreichten einen kleinen, völlig schwarzen Raum, der kaum ein Meter hoch war und stark nach Rauch stank.

„Was ist das für eine Öffnung?“, hörten sie auf einmal die Stimme Dr. Eykens direkt vor dem Eingang ihres Schlupfwinkels. „Wo?“ Die schweren Schritte des Großvaters kamen langsam näher. „Ach das. Dahinter ist eine alte Räucherkammer. Der Rauch des Schornsteins wurde früher dort hinein geleitet, um Speck und Schinken zu räuchern. Die ist aber vor über 50 Jahren zugemauert worden.“ Tims Großvater machte eine Pause. Er schien etwas entdeckt zu haben. „Warten Sie mal. Dort hinten steht ja der Koffer.“ Die Schritte von Tims Großvater entfernten sich wieder. Die Jungen hielten die Luft an und hörten, wie die beiden Männer etwas aus dem Gerümpelstapel zogen.

„Wunderbar!“ Die Stimme von Dr. Eyken klang auf einmal deutlich freundlicher. „Lassen Sie uns den Koffer mit nach unten nehmen, da können wir in Ruhe nachsehen, ob ich die Unterlagen für meine Forschungsarbeit gebrauchen kann.“ Die Freunde saßen regungslos in ihrem schwarzen Loch und wagten es nicht, sich zu bewegen. Erst als sie das Knarren der Treppe und das laute Zuschlagen der Stalltür vernahmen, platzte es aus Alex heraus: „Verdammt! Warum haben wir den Koffer nicht gefunden? Wir waren doch vor ihnen da.“ Er schlug voller Wut mit der Faust auf den Boden der Räucherkammer. Der morsche Holzboden gab mit einem lauten Krachen nach. Instinktiv versuchte er, seine Hand zurück zu ziehen, doch sie steckte fest, und die scharfen Holzsplitter ließen keinerlei Bewegung zu.

„Warte, ich helf' dir.“ Tim machte die Taschenlampe an und sah, wie Alex bis zum Ellenbogen in dem verrotteten Holzboden fest steckte. Vorsichtig bog er die zerborstenen Holzsplitter von Alex' Arm weg, so dass der vorsichtig seinen arg verschrammten Unterarm herausziehen konnte. Während Alex seine lädierte Hand rieb, leuchtet Tim mit seiner Taschenlampe noch einmal in das Loch im Boden und lachte. „Anscheinend hast du gerade einer Mäusefamilie das Dach vom Kopf gefegt. Sieh mal, wie die flitzen.“ Alex lächelte gequält. Tim wollte gerade seine Lampe aus dem doppelten Boden herausziehen, als er ein schwaches Glitzern bemerkte.

„Mensch Alex, da ist was.“ Tims war ganz aufgeregt. „Zeig her.“ Alex drängte seinen Freund zur Seite, nahm ihm die Taschenlampe ab und leuchtete in das dunkle Loch. Er konnte nicht erkennen, was es war, aber es befand sich eindeutig ein metallischer Gegenstand in dem doppelten Boden der Räucherkammer. Alex richtete sich auf, soweit es die niedrige Kammer zuließ. Kräftig fasste er eines der angebrochenen Bodenbretter an und versuchte es nach oben zu ziehen. Das Brett bewegte sich keinen Millimeter. Tim eilte ihm beherzt zur Hilfe, und nun zogen beide Freunde aus Leibeskräften daran. Mit einem lauten Krachen gab die Diele endlich nach. Tim leuchtete in das vergrößerte Loch im Boden. „Das scheint eine alte Stahlkassette zu sein. Der funkelnde Gegenstand ist wohl der Haltebügel“, rief Tim aufgeregt. „Die kriegen wir so nicht raus“, sagte Alex. „Los weiter. Zwei Bretter müssen noch runter.“ Mit vereinten Kräften brachen sie weitere Bretter ab. Dann lag die Kassette direkt vor ihnen. Sie hatte die Größe eines großen Schuhkartons. Die Freunde sahen sich erwartungsfroh an. Alex griff bedächtig nach dem Bügel und zog die Kassette ehrfürchtig und mit großer Anstrengung aus ihrem Jahrzehnte alten Versteck.

„Die wiegt mindestens zwanzig Kilo“, ächzte er. „Klar“, strahlte Tim, „Gold ist schwer.“ Zusammen wuchteten die Freunde ihren Schatz aus der alten Räucherkammer an dem alten Schornstein vorbei in den Speicherraum. Sie vergewisserten sich, dass niemand mehr im Stall war. „Endlich wieder gerade stehen“, stöhnte Tim, als sie endlich ihr Verlies verlassen hatten und streckte sich. In aller Ruhe betrachteten sie die Kassette. Sie muss früher hellgrau gewesen sein, aber das konnte man nur noch an einigen Stellen erahnen. Ansonsten war sie fast komplett mit Rost und schwarzem Mäusekot überzogen. Tim rümpfte wegen des üblen Geruches die Nase. Alex sagte nichts und suchte ein starkes Seil. Als er kurz darauf mit einem alten Gartenschlauch ankam, sah ihn Tim ungläubig an. „Willst du die Kassette sprengen?“, fragte er im Glauben einen guten Witz gemacht zu haben. Alex sah seinen Freund nur mitleidig an. „Wenn deine komischen fünf Minuten vorbei sind, können wir die Kassette dann vielleicht abseilen?“ Tims Mundwinkel gingen abrupt nach unten. Schmollend half er Alex den Schlauch an der Kassette zu befestigen. Dann ließen sie ihren wertvollen Fund vorsichtig vom Speicher auf den Boden der Scheune herunter.

Nachdem sie über die alte Leiter wieder den Boden erreicht hatten, standen sie erwartungsvoll neben ihrer Entdeckung. „Mit deinem Taschenmesser bekommst du die jedenfalls nicht auf. Dafür brauchen wir schon richtiges Werkzeug“, meinte Alex, nachdem er das verrostete Schloss untersucht hatte. Tim rannte umgehend los und kam mit Hammer, Meißel und Brechstange aus der Werkzeugkiste seines Großvaters zurück. „Damit sollte es klappen“, sagte er selbstsicher und klopfte mit der Brechstange auf die Kassette. Er nahm den Meißel und setzte ihn direkt unterhalb des Deckels an. Die ersten zwei Schläge zeigten keinerlei Wirkung. Beim dritten Schlag flog der Deckel jedoch scheppernd hoch.

Kopf an Kopf blickten die Freund in die offen vor ihnen stehende Stahlkassette. Die Enttäuschung war groß. In der Kassette waren keine Goldmünzen. Alex griff vorsichtig in den Behälter und holte langsam ein kleines, in Leder gebundenes Buch heraus. Die Seiten waren abgegriffen und in einer unbekannten Schrift von Hand beschrieben. Alex blätterte die Seiten durch und blickte fragend Tim an. „Merkwürdige Buchstaben. Das könnte vielleicht griechisch oder russisch sein. Die haben ja völlig andere Buchstaben. Wir könnten mal Leo fragen. Seine Eltern kommen aus Weißrussland. Vielleicht können die das ja lesen“, überlegte Tim laut. Alex legte das Büchlein enttäuscht zur Seite und holte ein ölverschmiertes Bündel aus der Kassette. Er legt es auf den staubigen Stallboden und packte es vorsichtig aus. Die Jungen hielten vor Schreck den Atem an.

Vor ihnen lag eine schwarze Pistole. Vorsichtig fasste Alex die Waffe an und wog sie in der Hand. Sie war schwerer als er vermutet hatte. Der Gedanke, eine echte Pistole in der Hand zu halten war ihm unheimlich. „Ob mit der Pistole der alte Henk Deependaal erschossen wurde?“, flüsterte Tim ängstlich. „Wenn das die Mordwaffe ist, müssen wir damit unbedingt zur Polizei gehen.“ Alex sah seinen Freund an. „Die Tat liegt 70 Jahre zurück. Da kommt es auf ein paar Tage auch nicht mehr an. Außerdem wissen wir gar nicht, ob es die Tatwaffe ist. Komm, nun bleib mal ganz locker“, antwortete Alex ruhig und wickelte die Waffe wieder in das Tuch ein. „Da liegt noch etwas in der Kassette“ raunte Tim und holte verwundert einen bläulich schimmernden Ziegelstein heraus. „Da ist noch ein zweiter.“ Alex griff nach dem zweiten Backstein und drehte ihn mehrmals in der Hand. „Ganz schön schwer. Sieh mal, da ist ein Muster eingeritzt. Wer legt denn zwei Ziegelsteine in eine Metallkassette?“ Alex schüttelte verwundert den Kopf. „Vielleicht sollten sie die Kassette beschweren, um sie später irgendwo zu versenken“, vermutete er. Die Sache wurde jedenfalls immer rätselhafter.

„Was machen wir jetzt mit den Sachen?“, fragte Tim. „Wir können die Pistole schlecht mit nach Hause nehmen und unseren Eltern zeigen.“ „Du hat Recht“, entgegnete Alex. „Mach mal mit deinem Handy ein Foto von der Waffe. Vielleicht erfahren wir etwas darüber im Internet. Das Büchlein nehmen wir mit. Und die aufgebrochene Kassette mit der Waffe und den Ziegelsteinen verstecken wir hinter den alten Kaninchenställen.“

Während Alex das Buch in der Innentasche seiner Jacke verstaute, fotografierte Tim die Pistole. Dann schoben die Freunde die Kassette tief hinter die ausgedienten Kleintierställe. Leise verließen sie dann die Scheune. Sie wollten gerade ihre Fahrräder besteigen, als eine Stimme hinter ihnen ertönte: „So schnell sieht man sich wieder!“ Die Jungen hielten die Luft an. Ganz langsam drehten sie sich um.

Hinter ihnen stand Tims Großvater und strahlte die beiden an. „Zum Glück erwisch' ich euch noch. Ich habe euch schon gesucht. Ihr könnt mir in den nächsten Tagen helfen. Wir müssen unbedingt etwas gegen diese verflixten Steinmarder machen. Die haben heute auf dem Speicher solch ein Mordsspektakel veranstaltet, dass ich dachte, mir fällt das Dach auf den Kopf.“

Alex konnte sich nur mit Mühe einen Lachkrampf verkneifen. Er saß schon auf seinem Rad, als er sich noch einmal zu Tims Opa umdrehte. „Ach übrigens, haben Sie den alten Koffer eigentlich gefunden?“ Der alte Herr lächelte. „Ja. Dr. Eyken hat ihn mitgenommen, um den Inhalt in Ruhe durch zu sehen.“

8

Sonntag 17:38 Uhr

Alex sah konzentriert auf die halbleere Colaflasche, die auf seinem Schreibtisch stand. Auf dem Monitor war das Bild der schwarzen Pistole, die Tim im Stall fotografiert hatte. Nach kurzer Recherche im Internet stand für Alex und Tim fest, dass es sich um eine P 08 handeln musste. Es war die Dienstwaffe der deutschen Wehrmacht bis 1942. Sie fasste 8 Patronen des Kalibers 9 x 19 mm Parabellum.

„Das bringt uns doch kein Stück weiter“, knurrte Alex und stieß sich kräftig mit seinem Schreibtischstuhl ab, so dass er geräuschvoll gegen seinen Kleiderschrank stieß. „Diese Pistolen wurden anscheinend fast 40 Jahre lang gebaut. Damals gab es bestimmt Millionen von den Dingern.“ Tim nickte zustimmend. „Aber trotzdem ist die Sache schon höchst merkwürdig. Vielleicht kommen wir mit dem Lederbüchlein weiter. Was steht denn nun eigentlich drin?“ Alex knallte das geheimnisvolle Buch auf den Tisch. „Blöde Frage. Das kann ja kein Mensch lesen“, fuhr er Tim an. „Deine schlechte Laune hilft uns auch nicht weiter“, motzte der zurück. „Komm, wir fahren damit zu Leo. Vielleicht können seine Eltern die Schrift entziffern. Vielleicht ist es ein geheimes Tagebuch, das uns weiter helfen kann.“

Alex fuhr hoch. „Tagebuch? Das könnte sein!“ Hektisch blätterte er die erste Seite auf. Er konnte mit Mühe eine 14 und eine 1935 erkennen. „Klar, das ist ein Datum, die 14 steht für den Tag und die 1935 für das Jahr. Ich kann nur den Monat nicht lesen. Tim, du bist genial!“ Tim grinste. „Was dachtest du denn. Aber warte, es kommt noch besser.“ Tim nahm ihm das Büchlein ab und blätterte bis zur 30. „Sieh mal, hier ist der Monat zu Ende. Es kann sich also nur um den April, Juni, September oder November handeln, denn nur die haben 30 Tage. Sieh mal, der nächste Monat hat 31 Tage.“ Tim blättert eifrig weiter. „Und der nächste Monat – warte mal – hat auch 31 Tage. Es kann also nur noch der Juni oder der November sein. Denn Juli und August haben 31 Tage und der Dezember und Januar auch.“ Tim blättert aufgeregt weiter. „Ha, 30 Tage hat der nächste Monat. Also kann es sich nicht um den November handeln, denn der Februar hat keine 30 Tage. Das Tagebuch beginnt also im Juni 1935.“ Alex konnte der messerscharfen Logik seines Freundes kaum folgen und sah ihn voller Respekt an. Dann sprang er auf und tippte hektisch etwas auf seiner Computertastatur ein. „Was machst du denn jetzt?“ fragte Tim verwundert. Er hatte wegen seiner logischen Glanzleistung eigentlich ein Lob seines Freundes erwartet.

„Der alte Deependaal“, stammelte Alex und starrte auf den Monitor, „wann ist der gestorben?“ Die Wikipedia-Seite erschien.“ „Warte mal, gleich habe ich's“ Alex tippte den Namen ein und wartete gespannt, das die gewünschte Information auf dem Bildschirm erschien. „Da, ich hab's. Am 13. Oktober 1936. Los Tim, sieh nach. Steht das Datum in dem Tagebuch?“

Mit zitternden Händen blätterte Tim das abgewetzte Tagebuch durch. „Mal sehen, im Juni geht es also los - - - Dezember 1935 - - - März 1936 - - - Juli 1936 - - - Oktober 1936. Den Oktober habe ich gefunden.“ Tim wurde immer aufgeregter. „Und jetzt der richtige Tag - - - 1. - - - 9. - - - 13. - - - Da! Der 13. Oktober 1936. Da ist er!“ Er starrte Alex an und wartete auf eine Reaktion seines Freundes, die aber ausblieb. „Und jetzt?“ Tim legte das lederne Büchlein auf den Schreibtisch und schaute Alex eindringlich an. „Und jetzt, und jetzt? Dämliche Frage. Wir brauchen jemanden, der uns das übersetzen kann.“

„Komm, wir gehen jetzt erst einmal eine Runde Fußball spielen, ich brauch frische Luft.“ Alex sprang spontan auf und schnappte sich den Ball, als die Tür aufging. „Hallo, die Herren. Ich habe hier zufällig zwei heiße Kakao mit aufgeschäumter Milch. Wer hat Interesse?“ Alex' Mutter kam fröhlich mit zwei dampfenden Bechern hinein. „Wartet, ich stelle sie euch auf den Schreibtisch.“ Ihr Blick fiel dabei auf das Tagebuch, das nach wie vor aufgeschlagen auf dem Tisch lag. „Oh, das ist ja eine schöne altdeutsche Handschrift. Wo habt ihr die denn her? Beschäftigt ihr euch in der Schule damit?“

Tim fiel vor Schreck fast von seinem Stuhl. „Äh ... ja ja ... das ist unser Projekt über die Herbstferien ... äh ... können Sie das lesen?“ Alex' Mutter musste lachen. „Warum bist du denn so nervös Tim? Nein, das kann ich nicht lesen. Aber Tante Lotte sitzt gerade zum Kaffee im Wohnzimmer. Die kann die altdeutsche Schrift noch lesen. Willst du nicht mal hallo sagen, Alex?“ Alex verzog das Gesicht. Eigentlich mochte er Tante Lotte, aber sie war so furchtbar neugierig, hörte schlecht und hatte eine Umarmung wie ein Schraubstock. Seit ihr Mann vor einigen Jahren gestorben war, galt ihre ganze Liebe ihrem Mops Phillip, der durch wenig tiergerechte Nahrung bald das Gewicht einer deutschen Dogge haben würde. Außerdem wunderte sie sich bei jedem Besuch, 'wie groß der Junge geworden ist'. Alex' Mutter knuffte ihn am Arm. „Los, komm schon, ich habe extra Waffeln gebacken.“ Tim strahlte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Los Kumpel, man lässt seine Tante nicht warten. Und frische Waffeln schon gar nicht.“

„Mensch, bist du groß geworden“, rief Tante Lotte, als die Freunde ins Wohnzimmer kamen. Alex verdrehte die Augen. Tante Lotte trug ein pfirsichfarbenes Hängekleid und einen kleinen Hut mit Plastikkirschen und sah aus, als käme sie direkt von einem englischen Pferderennen. Alex' Vater meinte einmal, Tante Lotte habe im Internet einen Shop gefunden, der die alten Klamotten der englischen Königin verkaufen würde. Eigentlich war sie die Tante von Alex' Mutter, aber Alex hatte sich seit seiner frühen Kindheit an den Beinamen Tante gewöhnt, und irgendwie passte der auch gut zu ihrem Äußeren.

„Komm mein Junge, lass dich mal knuddeln.“ Tante Lotte drückte Alex so fest an ihre mächtigen Busen, dass Tim für einen Moment den Eindruck hatte, Alex' Augäpfel würden hervor treten. Nachdem sein Freund sich nur mühsam aus der Umklammerung befreit hatte, setzten sich beide aufs Sofa und stürzten sich auf die warmen Waffeln. Während Alex sich einen Berg Schlagsahne auf die Waffel packte, überlegte er krampfhaft, wie er das Thema auf das Tagebuch lenken sollte. „Unn wasch maschti Schule“ fragte Tante Lotte kauend, während sie Mops Phillip die andere Hälfte der Waffel mit Sahne ins Maul schob, an der der Hund fast erstickt wäre. „Ab 200 Gramm wird’s undeutlich“, murmelte Alex leise. Er hatte keine Lust, seine schulischen Leistungen jetzt schon mit seiner Großtante zu diskutieren. „Ab zwei Hunden wird’s unfreundlich? Wieso? Ich will mir gar keinen zweiten Hund kaufen. Außerdem ist Phillip immer freundlich“, schmollte sie und drehte Alex beleidigt den Rücken zu.

Alex' Mutter erkannte den richtigen Zeitpunkt, in die etwas holperige Unterhaltung einzuschreiten. „Tante Lotte, die beiden haben ein Schulprojekt und müssen dafür einen handgeschriebenen, altdeutschen Text lesen. Kannst du ihnen dabei helfen?“, brüllte sie ihre schwerhörige Tante an. Die wurde auf einen Schlag wieder freundlich. „Natürlich. Selbstverständlich helfe ich euch gerne. Was lest ihr denn? Gedichte?“, fragte sie zuckersüß. Bevor Alex antworten konnte, riss sie ihm schon das Büchlein aus der Hand und setzte sich eine Brille auf, die entfernt an einen Schmetterling erinnerte. Tim hatte ein Lesezeichen ins Tagebuch gelegt, um den 13. Oktobers 1936 schnell wieder zu finden. Prompt blätterte Tante Lotte gut gelaunt genau diese Seite auf und fing leise an zu lesen.

Tim und Alex hielten den Atem an. Fanden sich in dem Tagebuch Hinweise auf den Mord an Henk Deependaal vor 70 Jahren, oder waren es ganz banale Aufzeichnungen eines Menschens, die überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatten? Tante Lotte las hochkonzentriert die alte, schon leicht verblichene Schrift. Alex meinte zu erkennen, wie ihre Atmung schneller und ihre Gesichtszüge härter wurden. Im Wohnzimmer wurde es ganz still, nur das Ticken der alten Wanduhr war zu hören. Nach einigen Minuten ließ Tante Lotte langsam das Büchlein sinken und blickte starr geradeaus. Ihr Gesicht war kreideweiß. Alex verbog vor Aufregung seine Kuchengabel. „Oh Gott!“, stammelte Tante Lotte und blickte die Freunde mit trüben Augen an. Selbst Phillip wurde unruhig und fing leise an zu winseln.

Alex' Mutter hörte auf zu lächeln. „Was ist hier los? Wo habt ihr das Buch überhaupt her?“ Sie blickte die Freunde eindringlich an. Alex sah Tim Hilfe suchend an. In solchen Situationen hatte Tim meistens die besseren Einfälle. Aber der saß nur auf dem Sofa, sagte kein Wort und blickte krampfhaft auf seine Füße. Endlich brach Tante Lotte ihr Schweigen. „Ich wünschte, ich hätte das hier nicht gelesen.“ Alex und Tim hielt es kaum noch auf dem Sofa. Die Spannung im Raum war förmlich zum Greifen. Tante Lotte seufzte tief. „Hier schreibt doch tatsächlich jemand in allen Einzelheiten, wie er ein kleines Lamm geschlachtet hat. Igitt, war das eklig.“

Alex und Tim sahen sich ungläubig an. „Äh, das war alles? Und sonst? Steht da gar nichts besonderes drin?“ Tante Lotte genehmigte sich noch einen Schluck Cognac. „Also, der Tagebuchschreiber schrieb noch, dass es mittags Bohnensuppe gab, dass er abends Rückenschmerzen vom Schlachten hatte und das irgend welche Steine am nächsten Tag gebrannt werden sollten.“ Tim stand enttäuscht vom Sofa auf. „Ich muss jetzt nach Hause. Danke für die Waffeln und den Kakao.“ Mit einer schnellen Bewegung schnappte er sich von der verdutzten Tante Lotte das Tagebuch und ging zur Tür. Alex folgte ihm hastig.

„Na, zufrieden, du Superdetektiv?“ Tim war enttäuscht und sauer zugleich. „Die ganzen Dinge haben überhaupt nichts miteinander zu tun. Einfach lächerlich, wenn wir glauben, dass wir einen Mord aufklären können, der 70 Jahre her ist und dass wir so ganz nebenbei noch einen Goldschatz finden. Ich gehe jetzt nach Hause. Tschüß.“ Alex hielt seinen Freund an der Schulter fest. „Warte! Deependaal ist am 13. Oktober 1936 ermordet worden. Und der Tagebuchschreiber hat in der Ziegelei gearbeitet, weil in dem Tagebuch etwas von Ziegelsteinen stand, die noch gebrannt werden müssten. Der muss doch etwas mitbekommen haben. Es wurde doch nicht jeden Tag ein Mensch in der Ziegelei umgebracht.“ Tim blickte auf das Tagebuch und sah dann seinen Freund nachdenklich an. „Egal, ich muss jetzt erst mal auf andere Gedanken kommen. Wir sehen uns morgen.“ Alex blickte seinem Freund nachdenklich hinterher, bis der in der Dämmerung verschwunden war.

„Na, ist sie noch da?“ Erschrocken drehte sich Alex um. Unbemerkt hatte sich sein Vater von hinten mit dem Rad genähert. Er trug seinen ölverschmierten Overall und kam anscheinend direkt aus der Werkstatt, die er mit seinem Freund Martin in einem alten Bauernhof eingerichtet hatte. Mit quietschenden Bremsen stoppte er direkt vor Alex Füßen.

„Wie? Wer?“ Alex hing noch seinen Gedanken nach. „Na, Tante Lotte. Oder wen hat Mama sonst noch zum Kaffee eingeladen?“, fragte sein Vater amüsiert. Anscheinend war er bester Laune. Alex musste lachen. Sein Vater fand Tante Lotte zwar nett, aber wegen ihrer Neugier doch etwas anstrengend. Deshalb suchte er meistens das Weite, wenn sie im Anrollen war. „Ja, die ist noch da. Sie trinkt gerade ihren zweiten Cognac, weil sie das mit dem Lammschlachten so eklig fand“, antwortete Alex lachend. Sein Vater sah ihn ratlos an. „Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“ Dann musste auch er lachen. „Komm, hol dein Rad. Wir beide gehen noch ein spätes Eis bei Nuccio essen, bis Mamas Tantchen mit ihrem Kampfhund abgezogen ist“

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