Zweihundert Meter noch

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Tobias Tattermusch

Zweihundert Meter noch

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zweihundert Meter noch

Impressum neobooks

Zweihundert Meter noch

Tobias Tattermusch

Zweihundert Meter noch

Roman

Zweihundert Meter noch, zweihundert lächerliche Meter, die schaffen wir jetzt auch noch. Na also, schon sinds keine zweihundert mehr, auf geht’s, jetzt vielleicht noch hundertfünzig. Alles klar langsam wird’s unschön, kann das nicht endlich zu Ende sein? Ok hundert noch, komm die schaffen wir jetzt in fünfzehn Sekunden, dann wird’s eine gute Zeit. Gleich da, gleich da, gleich da, yes! Geschafft! 12 Minuten, 58 Sekunden, verdammt gute Zeit….Verdammt geht’s mir jetzt schlecht! Es ist schon verrückt, wie viele Gedanken einem auf zweihundert Metern noch so durch den Kopf gehen können. 1200 Meter legt ein Mensch heutzutage im Schnitt täglich zu Fuß zurück. Vor hundert Jahren waren das noch 20 Kilometer! Verdammt müssen die viel gedacht haben! Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich wohl zur Zeit kein Durchschnittsmensch mehr. Gezwungenermaßen leider. So ein Sportstudium ist eine harte Sache, wenn schon die Aufnahmeprüfung so verrückt ist. Laufen, Sprinten, Schwimmen, Turnen und so weiter und so weiter. Aber immerhin kommt man ganz gut in Form. Dadurch kann man besser bei den Mädels landen und so ist das alles in allem doch eine gute Sache. Aber pscht, so was darf ich ja gar nicht sagen, bin ja schließlich vergeben. Glücklich vergeben. Überglücklich! Nein, Spaß beiseite, kann mich eigentlich echt nicht beschweren. Tolle Freundin, tolle Familie, Abitur in der Tasche, seit zwei Jahren am Faulenzen und jetzt endlich wieder ein Ziel vor Augen. Sport studieren, auf Lehramt. Das Hobby zum Beruf machen. Ist das nicht etwas, was sich jeder wünscht? Und genau das werd ich auch machen. Seit vier Monaten bereite ich mich jetzt schon vor. Fünf mal die Woche Joggen gehen, fünf mal die Woche pumpen gehen, pardon Krafttraining, zweimal Schwimmen und zweimal Basketball. Mit der Turnerei wird später angefangen, wird ja wohl nicht allzu schwierig sein. Hört sich jetzt erst mal alles nach recht viel an aber die erste Hürde auf meinem Weg zum Traumberuf hat es nun mal schon ganz schön in sich. Eignungstest der bayerischen Hochschulen. Ja man hat es nicht leicht, wenn man im schönsten Bundesland lebt. Aber mal ganz ehrlich, wer hat sich diese Prüfung ausgedacht? Sechzig Meter sprinten mit fliegendem Start? Wobei der fliegende Start einen Anlauf von sage und schreibe einem Meter beinhaltet. Hundert Meter Schwimmen in maximal einer Minute und fünfzig Sekunden? Reckturnen? 3000 Meter laufen wie ein Verrückter? Ja, das sind schon alles Dinge, die definitiv dazu qualifizieren, später mal ein guter Sportlehrer zu werden. Egal, muss man durch und am Ende ist man dann umso stolzer, wenn man es geschafft hat! Hoffe ich zumindest.

Ach, ich bin übrigens Patrick, und das hier, ist meine Geschichte!

,,Patrick! Paaatrick!“, schallt es wieder einmal von unten in dieser ganz besonders liebreizenden Stimme, ,,es ist neun Uhr! Aufstehen!“

Um neun Uhr aufstehen. Für einen Ex Abiturienten und Student in spe, wie mich, eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Was soll`s, Augen nochmal schnell zu machen, wird schon keiner merken.

,,PATRICK!“ Alles klar, alles klar bin schon wach. Eigentlich bin ich meiner Mutter dankbar dafür, dass sie für mich Wecker spielt. Ansonsten würde ich es wahrscheinlich nie aus dem Bett schaffen. Besonders nicht um neun Uhr. Neun Uhr, also quasi gerade wenn im Sommer die Sonne aufgeht, wenn die Vögel anfangen aus ihren Nestern zu kriechen und in den Tag zu starten. Wenn…wenn Menschen einfach noch in ihren Betten liegen sollten. Aber naja, von nichts kommt nichts. Der frühe Vogel fängt den Wurm! Irgendwas muss an dem bescheuerten Satz ja dran sein. ,,Schatz, aufstehen“, flüstere ich meiner Freundin zu, die noch neben mir liegt und in ihrem meditationsähnlichen Schlaf nichts von meiner Mutter mitbekommen hat. ,,Schatzi, komm schon, neun Uhr, aufstehen“. Nichts. Außer einem Grummeln, das mir wahrscheinlich sagen soll ,,schleich dich, ich will noch nicht aus meiner Traumwelt gerissen werden“. Da kommt mir eine Idee, die Idee. Was Mutti kann, kann ich schließlich auch. Ich stehe auf, vorsichtig muss ich dabei nicht sein, aus der Totenstarre erwacht sie so leicht nicht. Gehe raus in den Flur und schreie: ,,Caaro!“ Und siehe da, es funktioniert! Während dem Frühstück sind alle noch neben der Spur, ich, Caro, mein Bruder Nik. Kein Wunder, man muss nur mal auf die Uhr schauen! Bei Nik war das allerdings so eine Sache. 24 Jahre alt, Student. Jura, sechstes Semester. Man könnte meinen, der müsste viel zu tun haben, mir kommt es aber eher so vor als bestünde die größte Arbeit während eines solchen Studiums aus Feiern und verkatert aus dem Bett schleifen. Immerhin noch etwas, worauf man sich freuen kann! Nach dem Frühstück erst mal Schuhe an, raus und loslaufen. Man sagt, es gäbe Menschen die gehen Joggen als Ausgleich zu ihrem sonstigen alltäglichen Stress. Eine Sache, die ich niemals verstehen werde. Joggen wäre wohl so ziemlich das letzte, was ich als Ausgleich bezeichnen würde. Für mich ist das Stress pur. Psychisch, wie physisch. Hilft aber nichts, muss sein. Immer das Ziel vor Augen haben, sonst wird das nicht mit dem entspannten Studentenleben und späterem Traumberuf nichts. Nach acht nervenaufreibenden Kilometern ist Schluss. Ganz ehrlich, kurzzeitig hab ich mir echt Gedanken gemacht, ob mich jemand findet, wenn ich mittendrin im Wald umkippe. Aber das gehört dazu. Ich glaube fast, ich brauch diese negativen Gedanken um überhaupt weiterlaufen zu können. Joggen, grauenhaft. Zwölf Minuten und dreißig Sekunden darf ich brauchen für 3000 Meter. Für 8000 Meter habe ich jetzt 45 Minuten gebraucht. Reicht das? Bestimmt! Ne, tut´s nicht! So schaff ich das nicht! Aber hab ja noch zwei Monate Zeit, das wird schon. Jaa das wird schon. Alltägliche Gedanken eines angehenden Studenten, der im Moment eigentlich wirklich alles hat, was er sich wünschen kann. Naja, außer einem Studienplatz. Caro und meine Eltern erzählen mir dann immer, dass das schon gut gehen wird. Ich hätte ja noch Zeit und außerdem sei das ja auch gar nicht so schwierig. Letzteres sagt eigentlich nur mein Vater. Den würde ich wirklich mal gerne sehen, wie er versucht seine 120 Kilo überhaupt 3000 Meter weit zu bewegen, ohne dabei Räder unter sich zu haben. Wäre bestimmt ein super Anblick. Aber Ahnung hat er ja, meint er zumindest. Bin ihm da aber nicht böse. Irgendwo meint er das sicher auch nur gut. Kommt zwar nicht so rüber, aber doch ist bestimmt so. Nach der Lauferei erst mal Pause machen. Dann Mittagessen, dann gegebenenfalls noch Schwimmen oder Basketball. Und so läuft das jeden Tag in der Woche. Bis, ja bis zum Wochenende. Da vertrete ich die Ansicht, wer hart arbeitet, der hat sich ein bisschen Feiern schon verdient.

Wieder Montag. Mutti schreit wieder, ich schrecke auf und quäle mich aus dem Bett. Aber irgendwas ist anders. Ich stehe auf, muss mich aber direkt wieder hinsetzen. Man, denke ich mir immer noch der Kater? Ja ich geb´s zu, Samstag wurde dann doch etwas über die Stränge geschlagen. Der Sonntag fiel daher für mich einfach mal komplett aus. Ich würde nicht sagen, dass ich da was verpasst habe. Ich nenne es einfach mal ausreichende Erholungsphase. Aber gerade scheint es so, als wäre diese dann doch gar nicht mal so ausreichend gewesen. Schwindel, Müdigkeit, das mit dem Aufstehen wird sich wohl noch ein wenig verzögern. Auch der zweite Schreiangriff von Mama hilft nichts. Naja gut, dann also doch nochmal aufs Ohr hauen. Aber da höre ich sie schon. Wie sie die Treppe nach oben stampft als wolle sie mich jetzt gewaltvoll aus dem Bett zerren und vor den Frühstückstisch schmeißen. Immer näher kommen die Schritte. Ich verkrieche mich immer weiter unter meiner Decke und versuche mein Bestes zu geben, einen Tiefschlaf zu imitieren, aus welchem sie mich schon alleine, weil sie meine Mutter ist, nicht reißen wird. Sie ist da! Öffnet die Tür, erblickt wohl ihren Sohn, glücklich träumend, in seinem warmen Bett eingemümmelt. Und sagt trocken und gelassen: ,,Saufkopf.“ Schließt die Tür und tritt den Rückzug an. Geschafft! Ein paar, viel zu kurze Stunden später dann der nächste Angriff. Erneut die Schreie, erneut mein Versuch, guten Willen zu zeigen und in den Tag zu starten. Um 13:00 Uhr. Also immer noch vormittags. Ich erhebe mich wieder langsam und merke schon beim Aufsetzen, dass mein Körper noch immer nicht genug vom Ruhen hat. Ich denke jeder kennt das, die Augen tun einem weh, jedes Geräusch nervt, ganz egal was für eins, und der Sinn des Aufstehens scheint so weit entfernt wie nie zuvor. Aber dieses Mal muss es klappen. Schließlich muss auch wieder trainiert werden. Joggen, super Sache, verstehe eigentlich gar nicht, warum ich nicht schon gleich heute früh aus dem Bett gesprungen bin, wo die Aussichten für den Tag doch so gut stehen. Ich stehe also auf, und da ist er wieder. Der Kater. Aber, nein, das kann doch überhaupt nicht sein. Ist ja nicht so, dass ich mich in die Besinnungslosigkeit gefeiert habe und die Nachwirkungen jetzt noch zu spüren sein dürften. Komische Sache, aber ist ja auch egal. Das einzige was ich weiß, ist, dass wenn ich jetzt nicht endlich aufstehe, meine Mutter schon einen Weg finden wird, mich dazu zu bringen. Und das möchte ich einfach nicht riskieren. Also auf! Nach dem Mittagessen, erst mal noch kurz vor den Fernseher aber dann raus. Schuhe an, jetzt wird gejoggt. Geht verdammt schleppend heute, aber es wird. Da zeigt sich immerhin mal der einzige Vorteil, den diese Lauferei mit sich bringt. Wenn man mit seinem Kreislauf am Ende ist, einfach losrennen, nach ein paar Minuten geht’s einem wieder gut. Trotzdem bleibt die Zeit unterirdisch. Aber wenigstens ein bisschen was geleistet. Später dann noch pumpen gehen und mal schauen, wie ich dann drauf bin. Vielleicht ist ja auch noch ein bisschen Schwimmen drin. War es natürlich nicht. Macht ja nichts, auf Dienstag verschoben und einfach weiter machen. Und so wieder die ganze Woche weiter. Grauenhaft. Ich weiß, dass mich wohl furchtbar viele berufstätige Menschen für meine Jammerei an die Wand klatschen würden. Aber auch, wenn es sich möglicherweise einfach anhört, jeden Tag laufen zu gehen und jeden Tag zu versuchen, seine Muskeln aufzupumpen, nur um bei einer einzigen Prüfung dann nicht zu versagen, der Druck dahinter ist schon enorm. Besonders wenn sich nichts mehr verbessert. Ich meine, seitdem ich angefangen habe mit dieser bösartigen Beschäftigung, die sich joggen nennt, hat sich wirklich schon einiges getan. Aber derzeit stagnieren meine Leistungen schon wirklich enorm. Und das schlaucht. Da hilft mir auch das ,,wird schon, war halt heute ein schlechter Tag“, oder ,,bei der Prüfung schaffst du es dann eh“ von meinen Eltern und Freunden nicht mehr weiter. Klar, nett gemeint, aber hilft nichts. Eineinhalb Monate sind es jetzt noch bis zum großen Tag. Eignungsprüfung der bayerischen Hochschulen. Diese Kombination von Wörtern entwickelt sich für mich so langsam zum Sinnbild des Bösen. Und was man da doch nicht alles braucht um überhaupt teilnehmen zu dürfen. Unter anderem darf ich mich nächste Woche zum Onkel Doktor schleifen und mir eine Bescheinigung holen, dass es mir sowohl geistig als auch körperlich gut geht. Sind wir doch mal ehrlich. Das wollen die doch nur haben, damit ihnen niemand etwas anhängen kann, falls ich mich beim 3000 Meter Lauf tot renne. Was, nebenbei erwähnt, gar nicht so abwegig ist. Da ich aber schon davon ausgehe, dass mir nicht allzu viel fehlt, ist das wohl gerade diesbezüglich mein geringstes Problem. Viel schlimmer sind meine Zeiten. Es läuft zur Zeit einfach nicht so, wie es laufen sollte. Seit zwei Wochen dasselbe. Keine großartigen Verbesserungen mehr und immer das Gefühl, dass Schlafen gerade viel sinnvoller als alles andere wäre. ,,Ist bestimmt nur das Wetter“, sagt Mutti dann immer. Und während dem Laufen ists auch wirklich immer besser. Aber irgendwie auch nicht mehr so richtig. Ich glaube, mein Körper hat so langsam aber sicher ein riesen Problem mit dieser Sportgeschichte. Ein Kumpel hatte mir erzählt, er hätte so viel trainiert, dass sein Herz nicht mehr mitgemacht hat und er monatelang gar nichts mehr machen durfte. So wird das bei mir bestimmt auch enden. Am Ende laufe ich dann Bestzeit, aber mein Herz verliert die Lust. Das ist es dann ja wohl auch nicht wert. Aber trotzdem, muss ja weitergehen. 12:30 werden gebraucht, ich bin bei 12:52. ,,Im Wettkampf läufst du dann sowieso nochmal schneller“, sagen dann immer alle, wenn ich anfange darüber zu trauern, dass das doch langsam alles keinen Sinn mehr macht. Woher wollen die das wissen?, frage ich mich dann jedes mal. Haben die mich schon einmal im Wettkampf laufen sehen? Ich denke nicht, denn um Laufwettkämpfe habe ich in der Vergangenheit immer einen besonders großen Bogen gemacht. Aber naja, irgendwo hilft es schon, das Ego wieder etwas aufzupolieren. Eigentlich bin ich meinen ganzen netten Zurednern ja schon dankbar. Meine Zweifel über den Ausgang dieser ganzen Geschichte bleiben aber eben leider bestehen.

 

Wartezeiten beim Arzt. Das ist so eine Sache, die zähle ich unter die Kategorie alltägliche Folter. Gut, vielleicht nicht alltäglich, ganz soweit bin ich dann doch noch nicht. Aber ich denke mir dann schon immer, warum hier so vielen Menschen ein Termin gegeben wurde, damit sie zu einer bestimmen Uhrzeit anwesend sind, zu der sie dann aber noch lange nicht behandelt werden können. Macht das Sinn? Nein.

Und was sind das für Menschen, die nach mir in das Wartezimmer kommen, aber es vor mir wieder verlassen dürfen? Wer sind diese Premium Kunden, die scheinbar über mir und meinen körperlichen Gebrechen stehen? Und wieso kann es nicht ein Wartezimmer für diejenigen geben, die etwas Ansteckendes haben und eines für die, die sich hier nur mal kurz ein Attest oder so ähnlich besorgen möchten. Alles wirklich verwirrend und sinnbefreit wenn man mich fragt. Aber immerhin sind hier alle unheimlich freundlich. Jeder der den Raum betritt sagt guten Morgen und jeder, naja fast jeder grüßt zurück. Wer das nicht tut wird dafür mit strafenden Blicken bombadiert. Ich weiß das. Aus Erfahrung. Aber Entschuldigung, so leid es mir auch tut, wenn ich doch früh um halb acht beim Arzt sitze ist das schlicht und ergreifend kein guter Morgen mehr. Und ich bin eben nicht der Typ, der gerne lügt.

Eine Stunde sitze ich jetzt hier schon und es sitzen sogar jetzt noch zwei Leute hier, die schon vor mir da waren. Oder waren es drei? Ich könnte heulen. Vor lauter Gehuste neben mir und Genieße vor mir habe ich schon den Überblick verloren, wer vor mir diesen Raum, voll mit lebendigen biologischen Waffen, verlassen darf.

,,Meyer“, ruft es von draußen. Wie jetzt? Ich bin dran? Vor den anderen? Ich bin zum Premium Kunden aufgestiegen! Mit zwanzig! Wenn man so darüber nachdenkt, vielleicht doch nicht zwingend positiv. Egal, ich darf hier raus.

,,Ade“, rufe ich freudig erregt den noch Wartenden zu und lächle dabei ganz besonders die blasse Gestalt an, die links von mir saß und ganz offensichtlich noch nichts von der Erfindung des Taschentuchs mitbekommen hatte.

,,Ade“, schallt es ruhig und klagend zurück.

Man könnte meinen, jetzt wo man das Zuchtlabor für neue Bakterien- und Virenstämme verlassen hat, kommt man endlich dran. Pustekuchen! Wartezeit Nummer zwei folgt im Behandlungszimmer. Aber da schaue ich mir dann immer ganz genau alle Utensilien an, die der Onkel Doktor möglicherweise an mir verwenden möchte. Eine saublöde Idee. Sollte man sein lassen.

Aber da öffnet sich auch schon die Tür und der Mann im weißen Kittel springt herein.

,,Soo, Herr….Meyer, was fehlt uns denn?“

,,Naja, hoffentlich gar nichts“, antworte ich ihm und halte ihm das Formblatt mit der Überschrift ,,ärztliche Bescheinigung für die Sporteignungsprüfung“ unter die Nase.

,,Ahaa, ein Sportler also, na dann schauen wir mal.“

Na dann schauen wir mal? Wie jetzt? Jetzt will der gute Mann mich wirklich untersuchen. Und ich dachte, ich komme hier her, der Onkel füllt den Zettel aus und ich kann wieder gehen. Aber nein, der will mich jetzt wirklich untersuchen. Naja gut, soll so sein. Dann weiß ich danach wenigstens wie gesund genau ich bin.

Und los geht’s, Blutdruck gemessen. 120 zu 75. Ein Bilderbuchdruck würde ich sagen. Puls, ein bisschen langsam, aber passt auch. Bei Sportlern ist der ja langsamer, habe ich mir sagen lassen. Dann zückt der Mann in weiß ein Fieberthermometer.

Ist das jetzt wirklich nötig, frage ich mich. Lassen wir ihn machen, wird schon wissen, was er da tut. Also rein damit ins Ohr, einmal kurz gepiept und, 38,5? 38,5? Ist doch Fieber oder nicht? ,,Herr Meyer, sind sie erkältet? Oder fühlen sie sich in letzter Zeit etwas schlapp? Sie haben da nämlich eine doch leicht erhöhte Temperatur.“ ,,Naja, nein eigentlich nicht, wird wohl die Klimaanlage gewesen sein.“ Er schaut mich etwas ungläubig an, aber ich bin da mal der Meinung, dass ich in den letzten Tagen ein bisschen müde bin, braucht er jetzt nicht zu erfahren, am Ende unterschreibt er mir sonst meinen Wisch hier nicht. Und weiter geht die Sucherei. ,,Bitte mal obenrum freimachen, Herr Meyer.“ Alles klar, jetzt wird es interessant. Er tastet mich kurz ab. Da müssen ihm aber jetzt die in den letzten Monaten antrainierten Bauchmuskeln auffallen und schwupps unterschreibt er den Zettel. Scheinbar nicht. Er greift nach seinem Ultraschallgerät. Klatscht mir einen Haufen dieser etwas ekligen Paste auf den Bauch und schallt los. ,,Herr Meyer, ihre Milz ist etwas vergrößert.“ ,,Meine Milz“, frage ich überrascht nach. ,,Ja, ihre Milz. Aber kein Grund zur Sorge. Wir nehmen jetzt noch ein wenig Blut ab, dann können sie wieder nach Hause gehen.“ Na Gott sei Dank. Hoffentlich vergisst er nicht meinen Zettel zu unterschreiben. Jetzt holt er sich erst mal sein Blutabzapfbesteck. Kein Problem, hab gute Venen, das dürfte schnell gehen. Und so ist es auch. Ein Stich und da läufts. Nach erfolgreicher Abnahme nimmt er doch tatsächlich einen Stift in die Hand und signiert meinen Zettel. ,,So das hätten wir. Das Ergebnis des Bluttests bekommen sie dann in den nächsten Tagen, Herr Meyer.“ ,,Vielen Dank, schönen Tag noch“, verabschiede ich mich von ihm und verlasse endlich diese Brutstätte, bösartiger Keime. Daheim angekommen werfe ich mich auf die Couch und schmeiß erst einmal die Glotze an. Ein klein wenig Entspannung nach so einem grausamen Morgen muss jetzt sein. ,,Und, wie wars?“, ruft meine Mutter aus der Küche. Keine Ahnung, wie sie meine Anwesenheit schon wieder gespürt hat, so vorsichtig, wie ich mich doch reingeschlichen hatte. Ich glaube, so etwas haben Mütter einfach drauf. Ich erhebe mich, aber bevor ich aufstehen und in die Küche traben kann steht sie schon vor mir. ,,Also? Wie war es?“ ,,Jaa gut“, entgegne ich. ,,Bin durch und durch gesund. Nur das Fieberthermometer sollte der gute Mann mal wieder checken lassen.“ ,,Na dann ist ja gut. Und wo hast du dich da geschnitten?“ Sie deutet auf meinen Arm. Verwirrt blicke ich auf die Stelle, auf welche ihr Finger zeigt. Und tatsächlich. Sauber durchgeblutet ist mein Pullover.

,,Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung was ich da gemacht habe.“

,,Duu wieder“, grummelt sie.

Ja klar, ich wieder. Ich mache nämlich andauernd so etwas.

Wortlos drehe ich mich um und marschiere in mein Zimmer, um mir etwas Neues anzuziehen.

Was hab ich denn da gemacht?, frage ich mich während ich das dreckige Hemd ausziehe. An meinem Arm auch Blut. Komisches Blut. Noch fast flüssig. Aber nicht so richtig. Und wo kommt das her? Da fällt auf einmal etwas Kleines auf den Boden. Ein Pflaster. Achso! Der Doc! Mit welcher Waffe hat der mich denn da gestochen, dass ich einen guten halben Liter Blut verliere? Naja, scheint ja jetzt aufgehört zu haben. Neuer Pulli an, gut ists! ,,Paaaatrick!“ Das alltägliche Grauen nimmt seinen Lauf. Es ist schon beeindruckend, welche Ausdauer diese Frau an den Tag legt, wenn es um etwas geht. Andere Mütter würden sich wahrscheinlich denken, ,,soll er doch weiterschlafen“. Nicht meine. Ich glaube, ihr liegt schon ein klein wenig daran, was mal aus ihrem Sohn wird. Jaa gut, falls denn wirklich etwas aus mir werden sollte, hätte sie dann auch schließlich etwas zum Angeben. Und jemanden zum Rente aufbessern. Naja, so weit sind wir noch lange nicht. Mach ich mir jetzt mal noch keine Gedanken drüber. Erst mal muss ich in dieses Studium kommen. Und dazu muss wieder trainiert werden. Hätte wirklich nicht gedacht, dass ich irgendwann mal eine derartige Abneigung gegenüber Sport entwickle. Aber doch, ist passiert und hat gar nicht mal so lange gedauert. Ist ja auch egal, was muss das muss. Als ich mich so langsam aus meinem Bett schäle, fühle ich mich aber gerade so, als wäre ich im Schlaf schon ein paar Kilometer gelaufen. Oder eher gerannt. Alles ist nass. Also geschwitzt. Hoffe ich jedenfalls. Trotzdem komisch. Bettsport also mal anders. Vielleicht ist mein Körper ja schon so dermaßen in diesem Sportmodus, dass er nicht mal in der Nacht damit aufhören kann. Ja so weit ist es schon gekommen. Jetzt schwitze ich schon in der einzigen Zeit, in der ich mich eigentlich voll und ganz erholen sollte. Werde wohl nie mehr einfach nur ruhen können. Schwamm drüber, aufstehen jetzt. Und da ist sie wieder. Diese Müdigkeit. Immer öfter frage ich mich, wie um alles in der Welt ich das Schülerdasein damals überlebt habe. Jeden Morgen gegen sieben Uhr aufstehen. Jetzt ist neun. Und ich fühle mich als wäre noch stockfinstere Nacht. Als ich aus dem Bett aufstehe merke ich, wie mein Rücken ein Veto einlegt. Rückenschmerzen. Also so langsam spricht an meinem Beispiel wirklich rein gar nichts mehr dafür, dass Sport gut für den Körper ist. Geschweige denn für die Psyche. Für mich grenzt das mittlerweile in beiden Fällen an Vergewaltigung. Ich mache weiter mit dem Akt des Aufstehens. Ungeachtet meiner multiplen physischen Einschränkungen, ziehe ich mich an und..da klingelt das Telefon. Das trifft sich doch mal gut jetzt. Endlich ein Grund sich mit dem Aufstehen etwas zu beeilen. Ich ziehe mich an und renne runter, nehme das Telefon ab, ,,Meyer.“ Der Doc ist am Apparat. Ach ja stimmt, dieser Bluttest von vor ein paar Tagen. Ein bisschen gespannt bin ich ja sogar, wenn ich ehrlich sein soll. Im Endeffekt wird er mir jetzt eh bloß erzählen, dass da nichts auffällig war und fertig. Oder auch nicht. Ich lege den Hörer auf, als Mutti schon angetrabt kommt und mich fragt, wer dran gewesen sei. ,,Der Onkel Doktor“, sage ich. ,,Und was wollte der?“ Ich erzähle ihr von dem Bluttest. Und davon, dass er jetzt noch einen machen möchte. ,,Warum das denn? Stimmt irgendetwas nicht?“ ,,Wenn ich das wüsste“, entgegne ich ihr ,,irgendwas von zu wenig Blutplättchen hat er erzählt.“ Sie schaut etwas verdutzt. Ich wohl auch, weil ich auch nicht weiß, was zu wenige Blutplättchen wohl so machen. ,,Aber naja, machen wir halt noch einen, wird schon nicht so wild sein.“ Sie nickt. Später, beim Frühstücken offenbart sie mir dann, dass sie bei dem Termin dann aber bitte auch mitkommen möchte. Ein wenig Sorgen mache sie sich jetzt nämlich schon. Weiß zwar nicht warum, wenn es etwas schlimmes sein könnte, hätte der gute Mann mir das ja wohl schon am Telefon erzählt. Seis drum, dann hab ich für die grauenhafte Wartezeit, bzw. die Wartezeiten wenigstens eine Gesprächspartnerin. Nach dem Frühstück wie immer, Glotze, dann Laufen gehen. Geht immer noch schleppend. Es will einfach nicht mehr so richtig. Hatte ich schon erwähnt, dass sich ein Kumpel sein Herz zum Platzen gelaufen hat. Also dramatisiert dargestellt. Ich befürchte, an dem Punkt bin ich auch bald angekommen. Nach der Plackerei, endlich mal wieder etwas Erholung. Ich setze mich ins Auto und hol Caro ab. Zum Eis essen. Man könnte natürlich auch mit dem Fahrrad in die Stadt fahren. Aber muss ja an mein Herz denken. Also ist das Auto definitiv die sinnvollere Variante. So ein entspannter Nachmittag ist schon was Schönes. Tolles Wetter, tolles Mädel an der Seite, man kann sich nicht mehr wünschen. Bis abends schlendern wir noch so durch die Stadt. Das ist so eine Sache, die geht mit Mädels ganz besonders gut. Durch die Stadt gehen und im Prinzip gar nichts tun. Also im Prinzip. Für sie ist das wie eine Tour. Eine Schaufenstertour. Rein in die Läden geht sie nicht. Nur reinschauen tut sie und das scheint ihr fürchterlich viel Spaß zu machen, sonst würde sie das wohl nicht stundenlang machen. Für mich jetzt nicht so die erfüllenste Aktivität. Allerdings, wenn es sie glücklich macht, bin ich gerne dabei. Denn, unter uns, schlecht gelaunte Frauen sind so eine Sache, auf die will man einfach so oft wie nur irgend möglich verzichten, oder? Als wir dann irgendwann doch heimkommen ist sie immer noch total entzückt von all den schönen Fenstern und ich…ja ich bin total kaputt. Schon wieder. Leergesaugt vom Schaufenstertouring. Hier ist das weniger starke Geschlecht uns einfach überlegen. Genau wie beim Shoppen. Wenn ich vier Stunden nach Schuhen suchen würde, stünde ich schon an der Grenze zum Nervenzusammenbruch. Meine Freundin läuft dann gerade erst warm. Naja, dafür einen schönen Tag gehabt. Sieht man mal vom morgendlichen Joggen ab. Also dann heute früh in die Kiste und morgen wieder so frisch wie möglich in einen neuen Tag voll Plackerei starten. Vorher erzählt mir meine Mutter noch, der Arzt hätte noch einmal angerufen und mir für morgen wieder einen Termin gemacht. Super! Ich freu mich. Da gehe ich doch gerne schnell ins Bett, damit endlich morgen ist und ich mich wieder der Arztfolter unterziehen kann. Genug gejammert, jetzt wird erst mal gepennt. Halb acht und wieder beim Arzt. Warum eigentlich immer halb acht. Je früher so ein Termin, desto größer ist doch auch das Risiko für so einen Doktor, nur schlecht gelaunten, unausgeschlafenen Menschen zu begegnen. Die machen dann auf Dauer seine Laune schlecht und damit zieht er dann wiederum die Laune all derjenigen in den Keller, die eigentlich gar nicht mal so mies drauf waren. Und so ist das dann ein Teufelskreis aus dem einfach niemand mit guter Laune rauskommen kann. Arzt. Ein scheiß Job. Bei so viel Nachdenkerei bin ich dann auch schon dran. Man sollte immer, wenn man auf etwas wartet über irgendwelche seltsamen Dinge sinnieren. Dann geht die Zeit viel schneller vorbei. Also ab mit Mutti ins Behandlungszimmer. Nach zweiter, erfolgreich überstandener Wartezeit, kommt der Doc und nimmt mir wieder, auf bekannt gekonnte Weise mein kostbares Blut ab. ,,Diesmal bitte ein anständiges Pflaster“, hüstle ich ,,das letzte hatte nicht den Saugeffekt den es versprochen hat.“ Doch ein klein wenig überrascht drein blickend klebt er mir daraufhin zwei dicke Tupfer auf meinen Arm und fixiert sie mit brauner Pflasterrolle. ,,Na, saugfest genug?“, grinst er. Wortlos lächle ich zurück und nicke. Gut gekontert, alter Mann, gut gekontert. Daheim dann aber wieder dasselbe Spiel. Als ich mich gerade auf die Couch schmeißen will, fällt mir wieder das Blut an meinem Arm auf. Es ist durch diese zwei Tupfer durch gesickert und läuft mir jetzt schon langsam den Arm entlang. Ich gehe in die Küche, wische meinen Arm mit etwas Küchenrolle sauber und klebe ein neues, anständiges Pflaster auf das unscheinbare Einstichloch des Docs. Und schon sehe ich, wie sich die kleinen, weißen Löcher des Pflasters schon wieder rot färben. Aber es läuft nicht mehr durch. Trotzdem, seltsam. ,,Oh man, auf was lieg ich denn da jetzt?“, denke ich mir und schrecke auf. In meinem Zimmer noch alles dunkel. Ich werfe einen kurzen Blick auf den Wecker. 04:03 Uhr Ich fühle mich dreckig. Mein Bett nass geschwitzt, mein Kopf glüht förmlich und mein Rücken schmerzt grauenhaft. Ich stehe auf und ziehe mir frische Klamotten an. Währenddessen denke ich, ich wäre gerade aus einem Karussell ausgestiegen. Mein Zimmer dreht sich, ich falle zurück in mein Bett. Das kann ja noch eine lustige Nacht werden. Und das sollte sie auch werden. Ein munteres Wechselspiel aus wach sein und Dösen. So richtig geschlafen habe ich wohl nicht mehr. Als meine Mutter den Wecker startet geht es mir wieder etwas besser. Mein Rücken schmerzt aber immer noch und irgendwie ist mir auch noch schwummrig. Als ich mich gerade so die Treppe runterschleppe begrüßt mich meine Mutter schon mit den Worten: ,,Na du siehst heute Morgen aber besonders frisch aus“. Ich lasse es unkommentiert. Mir ist gerade mal so gar nicht nach frühmorgendlicher Konversation. Als ich am Spiegel vorbeilaufe, werfe ich einen kurzen Blick hinein und erschrecke beinahe vor meinem eigenen Spiegelbild. Spontan greife ich mir ans Handgelenk und suche nach meinen Puls. So blass wie ich bin, dürfte da nämlich eigentlich keiner mehr sein. Gottseidank ich spüre ein Pochen. Ich mache mir mein Frühstück und wandere ins Wohnzimmer. Da erwartet mich schon Mutti. ,,Du schaust wirklich nicht gut aus“, entgegnet sie mir ,,schon mal Fieber gemessen oder so?“ Eigentlich keine schlechte Idee, wenn man mal so drüber nachdenkt. Ich hole mir also ein Thermometer und schiebs mir unter den Arm. Nach drei Minuten das Ergebnis: 38,0. 38,0 unter dem Arm gemessen. Fieber. Wieso werde ich gerade jetzt krank, denke ich mir und schmeiße das Thermometer zornig in die Couchecke. Gerade jetzt, wo ich auf der Trainingszielgeraden für diesen bescheuerten Test bist. Und jetzt so was. Irgendjemand will einfach nicht, dass ich diesen Test bestehe. Erst vor ein paar Wochen bin ich beim Basketballtraining umgeknickt, und jetzt? Jetzt so eine dämliche Erkältung. Oder was auch immer das ist. Im Großen und Ganzen fühle ich mich ja gar nicht so schlecht. Aber dieser Schwindel, die Rückenschmerzen und das komische Fieber. Vielleicht sollte das Training für heute erst mal ausfallen. Wird wohl besser sein. Ich haue mich also auf Ohr, mit der Hoffnung, dass es mir wieder gut geht, wenn ich denn dann wieder aufstehe. ,,Patrick…Schaatz?“, flüstert es neben mir. Ich öffne langsam die Augen. Alles verschwommen. Ich blicke in eine Silhouette. So langsam wird es scharf. Und wie scharf. Caro steht neben mir und blickt mir etwas verdutzt in die Augen. ,,Schatz wir waren verabredet.“ ,,Jaa, weiß ich doch. Aber doch erst heute abend.“ ,,Es ist sechs Uhr.“ Unsinn, sechs Uhr. Ungläubig hebe ich den Arm und schaue auf meine Armbanduhr. Kein Scherz. Fünf Minuten nach sechs. Das muss ja wohl ein Witz sein. Ich checke die anderen Uhren im Raum. Doch alle zeigen mir dasselbe, verwirrende Ergebnis. Fünf nach sechs. Ich soll also gut neun Stunden geschlafen haben? Jetzt müsste ich ja wohl genesen sein. Sollte man meinen. Als ich versuche mich aufzusetzen, beginnt sich das Zimmer wieder zu drehen. Ich fühle mich wie in einem verdammt schlechten Fahrgeschäft auf einer unheimlich unlustigen Kirchweih. Den Rest des Abends verbringe ich mit Caro auf der Couch, später dann im Bett. Süß, wie sie mich versorgt. Tee, Plätzchen, sogar eine Suppe macht sie mir. Gewürzt mit Salz. Mit verdammt viel Salz. Aber egal, der gute Wille zählt und der ist ganz offensichtlich da. Kann mich einfach glücklich schätzen mit so einem Mädel an der Seite. Irgendwann schlafe ich ein. Keine Ahnung wann genau. Eigentlich war ich die ganze Zeit schon im Halbschlaf. Wird dann wohl so gegen neun oder zehn Uhr gewesen sein. Am nächsten Morgen, ein ähnliches Spiel. Aber schon besser. Die Rückenschmerzen haben sich zum Glück fast ganz verabschiedet. Trotzdem fühle ich mich total schlapp. Ist ja auch kein Wunder, wenn man in den letzten 24 Stunden ungefähr zwanzig Stunden verschlafen hat. Da hat der Kreislauf dann wohl den untersten Tiefpunkt erreicht. Caro scheint wohl schon aufgestanden zu sein. Neben mir liegt sie jedenfalls nicht mehr. Ein Blick auf die Uhr. 10:37 Uhr Also scheint Mutti wohl der Meinung zu sein, dass ich immer noch nicht wieder sporttauglich bin. Umso besser. Noch ein freier Tag. Noch ein bisschen schöne Bemutterung von der Freundin. Krank sein ist eigentlich gar nicht so schlecht. Auf alle Fälle wird sich besser um einen gekümmert. Also auf geht’s, nochmal einen Tag nichts tun genießen, bevor der alltägliche Sportwahnsinn wieder beginnt. Mein Zimmer dreht noch seine letzten Runden als ich aus dem Bett aufstehe. Aber dann hält es an. Endlich. Kein Schwindel mehr, das Karussell steht. Ich wanke die Treppe runter, versuche dabei natürlich möglichst krank drein zu schauen, damit niemand auf die Idee kommt, ich könnte genesen sein. Und da sehe ich auch schon mein Empfangskomitee. ,,Guten Morgen“, grummele ich. Keine Antwort. Caro und meine Mutter stehen nebeneinander vor mir und starren mich an. Auf meinen Gruß, keine Reaktion. ,,Moin, moin?“, starte ich verwirrt den zweiten Versuch. ,,Der Doktor hat angerufen“, erwidert meine Mutter endlich, ,,wegen dem Test.“ ,,Ja? Und? Alles gut? Schwimmen die Plättchen wieder, ja?“ ,,Er möchte jetzt eine Knochenmarksuntersuchung bei dir machen.“ Ein Scherz. Hoffe ich. Eine Knochenmarksuntersuchung. Jetzt spinnt der Mann völlig. Erst lässt er mich zweimal halb ausbluten, jetzt will er mir ans Rückgrat, oder wie soll ich das verstehen? ,,So ein Schmarn, mach ich nicht. Warum denn?“ ,,Nicht so wichtig Schatz, lass doch einfach machen, dann werden wir schon sehen, dass alles mit dir in Ordnung ist“, lächelt mir Caro zu. Was ist hier los? Jetzt soll ich mir da irgendwas in den Rücken rammen lassen, ohne, dass das einen speziellen Grund hat, oder wie? Ich verliere etwas die Geduld. Genervt erwidere ich: ,,So ein Rotz. Tschuldigung, aber ich möchte schon wissen, warum mir der Doc an meine Wirbelsäule geht, bevor ich das machen lasse!“ Beide bleiben stumm. ,,Also? Kann jetzt mal jemand von euch mit mir reden?“ Sie schauen sich kurz an. Meiner Mutter rollt eine Träne über die Wange. Was ist das hier? Wenn nicht bald einer von den beiden eine Antwort rauslässt werd ich mich wohl ein wenig vergessen. ,,Patrick“, seufzt meine Mutter ,,du hast…du hast vielleicht…vielleicht Krebs… Leukämie.“ Ich höre was meine Mutter sagt und mein Zorn verblasst. Kurz schaue ich rüber zu Caro. Sie nickt. Und weint. Auch meiner Mutter rollen weitere Tränen über das Gesicht. Leukämie? Es scheint wohl kein Scherz zu sein. Ich setze mich auf den Boden. Ich starre irgendwohin, nehme aber nicht mehr wahr wohin. Leukämie. Krebs. Ich werde sterben. Nein, werde ich nicht. Es ist noch überhaupt nicht sicher, dass ich das wirklich habe. Was ist mit dem Sporttest? Kann ich damit überhaupt noch Sport machen. Ich werde sterben. Ich habe Krebs. Blutkrebs. Ich… Ich mache so viel Sport und bekomme Krebs. Mein Bauch fühlt sich leer an. Mein Kopf dreht sich. Meine Mutter sagt irgendwas. Dann Caro. Ich verstehe kein Wort. Ich nehme überhaupt nichts mehr wahr. Kurz überlege ich, dass es mir doch wieder gut geht. Dann wieder der Gedanke. Krebs. Der Schwindel. Die Schweißausbrüche. Die Rückenschmerzen. Das Fieber. Die Müdigkeit. Das war nicht das Wetter. Ich vergesse, wo ich bin, was ich gerade vor hatte. Im Moment weiß ich nicht mehr wer ich bin. Was um mich herum passiert, verschwimmt. Mir wird schlecht. Schwindelig. Ich bekomme Kopfschmerzen. Dann, ich verstehe erst jetzt was mir meine Mutter gerade gesagt hat. Ich habe Krebs. Die erste Träne rollt mir über meine rechte Wange. Dann eine weitere. Ich kann es nicht mehr zurückhalten. Caro und meine Mutter nehmen mich in den Arm. Wir alle drei, weinen. Ich habe Krebs. Ich spüre es fast nicht. Ein Stich, die Betäubung war aber schlimmer. Glaube ich. Ich weiß es schon fast nicht mehr. Jetzt nimmt er mir wohl gerade mein Mark ab. Ein grauenhaftes Gefühl. Auf der anderen Seite ein kleines Stück Hoffnung. Und an dieses klammere ich mich im Moment mit aller Kraft. Als ich meinem Vater von der Sache erzählt habe, hatte dieser nur gesagt, ich solle jetzt erst mal abwarten. So ist er. Trotzdem hatte er mich in den Arm genommen. Doch jetzt liege ich erst einmal hier. Meine Position ist ein Sinnbild dafür, wie es mir im Moment geht. Auf die Seite gedreht. Angewinkelte Beine, die Haltung eines Hilflosen. Ein paar Tage sind vergangen, seitdem meine Mutter mir offenbart hat, was mit mir los ist. Glauben kann ich es bis heute nicht. Nein, ich glaube es schon. Ich will es aber nicht. Die Hoffnung, dass der Doc mir nach der Untersuchung hier fröhlich in die Augen schaut und mir erklärt, dass es doch alles ein Irrtum war, ist da. Es ist eigentlich im Moment sogar die einzige Wahrheit für mich. Es wird so sein. Ich habe keinen Krebs. Warum sollte ausgerechnet ich Krebs bekommen? Ich ernähre mich gesund, ich mache viel Sport, ich liege nicht ständig in der Sonne, ich schaue nicht andauernd fern. Aber wahrscheinlich ist das auch alles völlig egal. Wenn man den Mist hat, dann hat man ihn. Oder? Mein Kopf ist voll mit gegensätzlichen Gedanken. Fast minütlich ändert sich meine Stimmung. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Gerade dreht sich alles nur um diese eine Frage. Habe ich ihn, oder habe ich ihn nicht? Mein Kopf sagt, ja, finde dich damit ab. Irgendetwas anderes sagt mir, nein, der irrt sich. Ich könnte weinen. Die ganze Zeit. Ununterbrochen. Aber ich beherrsche mich. Ich habe nichts und es wird sich alles zum Guten wenden. Wieder daheim. Ich sitze auf der Couch. Alle um mich herum. Keiner spricht ein Wort. Nicht einmal mein Vater. Ich glaube, jeder ist sich wohl mittlerweile der Situation bewusst. Nein, nicht jeder. Ich nicht. Ich glaube nicht daran, dass ich das habe. Oder doch? Kopfschmerzen. Fast genau seit dem Moment, in dem meine Mutter mir meine Diagnose gestellt hatte. Dagegen nehmen möchte ich nichts. Warum? Ich habe Angst, davon Krebs zu bekommen. Ich scheine durchzudrehen jetzt. Nur noch dieses eine Thema, überall. Nichts, was ich tue, macht noch wirklich einen Sinn. Sport machen? Wozu? Essen? Schmeckt nicht mehr. Fernsehen? Um überall glückliche Menschen zu sehen? Nein, danke. Wir sitzen bestimmt eine Stunde so auf der Couch, ohne uns auch nur zu Rühren. Oder zwei? Ich weiß es nicht. Zeit. Noch so eine Sache, die gerade jegliche Sinnhaftigkeit für mich verloren hat. Ununterbrochen habe ich ein Gefühl der Leere in mir. Ununterbrochen könnte ich weinen. Dazu, Schwindel. Rückenschmerzen. Noch schlimmer als die eigentlichen Schmerzen ist der Gedanke, woher diese kommen. Ich habe Krebs. Natürlich habe ich Krebs. Wieso sonst das unerklärliche Fieber. Diese Schmerzen im Rücken. Das morgendliche Karussellfahren. Ich habe Krebs. Und das wird mir der Doc auch sagen, wenn er anruft. Ich weiß nicht wie lange wir noch so um den Wohnzimmertisch saßen. Irgendwann fragte mein Vater nur: ,,Wollen wir etwas zu Abend essen?“ Und das taten wir dann. Also die anderen. Ich nicht. Ich habe keinen Hunger. Ich habe jetzt seit bestimmt einem Tag nichts gegessen, aber habe keinen Hunger. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal ein Wort gesprochen habe. Ich öffne meine Augen. Blick auf den Wecker. 09:05 Uhr Meine innere Uhr hat noch immer diesen Sportzyklus verinnerlicht. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, wie schön es jetzt wäre, aufzustehen, zu frühstücken und danach joggen zu gehen, ohne dabei pausenlos dieses eine Thema im Kopf zu haben. Krebs. Alles dreht sich für mich im Moment nur noch um die eine Frage, habe ich ihn oder habe ich ihn nicht. Direkt nach dem Aufwachen ist es da und den ganzen Tag mein Begleiter, bis ich wieder einschlafe. In meine Träume ist es zum Glück noch nicht vorgedrungen. Die einzige Zeit, in der ich noch andere Gedanken denken kann. Ich schließe mein Augen wieder, schlafe weiter. Wenn mich meine Mutter ruft, werden wir zum Arzt fahren. ,,Paatrick!“, es ist so weit. Die Fahrt zum Doc kommt mir so lange vor, wie noch nie. Wir sprechen die ganze Zeit nichts. Alle sind mitgekommen, Caro, Mutti, mein Vater und sogar Nik. Letzterer hatte sich noch nicht mal zu dem Thema geäußert. Irgendjemand muss es ihm aber irgendwann gesagt haben, denn vorhin kam er auf mich zu und klopfte mir wortlos auf die Schulter. Ich verstand sofort, was Sache war. Wir sind angekommen. Keine Wartezeit. Es kommt mir vor, als wäre in der Praxis überhaupt kein anderer Mensch außer mir. Trotzdem kommt mir jetzt jede Sekunde vor, wie eine Ewigkeit. Ich kann nicht mehr, ich will es jetzt einfach nur noch wissen. Ja, oder nein. Der Doc kommt ins Zimmer. Sein Gesichtsausdruck, nichtssagend. Er setzt sich, blickt mir in die Augen. Ich habe nur noch das Eine im Kopf. Ich hoffe. Ich hoffe er sagt mir jetzt einfach, es ist alles gut. Dann kann ich wieder genauso weiterleben, wie vorher. Alles dreht sich nur um diese eine Antwort. Sagt er mir, ich habe ihn, ist es aus. Sagt er mir, ich habe ihn nicht, geht mein Leben ganz normal weiter. Es scheint, als hinge alles nur noch davon ab, was er mir jetzt sagt. Dabei macht es eigentlich gar keinen Unterschied. Habe ich ihn, bringt es auch nichts, wenn er mir jetzt das Gegenteil erzählt. Und trotzdem, es bleibt dabei. Ich habe noch Hoffnung. Er wird mir sagen, dass ich gesund bin, wir alle werden uns gegenseitig anlächeln und uns denken: ,,War doch klar!“ Alles wird wieder schön werden und normal weitergehen. ,,Herr Meyer, ich mache es schnell, sie haben Krebs.“ Das wars. Mein Kopf glüht auf einmal, mein Bauch wird leer und fängt an weh zu tun. Ich denke nichts mehr. Wieder verschwimmt alles um mich herum. Dasselbe Gefühl, wie vor ein paar Tagen, nur noch etwas schlimmer. Ich höre nichts mehr. Der Doc redet weiter, ich höre nichts. Fetzen kommen bei mir an. ,,Akut…Chemo…gute Chancen…“ Gute Chancen. Es hört sich positiv an, es fühlt sich aber nicht so an. Ich hatte Hoffnung. Das einzige, was mich in den letzten Tagen vor dem wahnsinnig werden bewahrt hat. Jetzt ist sie weg. Und gute Chancen ändern daran jetzt auch nichts. Ich habe Krebs. Ich werde sterben. Meine Mutter gibt mir im Detail wieder, was der Doktor erklärt hat. Man sollte möglichst schnell mit einer Chemotherapie beginnen. Vorher müssen aber noch andere Untersuchungen gemacht werden. Ultraschall, CT, Röntgen, noch einmal Blut abnehmen. Aber die Chancen stehen gut. Es sei ein riesen Glück gewesen, dass ich wegen der Sportgeschichte den Bluttest gemacht habe. Die Krankheit ist noch nicht weit fortgeschritten. Ich würde bestimmt wieder gesund werden. Ich weiß nicht mehr, woran ich noch glauben soll. Wie wird das jetzt alles ablaufen? Werde ich mich überhaupt noch aus dem Haus bewegen können? Sport machen? Werden mir die Haare ausfallen? Werde ich leben, oder werde ich sterben? Man sollte sich mit zwanzig noch nicht solche Gedanken machen müssen und doch muss ich es. Die Ursachen für die Krankheit, seien unbekannt. Ich verstehe es einfach nicht. Was habe ich falsch gemacht? Warum ausgerechnet ich? Warum nicht irgendein Krimineller, irgendein Mörder, irgendjemand anderes? Warum ich? Es ist mir klar, dass es keinen speziellen Grund dafür gibt, dass ich diese Scheiße bekommen habe. Trotzdem suche ich nach einem. Ich finde keinen. Ich habe immer versucht, niemandem etwas anzutun, habe immer mein Bestes getan, mich fit zu halten, Sport zu machen, zu lernen, etwas aus mir zu machen. Wofür? Dafür, dass ich jetzt sterbe? An Krebs? Mit zwanzig? Die ganzen Fragen scheinen meinen Kopf allmählich zum Platzen zu bringen. Er fühlt sich an, als würde es ihn jeden Moment zerreißen. Ich bin müde. Ich lege mich auf die Couch und schlafe langsam ein. Endlich wieder in die einzige Welt in der ich mir keine Gedanken zu machen brauche. Sanft rüttelt es an meiner Schulter. Ich öffne langsam meine Augen und schaue in vier strahlende Gesichter. Mama, Papa, Caro und Nik. Sie alle stehen vor mir und lächeln mich an. Draußen strahlende Sonne. Das Gefühl von Leere, weg. Ich fühle, dass irgendetwas anders ist. ,,Hmm..was ist los?“, gähne ich der gesammelten Sonnenscheintruppe zu. Das Grinsen aller wird noch ein Stück breiter. Sie schauen sich alle an, fangen an zu kichern. Nicken, blicken wieder zu mir. Meine Mutter fängt an in meine Richtung zu lachen: ,,Patrick, du wir haben tolle Neuigkeiten!“ Tolle Neuigkeiten? Ich muss auch anfangen zu lächeln. Ich weiß selber nicht warum. ,,Der Arzt hat noch einmal angerufen, es war ein Irrtum, die Proben wurden vertauscht. Du hast keinen Krebs, du bist gesund!“ Ich bin gesund? Ich bin gesund! Ich lache los. Alle lachen mit, sogar mein Vater und Nik. Noch nie vorher haben wir alle einfach so zusammen gelacht. Ich stehe auf und nehme alle in den Arm. Ich bin gesund! Alles ist wieder so wie vorher. Die ganzen Sorgen, sind weg. Es ist mir auf einen Schlag völlig egal, was noch vor ein paar Stunden war, oder vor ein paar Tagen. Ich bin gesund und darf weiterleben. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war. ,,Patrick, Paatrick.“ Ich wache auf. Die nächsten Tage sind vollgestopft mit Terminen. Ultraschalluntersuchungen, Röntgenaufnahmen, Computertomografie, Bluttests. Im Akkord werde ich durchgecheckt und durchleuchtet. Soweit ich weiß, können diese Strahlen krebserregend sein. Angeblich kann sogar eine Chemotherapie krebserregend sein. Schon irgendwie ironisch. Aber ich denke nicht großartig darüber nach. Mir ist zur Zeit völlig egal, was diese ganzen Ärzte, Pfleger und Schwestern da mit mir anstellen. Ich denke, sehr viel schlechter kann es ja wohl nicht mehr werden. Erklärt haben sie mir, dass wir jetzt schnell mit der Therapie beginnen müssen. Und immer wieder sagten sie, meine Chancen stünden wirklich gut. Großartig helfen tut mir das nicht. Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, wenn sie in der Lage sind, in der ich mich gerade befinde. Vermutlich beschissen. Bei mir ist es jedenfalls so. Wirklich verrückt macht mich vor Allem die Tatsache, dass ich eine lebensgefährliche Krankheit in mir habe, aber nichts dagegen tun kann. Und auch eigentlich nicht wirklich etwas davon merke. Diese Müdigkeit, die Rückenschmerzen, alles Dinge, die ich im Alltag einfach versuchen würde auszublenden. Nie wäre ich darauf gekommen, dass es Vorzeichen einer solchen Sache sind. So sehr ich diesen Sporttest auch verflucht habe, vielleicht hat er mir das Leben gerettet. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls hat er meine Chancen zu überleben deutlich verbessert. Bei jedem meiner Termine ist Caro an meiner Seite. Sie hasst Arztpraxen, Krankenhäuser, sie hasst Bakterien. Und trotzdem ist sie bei all diesen Terminen dabei. Mir werden in diesen Tagen unzählige Flyer in die Hände gedrückt. Leukämie Hilfe, Selbsthilfegruppen, Stiftungen und so weiter. Alles Zeug, auf das ich gerne verzichten kann. Ich möchte die Sache loswerden und nicht Mitglied in Gruppen werden, die sich eben dieses als Hauptthematik vornehmen. Ich brauche auch keine Selbsthilfegruppen. Ich habe meine Familie und meine Freundin. Daran kann ich mich festhalten. Die geben mir Hilfe und Halt wenn ich es brauche. Ich denke nicht, dass ich es ohne sie schaffen würde. Geschweige denn die letzten Tage überstanden hätte. In solchen Gruppen sitzen wahrscheinlich Menschen, die mit ihrem Leben schon abgeschlossen haben oder zumindest tief depressiv sind. Und soweit bin ich noch nicht. Meistens jedenfalls. Immer wieder gibt es Momente, in denen ich darüber nachdenke, was wohl passiert, wenn es nicht so ausgeht, wie mir von allen Seiten prophezeit wird. Wenn gute Chancen eben doch nicht ausreichen. Wenn ich sterbe. Zum Glück sind diese Momente tagsüber mittlerweile schon seltener geworden. Caro lässt mich nicht allein. Bemuttert mich, als hätte ich eine Erkältung. Und so fühle ich mich dann auch. Gerne. Einfach eine Erkältung, die etwas länger dauert als normalerweise. Abends wird es dann schlimmer. Einschlafen dauert lange, wenn es denn überhaupt funktioniert. Dabei hat noch nicht einmal die Chemo begonnen. Auf der einen Seite bin ich froh darüber. Man muss nur mal einen Blick ins Internet werfen, was man da unter ,,Nebenwirkungen Chemotherapie“ alles findet. Weit über eine halbe Million Ergebnisse werden einem da angezeigt. Das verheißt nichts Gutes. Auf der anderen Seite habe ich einfach Angst. Angst, dass jede Minute, in der nichts gegen diesen Mist unternommen wird, eine Minute zu viel ist. Ich versuche mir dann immer einzureden, dass die Ärzte schon wissen werden, wie so etwas gemacht werden muss. Funktionieren tut das aber nur selten. Ich kann meiner Situation schlichtweg nichts Positives abgewinnen. Abgesehen von denen, die mich unterstützen. Mich haben in den letzten Tagen Menschen angerufen, von denen ich nicht mal mehr wusste, wer sie sind. Frage mich nur, woher die wissen, dass ich Krebs habe. Egal, es hilft. Es ist absurd, aber mir kommt es so vor, dass je mehr Leute mir irgendwie zu Seite stehen, meine Chancen, das hier zu überstehen, umso besser werden. Ich weiß, es ist Blödsinn, aber doch, es hilft. Für morgen ist mein erster Chemotermin angesetzt. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, was auf mich zukommen wird. Ich will es auch überhaupt nicht wissen.

 
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