Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau

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Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau
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Прощай, ублюдок!

Auf Wiedersehen, Bastard!

Tino Hemmann

AUF WIEDERSEHEN, BASTARD! (2)

Прощай, ублюдок! (Proshchay, ublyudok!)

Die Stimmen von Moskau

Thriller

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Bis auf die historisch erwiesenen Tatsachen sind alle

Ereignisse und Personen in diesem Buch frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit Geschehnissen und Personen unserer realen Welt wäre daher zufällig und unbeabsichtigt.

Die Ausführungen zum Klicksonar beruhen auf den Erkenntnissen von Mel Goodale, Leiter des »Centre for Brain and Mind« an der University of Western Ontario in London, Canada.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Cover: Tino Hemmann unter Verwendung der Fotos von

(Junge) © laurent hamels - Fotolia.com und

(Mann) © Alexander Trinitatov - Fotolia.com

Lektorat: Birgit Rentz - www.fehlerjaegerin.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

www.tino-hemmann.de

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

ISBN 9783954888993

Inhalt

Cover

Titel

Copyright

Moskau 12. April

Leipzig 12. April

Moskau 13. April

Leipzig 14. April

Moskau 14. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Leipzig 16. April

Podol’sk 16. April

Moskau 16. April

Nähe Podol’sk 16. April

Leipzig 16. April

Moskau 16. April

Südlich von Moskau 16. April

Moskau 16. April

Südlich von Moskau 16. April

Podol’sk 16. April

Moskau 16. April

Leipzig 16. April

Podol’sk 16. April

Moskau 16. April

Podol’sk 16. April

Leipzig 17. April

Moskau 17. April

St. Petersburg 17. April

Moskau 17. April

Moskau 21. April

Leipzig 22. April

Epilog 7. November

Moskau 12. April

Der Präsidentenberater beobachtete unablässig die ästhetischen, wohlgeformten Rundungen der Tänzer, der Präsident hingegen die mitgehenden, fetten Lippen – stetig befeuchtet durch kurzes Lecken mit der Zunge – seines Beraters.

Die Männer auf der Bühne trugen eng anliegende, weiße Leggings, bewegten sich mit femininer Grazie, freien, muskulösen Oberkörpern und äußerst parallelen Schritten auf eine Horde räudig dreinschauender Kosaken zu, die ihre Kunststoffschwerter mit lautem Hurra-Gebrüll zückten und mit stampfendem Gepolter einen gleichfalls synchronen Ausfallschritt hin zu den ansehnlichen und großen Jünglingen machten. Die Widersacher der Kosaken, jene hellen Burschen, deren klare Silhouetten einer sportlichen Körpersymmetrie – bestehend aus runden Popos und gewaltig wirkenden Genitalien unter den glänzenden Strumpfhosen – keineswegs furchteinflößend wirkten, antworteten mit mehreren »Assemblés« – einstudierten geschlossenen Sprüngen, wobei ein Bein während des Sprunges ein »Grand battement jeté« vollführte –, so dass das jeweilige Spielbein der Tänzer mit kräftigem Schwung so hoch wie möglich nach vorn, zur Seite oder auch nach hinten geworfen wurde. Gleichzeitig erklangen ihre Stimmen – begleitet von einem äußerst perfekt spielenden Orchester – in höchsten Tonlagen, erst leise, dann immer lauter, russisch klagend und heulend: »Hinweg, ihr Barbaren!« Sie liefen sogleich in sauberen Baskenschritten zu einem Halbkreis auf und näherten sich mit unglaublich hohen und absolut synchronen Sprüngen und einer leichten Vorwärtsbewegung – dem sogenannten »Soubresaut« – den Kosaken, wobei die Oberkörper stark in eine Rücklage gebogen und die Beine zusammengehalten nach hinten gestreckt wurden. Als sie synchron auf den lärmenden Bühnenbrettern landeten, ertönte der letzte, nachhallende Akkord aus ihren Kehlen, ebenso wie der letzte des Orchesters, die Kosaken ließen die Schwerter fallen und rannten davon, der Dirigent – ein alter, erfahrener Zausbart – fiel mit einem gewaltigen Körperschwung fast von seinem Podest und so ziemlich allen Besuchern des ausverkauften Bolschoi-Theaters standen die Haare wie elektrisiert zu Berge.

All das bis zu diesem Zeitpunkt unterdrückte aufkeimende Hüsteln der Zuschauer wurde sogleich von tobendem und rasendem Beifall übertönt. Die international gemischte Menge erhob sich aus den bequemen Sitzen und krakeelte »Bravissimo!«-Rufe, während der kleingewachsene Dirigent zum wiederholten Male die Untergebenen zwang, sich tief vor der Masse zu verbeugen, indem er die Spitze seiner Taktstockwaffe von links nach rechts fahren ließ, so als wollte er damit die pompöse Bühnendekoration zerschneiden. Diese Koryphäe des Opern-Genres schien sich längst in tropfenden und kriechenden Kolonnen eigenen Schweißes aufzulösen. Der Dirigent lächelte dauerhaft und nahm die Hochachtung des Publikums angesichts der eigenen Leistung gern entgegen – ein Hasardeur am Ziel all seiner Wünsche! Wenigstens bis zur nächsten Aufführung, denn er dachte wahrscheinlich bereits an kleine Lappalien der Untergebenen, die es bis zur folgenden Darbietung dringend zu korrigieren galt.

*

Während der Beifall noch rauschte, verließ der Präsident in Begleitung von acht Sicherheitsleuten die mit roten Samtstoffen ausgestattete und reichlich mit Blattgold verzierte Loge und wurde, wie nach jeder Uraufführung, in einen abgeschirmten und bestens gesicherten Raum geführt, in dem er schon bald mit den Ensemble-Chefs zusammentreffen sollte. Dem Präsidenten der Russischen Föderation wurde von einem steif wirkenden Diener Sekt gereicht. Prophylaktisch nahm er das Glas an, nippte daran und näherte sich mit zwei kurzen Schritten der korpulent-massiven Gestalt des Boris Jewgenij Jerchow, seinem engen, fünfundfünfzigjährigen Berater in Sicherheitsfragen, der sogleich einer alten, russisch-unorthodox-bunt geschminkten Dame den Rücken zukehrte und sich seinem Arbeitgeber zuwandte.

»Und, Herr Präsident, hat es gefallen?«, begann Jerchow, um zunächst die Laune seines Präsidenten abzuklopfen.

»Todlangweilig, wie immer.« Die schmächtige Figur des Präsidenten fuhr herum und betrachtete den vergoldeten Gipsschädel eines früheren Ballettchefs des Moskauer Bolschoi-Theaters. »Und dir?«

 

»Die Balletttruppe ist einmalig. Wunderbare Tänzer. Immerhin sind sie ein Aushängeschild unserer Föderation.«

Grinsend tätschelte der Präsident die Skulptur. »Mag sein, Boris Jewgenij.« Er nahm seine Hand von der Skulptur, trat an einen Tisch und stellte sein fast jungfräuliches Sektglas dicht an die Kante. »Doch ... soviel ich weiß, wurde dem letzten Ballettchef ein Fläschchen scharfer Säure ins Gesicht gekippt. Was muss ich davon nur halten?«

»Es soll ein Kampf um seinen Posten gewesen sein«, erklärte Jerchow kleinlaut, der dem Präsidenten gehorsam hinterherschlich. »Und es ist wirklich schade um das Gesicht eines anmutigen und weltbesten Tänzers.«

»Nun was? Ich bin das Aushängeschild dieser Nation. Keineswegs er.« Mehr fiel dem Präsidenten dazu nicht ein und so wechselte er urplötzlich das Thema. Sehr zum Erstaunen des Beraters gab er den Namen »Wolkowa« von sich.

»Wolkowa?« Jerchow errötete unübersehbar derb. »Wie bitte?«

Die verächtlichen Blicke des Präsidenten trafen den Berater. »Jekaterina Ruslanowna Wolkowa. Wer ist das?«

Jerchow zögerte die Antwort hinaus. Zunächst musste er in Erfahrung bringen, was der Präsident tatsächlich wusste. »Keine Ahnung«, sprach er und schaute sich Hilfe suchend um. Hilfe wurde ihm jedoch nicht gewährt. »Dieser Name sagt mir gar nichts.«

Der Ballettchef betrat den Raum, in seinem Tross folgten der Chorleiter und der Dirigent.

»Du kannst jeden Idioten belügen. Doch solltest du es dringlich vermeiden, mich als Idioten anzusehen. Nikita Schirjajew hat uns informiert und zunächst dafür gesorgt, dass der Bericht nicht in den Zeitungen auftaucht. Doch lange werden unsere sensationssüchtigen Medien-Gurus derartig imposante Dinge nicht verdeckt halten wollen. Um die Regierung sauber zu waschen, mein lieber Boris Jewgenij, wird ein kleines Fläschlein Säure mit Sicherheit nicht ausreichen.« Er hob die Arme und verlieh seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln. »Also bring das schleunigst in Ordnung!«, zischte er, schritt auf den Ballettchef des Bolschoi-Theaters zu und rief unüberhörbar laut: »Mein lieber Ilja! Wieder einmal kennt meine Begeisterung keine Grenzen! Was war das nur für eine geniale Aufführung, mein Bester! Woher nimmst du nur all die Kraft angesichts einer solchen Leistung des Ensembles?« Er schielte auf die anwesenden Journalisten. »Um es in druckreife Worte zu fassen: Ich sah einen beispiellosen Spitzentanz, athletische Sprungkraft und solch streng synchrone Bewegungen, dass sich unser Militär eine große Scheibe davon abschneiden sollte. Bravo, mein Lieber, bravo! Einfach entzückend!«

Berater Jerchow versteckte derweil die zitternden Hände in den Hosentaschen und versank in unangenehmen Gedanken. Was hatte Nikita Schirjajew, der Redakteur der Moskowskie Nowosti, dem Moskauer Nachrichtenblatt, mit der Wolkowa zu tun? Sollte die Wolkowa, diese dreckige Schlampe, ihre Drohung wahr gemacht haben? Eines war Jerchow völlig klar: Würden die Abtrünnigen von der Novaya Gazeta, der regierungskritischen Neuen Zeitung, von seinem Fehltritt erfahren, dann würde ihm auch Gottes Gnade nicht mehr helfen. Gedankenfetzen schmerzten im kahlköpfigen Schädel des Beraters und er beschloss, in die Person Schirjajew zu investieren. Jeder wusste, dass dieser Redakteur kleinen und großen Geldgeschenken aufgeschlossen gegenüberstand.

Es war vor etlichen Monaten geschehen. Und noch immer war das Gras nicht in der Lage gewesen, über diese dumme Sache zu wachsen. Welch ein Schrecken ohne Ende! Hätte er der Wolkowa gleich die Kehle durchschneiden lassen, wäre alles längst gut.

An jenem Abend hatte sich Jerchow volllaufen lassen, wohl wissend, dass der Tag erledigt war. Im Komanebel erreichte Jerchow dennoch ein Anruf aus dem Kreml. Eine eskalierende Problemsituation! Präsidentenberater Jerchow war dermaßen besoffen, dass er es unterließ, den Fahrer vom Sicherheitsdienst herbeizurufen. Er bestieg seinen Mercedes und fuhr selbst, wenn man das, was er tat, überhaupt Fahren nennen durfte. Erinnerungen an diese Fahrt gab es für ihn keine, lediglich die Berichte dritter Personen.

Jedenfalls kollidierte er auf der Gegenspur der Moskauer Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee frontal mit einem fremden Fahrzeug, trug selbst nur weniger bedeutsame Kratzer davon und schlief nachfolgend im Krankenhaus in erster Linie den Rausch aus. Der Fahrer des anderen Wagens jedoch war sofort tot – ein unbedeutender Arbeiter aus dem Moskauer Stadtteil Tushino namens Jurij Jewstignejewitsch Wolkow. Einer von jährlich achthundert Verkehrstoten in Moskau. Dummerweise war der Dreißigjährige verheiratet und hatte seiner Frau Jekaterina Ruslanowna Wolkowa zwei Kinder gemacht. Und diese Frau wurde unmittelbar nach der Kollision von einem völlig verblödeten Polizisten davon überzeugt, ihn, den Berater des Präsidenten, anzuzeigen! Und das, obwohl sie sich bei dem Unfall selbst gerade mal ein Handgelenk gebrochen hatte. Ihre Kinder weilten zum Glück nicht im Unfallfahrzeug.

Viele Valutascheine mussten in fremde Taschen wandern, bis die Anzeige endlich vom Tisch war und sich niemand mehr an den Unfallablauf erinnern konnte. Das größte Problem, die Wolkowa, musste separat überzeugt werden. Er ließ fortan monatlich einige Spesengelder auf deren Konto umleiten, so dass es ihn nicht sonderlich traf. Doch im Februar, vor zwei Monaten, waren seine Inlandskonten geprüft worden und die Quelle war aus steuerrechtlichen Belangen versiegt. Die Frau sollte sich angeblich drohend bei ihm gemeldet haben, jedoch interessierten deren Probleme einen Mann von Jerchows Rang nur peripher.

Und nun? Würde tatsächlich ein Zeitungsbericht erscheinen, könnte der Präsident ihn abstürzen lassen, es wäre im unangenehmsten aller Fälle durchaus denkbar, dass man ihm gar den Prozess machen würde. Eines war gewiss: Hin und wieder gaukelte die Regierung dem Volk ein wenig Gerechtigkeit vor, versuchte dies zumindest, um andere Dinge in den Hintergrund zu drücken. Freiwillige Bauernopfer waren daher gern gesehen.

Erinnerungen in Form von Zeitungsbildern vom säurezerfressenem Gesicht des Ballettchefs des Moskauer Bolschoi-Theaters tauchten in Jerchows Gehirnwindungen auf. Unangenehme Bilder.

*

Jerchow wohnte mit seiner Frau Olga Timurowna Jerchowa und dem jüngsten, dem zweiundzwanzigjährigen Kronprinzen namens Ignatij in einer Luxusvilla an der Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee, ein paar Villen von einem der Häuser des Präsidenten entfernt. Die anderen beiden Kinder, zwei Mädchen, verdingten sich in lukrativen, staatsnahen Berufen und lebten längst mit ihren Familien in eigenen Häusern. Neben einem Gärtner beschäftigte Jerchow mehrere Mitarbeiter einer Reinigungsfirma und etliche private Sicherheitsleute, von denen zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens drei auf dem Grundstück weilten. Besonders abgesichert war ein Raum im Keller der Villa, der einerseits als Panic-Room herhalten konnte, gegenwärtig jedoch zur Aufbewahrung seiner umfangreichen Sammlung von Goldmünzen diente.

Der Hausherr stand – noch immer in Arbeitskleidung, einem noblen, eigens für ihn angefertigten Anzug – im großen, nach westlichem Standard eingerichteten Wohnraum im unteren Geschoss, hatte der Gattin soeben einen Kuss auf die Wange gegeben und nahm nun das Haustelefon zur Hand. »Kostja?«, brummte seine tiefe Stimme. »In mein Büro! Sofort!« Er legte das Telefon zur Seite und gab der Frau an der Küchenzeile zu verstehen: »Ich will jetzt nicht gestört werden.«

Die sichtlich angetrunkene Jerchowa nickte ihm lächelnd nach, während er das Büro betrat, das anfänglich als Fernsehzimmer gedacht gewesen war und einen separaten Ausgang zur Gartenterrasse besaß. Vor dieser Echtholztür stand bereits der bullige Konstantin Bobrow, ein zweiundzwanzigjähriges Milchgesicht, einen Meter vierundsiebzig groß, mit einem durchaus ansehnlichen, künstlich gebräunten Kämpferkörper versehen.

Mit seinem typischen, nichtssagenden Lächeln öffnete Jerchow die Tür, nachdem er die elektronische Sicherung abgestellt hatte. »Komm rein, Kostja.« Während sich der Hausherr in einem urig bequemen Drehsessel an seinem Schreibtisch niederließ und auf den davor stehenden Holzstuhl zeigte, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht.

Konstantin Bobrow hing ein Kabel aus dem linken Ohr und seine Jackettjacke war nicht nur von Muskeln ausgebeult. Der junge Mann gehörte bereits seit Jahren zur Familie Jerchow. Er war mit vierzehn zum ersten Mal mit seinem Bruder aufgetaucht, der bis vor sechs Jahren zum Sicherheitspersonal gehört hatte und bei einer Schießerei getötet worden war. Auch Olga Jerchowa hegte mütterliche Gefühle für den Jungen, der schon damals eine außergewöhnlich muskulöse Statur besessen und in einem Trainingszentrum Moskaus als Kind und Jugendlicher Medaillen im Gewichtheben gesammelt hatte.

Jetzt aber saß der Junge auf dem unbequemen Holzstuhl und wartete.

Jerchow wischte sich mit einem Taschentuch Schweiß vom Schädel. »Was ich jetzt sage, ist nur für vier Ohren bestimmt. Hast du mich verstanden, Kostja?« Seine dicken Wangen wackelten.

Der Junge nickte und sprach: »Selbstverständlich, Mister Jerchow.« Konstantin Bobrow war von Jerchow zu keinem Zeitpunkt das Du angeboten worden. Es hatte sich eingebürgert, dass der Berater von seinen Untergebenen mit »Mister« und nicht – wie gewöhnlich – mit »Gospodin« angesprochen wurde. Jerchow hingegen duzte all seine gut bezahlten Haussklaven.

Trotz seiner kurzen, dicken Finger nahm Jerchow geschickt einen Notizzettel zur Hand, dazu einen Bleistift, und schrieb den Namen »Jekaterina Wolkowa« und eine Adresse im Stadtteil Tushino auf den Zettel, den er anschließend – zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand – zwei Zentimeter über der Tischplatte in Bobrows Richtung hielt. »Dieses unwürdige Weib verbreitet böse Dinge über meine Person. Ich will, dass sie damit aufhört. Sie muss eingeschüchtert werden. Nimm den Zettel und pass darauf auf!«

Bobrow erhob sich und griff nach dem kleinen Blatt Papier. Im gleichen Moment hielt Jerchow dessen rechtes Handgelenk fest, der junge und deutlich stärkere Mann wehrte sich jedoch nicht dagegen.

»Nur einschüchtern. Hast du mich verstanden, Kostja? Und sollten weitergehende Maßnahmen notwendig sein, muss es wie ein tragischer Unfall aussehen.«

Erneut nickte Bobrow. »Selbstverständlich, Mister Jerchow.«

»Noch etwas: Du machst für heute Abend einen Termin mit Nikita Schirjajew von der Moskowskie Nowosti und übergibst ihm das hier. So, wie es ist.« Mit der rechten Hand zog er ein dickes, verschlossenes Kuvert aus der inneren Jacketttasche und legte es auf seinen Schreibtisch. »Ich vertraue dir. Das ist viel Geld. Schirjajew wird dir dafür drei Seiten aus seinem Notizbuch geben, die du vor seinen Augen verbrennst. Hast du alles verstanden, Kostja?«

Bobrow schaute nicht auf den Umschlag, sondern in Jerchows Augen. »Selbstverständlich, Mister Jerchow«, sagte er erneut.

Jerchow ließ das Handgelenk los und tätschelte liebevoll den Handrücken des jungen Mannes. »Du bist ein guter Junge, Kostja. – Geh jetzt! Ich verlass mich auf dich. Auch deine Zukunft hängt davon ab.«

Kurz darauf verriegelte der Hausherr die Außentür. Er trat an die üppig ausgestattete Bar, goss sich einen Whisky ein und trank das Glas in einem Zug leer. Mehrmals fuhr er sich mit der Hand durch die Frisur, als wäre er sich der eigenen Entscheidungen nicht mehr sicher.

Nach einem Klopfen betrat Ignatij Jerchow den Raum. Er studierte Politwissenschaften und sollte eines Tages in die Fußstapfen des Vaters treten. Doch war der Junge – entgegen den Erwartungen des Vaters – recht weltfremd. Er hatte völlig andere Interessen, gehörte als Bassist und Sänger einer studentischen Rockband an und vernachlässigte das Studium, wann immer es ging.

»Papa?«, fragte der Junge.

Jerchow ahnte, worauf der Besuch hinauslaufen würde. »Was willst du, Ignascha?«

»Morgen findet eine wichtige Feier statt. Und ich bin völlig pleite. Könntest du ...?« Der Junge lächelte.

Jerchows Reaktion zauberte das Lächeln aus Ignatijs Gesicht. Der Vater griff ihm derb an den Hals und sein Daumen drückte schmerzhaft und unangenehm auf Ignatijs Gurgel. Aus Jerchows Mund zischte es: »Gerade eben habe ich fünfhunderttausend Euro in unsere Zukunft investiert. Auch für dich, Ignat. Also such dir gefälligst einen bezahlten Job, wenn du mit dem Studium nicht fertig wirst. – Meine Antwort lautet: Nein!« Erst jetzt lockerte er den Griff.

Der nach Luft schnappende Junge brachte kein Wort heraus, röchelte nur und warf, während er rückwärts zur Tür ging und sich den Hals rieb, dem Vater einen hasserfüllten Blick zu.

 

»V sem’ye ne bez uroda!«, rief Jerchow dem Jungen höhnisch nach, bevor die Tür zuschlug. »Das Sprichwort bewahrheitet sich leider immer wieder«, flüsterte er.

Keine Familie ohne Missgeburt.

Leipzig 12. April

Fedor, der vierzehnjährige Sohn von Anatolij Sorokin, saß still vor seinem Personalcomputer, die Ohrstöpsel in den Ohren, und lauschte der Stimme seiner Mutter. Die Lippen des Jungen bewegten sich, als würde er jedes Wort selbst sprechen, das in seinen Ohren erklang. Längst kannte er das Gesagte auswendig.

»Tolik? Hier ist Galina. Was sag ich nur, du hast es längst bemerkt. Also ... Ich hoffe, du findest den Stick nie. Du sollst ihn nur dann finden, wenn mir etwas zustößt. Ich wollte dich nicht zusätzlich belasten, doch irgendwie ... Es ist Wladislaw Komsomolzev. Er betrügt den Betrieb und die Föderation. Er zweigt Unmengen von Platin ab. Ich weiß von Beginn an davon. Viele wissen davon, doch niemand macht den Mund auf. Ich habe heute mit Moskau gesprochen, es war so ein Typ von der Regierung. Sein Name ist Boris Jerchow. Mein Gott, ich habe ihm alles berichtet, was ich weiß! Und jetzt, jetzt habe ich das Gefühl, dieser Jerchow steckt in der ganzen Korruption mit drin. Ich habe Angst – um dich. Und ich habe Angst um mein Baby. Meine Kollegen aus Abteilung 3, die bei diesem obskuren Unfall vergangene Woche starben ... ich glaube, sie wurden alle ermordet. Ich habe so schreckliche Angst! – Bitte, Tolik, also ... also wenn mir etwas zustößt, dann verlasst bitte, bitte dieses Land. Du und unser Baby. Räche dich nicht, mach auf keinen Fall diesen Fehler! Du darfst dich niemals auf deren Niveau herablassen. Es sind herzlose, geldgierige Giganten. Es sind gottlose Tiere. Bitte hör auf mich. Tust du das, Tolik? Und gib meinem Zuckernäschen jeden Tag Küsse von mir. Versprich es! Ich ... ich liebe euch so sehr.« Ein Weinen war zu hören und brach ganz plötzlich ab.

Eine Erschütterung ging durch den Körper des Jungen, der seine Mutter nie wirklich kennengelernt hatte, denn sie war vor knapp vierzehn Jahren in Magnitogorsk heimtückisch ermordet worden. Die Tonaufnahme mit ihrer Stimme war die einzig verbliebene Erinnerung. Sein Vater – damals Angehöriger einer OMON-Spezialeinheit, auch bekannt unter dem Namen »Schwarze Barette«, und heute fest in einem SEK der Polizei in Deutschland integriert – war mit Baby Fedor aus Magnitogorsk in die Bundesrepublik geflüchtet, denn niemand hatte den Mord an seiner Frau Galina Andrejewna tatsächlich aufklären wollen. Eine korrupte Gruppe des Metallurgiewerkes in Magnitogorsk verschleierte den Fund großer Mengen gediegenen Platins und bereicherte sich daran. Involviert waren über verschiedene Wege Iwan Solowjow, der wegen seiner Loyalität gegenüber Mütterchen Russland für immer verschwand, zuvor Direktor des halbstaatlichen Unternehmens Russkoye Gorno-Promysh-lennaya Kompaniya war, in dem Galina Sorokina bis zur Jahrtausendwende arbeitete und schließlich ums Leben kam. Dann gab es diesen Wladislaw Komsomolzev. Der war der Vater von Alexander Komsomolzev, einem Schulfreund von Galina und Anatolij Sorokin. Ein knappes Jahr zuvor hatte Alexander, der meist Sascha gerufen wurde und mittlerweile beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB beschäftigt war, dafür Sorge getragen, dass Sorokin, dessen Codename »Ameise« lautete, den Vater Wladislaw in Magnitogorsk vernichten konnte. Anatolij Sorokin wurde nicht verfolgt, der Einfluss von Alexander reichte dazu aus. Die gleichsam in das Platin-Projekt involvierte Valeria Solowjowa – Ehefrau des ehemaligen Direktors von RGPK Magnitogorsk oder zu Deutsch »Russische Montanindustrielle Gesellschaft Magnitogorsk« – ließ Sorokin leben. Die alte Lady erzählte ihm damals von all den unglaublichen Dingen, von denen er bis dahin nur eine vage Ahnung gehabt hatte.

»... Und dann, als sie diese neuen Bohrkerne eingeführt hatten«, erklärte sie, »fand Galina Andrejewna im Kern gediegenes Platin mit einem unglaublichen Marktwert. Mein Gatte und auch Wladislaw erfuhren zuerst davon. Das Vorkommen schien gigantisch, größer als jedes bislang bekannte Platinvorkommen der Welt. Mein Gatte wollte den Fund sogleich nach Moskau melden, doch Wladislaw hielt ihn zunächst davon ab. Auch machte er Galina Andrejewna klar, dass sie mit absolut niemandem über den Fund zu reden habe. Sie erzählte allerdings ihrer gesamten Abteilung 3 davon, zudem sprach sie dem Direktor ins Gewissen, der schließlich in der gleichen Nacht den spektakulären Fund nach Moskau meldete. Dort nahm Boris Jerchow, schon damals enger Berater des Präsidenten, die Meldung entgegen und erklärte den Fund zum Staatsgeheimnis. Am nächsten Tag war er bereits vor Ort und bestellte Wladislaw Komsomolzev, meinen Gatten Direktor Iwan Solowjow, Galina Andrejewna Sorokina und mich zum Rapport. Ihm war längst klar, dass mein Mann mit mir über diesen Fund geredet hatte, zudem überwachte ich damals die gesamte Logistik der Russkoye Gorno-Promyshlennaya Kompaniya. Es kam zu einem heftigen Disput und es bildeten sich klare Fronten. Auf der einen Seite deine Frau und der Direktor, auf der anderen die restlichen Beteiligten, ich irgendwo in der Mitte. Am gleichen Abend kam es zu einem weiteren Treffen in der alten Wohnung von Wladislaw Komsomolzev, allerdings ohne deine Galina, jedoch mit Grigorij Schurawljow aus der Abteilung 3, der fortan in speziellem Lohn und Brot von Wladislaw Komsomolzev stand. Bei jenem Treffen in der alten Wohnung von Wladislaw Komsomolzev kamen erstmalig auch Waffen ins Spiel, denn Wladislaw hatte seinen Geheimdienstsohn Alexander beauftragt, mich und meinen Gatten auf das Ärgste einzuschüchtern. Der hörige Sohn brachte das ganz gut. Seit jener Nacht habe ich in Furcht gelebt – bis zum heutigen Tage. Ich liebte meinen Gatten zeit seines Lebens, das ist die reine Wahrheit. Am Morgen des nächsten Tages entschied er, das Spiel mitzuspielen. Platin wurde gefördert und an den Büchern vorbei deutlich unter dem Weltmarktpreis an gut zahlende Abnehmer verkauft. Bezahlt wurde in Dollar über Banken der merkwürdigsten Inselstaaten, die man sich nur vorstellen kann, von dort wurden offiziell hochwertige Waren, Grundstücke, Betriebsanteile, Gold, Aktien und auch wieder Platin gekauft. Das Geld also wurde reingewaschen. Boris Jerchow übernahm das Heft des Handelns, war aber wieder meistens in Moskau. Projektverantwortlicher wurde Wladislaw Komsomolzev. Bald schon schwieg sich herum, dass einige der Mitarbeiter der Abteilung 3 mehr wussten, als es Wladislaw Komsomolzev lieb war. Erst Jahre später erfuhr ich über meinen Gatten von diesen Vorkommnissen im Jahr 2000. Wladislaw hatte eine OMON-Einheit unter Kontrolle, die den Auftrag erhielt, diese Mitarbeiter zu eliminieren. Dazu holte er seinen Sohn aus Moskau, der damals im seit 1995 bestehenden FSB Blut geleckt hatte. Sie nannten das Projekt Platinovaya Solovey, warum auch immer. Dieser Name entsprang der Fantasie von Wladislaw. Auf einer Kontrollfahrt in den Bergen verschwand die Gruppentransportraupe der Abteilung 3 mit vier Besatzungsmitgliedern und einem Fahrer. Es hieß, sie sei in einen unerreichbaren Abgrund gestürzt. Obwohl sie die Anweisung dazu gehabt hatte, nahm Galina Andrejewna an dem tödlichen Ausflug nicht teil. Wladislaw beauftragte seinen Sohn, sich um die junge Frau zu kümmern. Doch Alexander verweigerte den Befehl des Vaters – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben. Wladislaw soll gesagt haben, dass er seinem Sohn das riesige Erbe vorenthalten würde, wenn er sich lächerlich und nicht die Finger schmutzig machte. Er selbst bestach mit zwei Flaschen billigen Wodkas den stadtbekannten Säufer Gawriil Gennadij Gromow, einen Kran zu bedienen, zeigte ihm, wo der Container hängen müsste und auf welches Zeichen Gawriil Gennadij die Kette lösen sollte. Gemeinsam mit Grigorij Schurawljow, dem Galina maßlos vertraute, holte Wladislaw deine Frau aus der Abteilung und führte sie durch den Betrieb. Wie geplant, kam es dann zu jenem tödlichen Unfall.«

Sorokins Rache konnte angesichts dieser Erkenntnisse nur deshalb auf fruchtbaren Magnitogorsker Boden stoßen, weil er von seinem früheren Freund Sascha unterstützt wurde, der – im Auftrag seines korrupten Vaters – Fedor, den damals dreizehnjährigen Sohn der Ameise, in Moskau ent-führen sollte, Sorokin hatte ihn bei einer Frau und Zufallsbekanntschaft namens Jekaterina Ruslanowna Wolkowa im Stadtteil Tushino versteckt.

Komsomolzev und Sorokin – Sascha und Tolik – die in ihrer Kindheit zusammen mit Galina ein Magnitogorsker Dreamteam gebildet hatten, wurden erneut gute Freunde, wenngleich sie sich nach den extremen Ereignissen nur noch im Internet begegneten.

Der blinde Junge Fedor hingegen behielt nach seiner Rückkehr nach Deutschland Jekaterina Wolkowa, die er Katie nannte, in bester Erinnerung, denn die sah seiner Mutter Galina angeblich nicht nur ähnlich, sie war auch gegenüber Fedor sofort in eine mütterliche Beschützerrolle geschlüpft.

Die Ereignisse im Juni des vergangenen Jahres waren jedoch in Leipzig ausgelöst worden, als der wohlhabende Russe Sergei Michailowitsch Smirnow wegen familiärer Probleme den eigenen Sohn und dessen Kindermädchen hinrichten ließ. Fedors Nase führte schnell zum Auftrags-Mörder, der kein anderer war als der Vater von Fedors Freundin Laura Sonberg. Dieser Frank Sonberg und sein Komplize Grollmann wurden auf der Flucht aus Deutschland dingfest gemacht. Die Beweislast war erdrückend, Sonberg wurde zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Grollmann hingegen erhielt eine deutlich kürzere Strafe wegen Beihilfe zu mehrfachem Mord, eine direkte Tatbeteiligung konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden. Sergei Michailowitsch Smirnow wurde in Moskau von einem Killer, angeblich im Auftrag seiner geschiedenen Frau, was nie bewiesen werden konnte, erschossen.

Fedor erhielt angesichts der Moskauer Ereignisse seelischen Beistand, bezahlt von der deutschen Krankenkasse. Diese psychologische Hilfe blieb im folgenden Januar jedoch aus, als sie tatsächlich notwendig gewesen wäre, da zu diesem Zeitpunkt Laura und ihre Mutter in ein unbekanntes Land umsiedelten. Die Furcht vor einer vorzeitigen Haftentlassung des »Schlächters von Leipzig«, wie Lauras Vater von den deutschen Medien betitelt wurde, wog schlussendlich über Heimatliebe und bestehende Freundschaften.