Buch lesen: «Bob Marley - Catch a Fire»
Aus dem Amerikanischen von
Teja Schwaner und Roland M. Hahn
Widmung
Für Judy
Impressum
8. Auflage 2015
Titel der Originalausgabe: »Catch a Fire – The Life of Bob Marley«
Copyright © 1983, 1989, 1991, 1992 by Timothy White
Published by Henry Holt and Company, New York
Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe
KOCH International GmbH, Hannibal Verlag, A-6604 Höfen
Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com
Titelfoto: Island/Ariola
ISBN 978-3-85445-465-6
Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-077-1
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Inhalt
Vorwort
Riddim Track – Eine Einführung
Kingdom Come
Misty Morning
Bad Card
Bildstrecke 1
Pass It On
Small Axe
Who Feels It, Knows It
People Get Ready
Natural Mystic
Bildstrecke 2
Stir It Up
Rat Race
Coming In From The Cold
Crisis
Who The Cap Fit
Redemption Song
Bildstrecke 3
Exodus
Time Will Tell – Ein Wort danach
Danksagung
Diskographie
Bibliographie
Das könnte Sie interessieren
Dieses Buch lässt sich auf atmosphärische Weise von dem Zusammenfluss der Glaubenssysteme tragen, die Bob Marley prägten. Es geht davon aus, dass sich die Geschichte so zugetragen hat, wie ich sie aufgezeichnet habe, wenn all das, was mir von den Menschen, die Marley am nächsten standen, nüchtern berichtet worden ist, auch stimmt. Es finden sich keine konstruierten Fakten auf diesen Seiten. Ich habe existierende Dokumente und Aufzeichnungen geprüft, bin sorgfältig vierzig Jahrgänge des jamaikanischen Daily Gleaner durchgegangen, sowohl im Institute of Jamaica in Kingston als auch im Research Institute for the Study of Man in New York City, und habe jeden wichtigen Artikel, der auf Jamaika, in Großbritannien und den USA über Bob Marley, Jamaika und Reggae erschienen ist, gelesen. Die Informationen, die sich in diesem Buch finden, entstammen zudem den Interviews, die ich zwischen 1975 und 1981 mit Bob gemacht habe (ich sprach gut zwei Dutzend Mal mit ihm), sowie Interviews, die ich im Laufe der Jahre mit anderen Mitgliedern der Wailers führte, mit den Produzenten der Band, mit zusätzlichen Begleitmusikern, den verschiedensten anderen Mitarbeitern, Angestellten und Chefs von Schallplattenfirmen, Leibwächtern und Roadies sowie Familienangehörigen und Freunden. Zu weiteren Quellen zählen prominente Persönlichkeiten der jamaikanischen Plattenindustrie, Politiker der Insel (die ihren eigenen Beitrag zur jamaikanischen Musik geleistet haben), Rasta-Älteste, Wahrsager vom Lande, Urwaldprediger, Sozialarbeiter, Soziologen, Kriminelle aus den Ghettos und alte Frauen aus dem Busch.
Für jeden Journalisten oder Biographen, der sich in Jamaikas Geschichte und das Leben eines der Söhne dieser Insel vertiefen will, gibt es wahrhaft Probleme: Häufig ist es so gut wie unmöglich, Dokumente mit präzisen Angaben aufzuspüren. Zum Beispiel wird das genaue Geburtsdatum von Bob Marley wohl nie herauszufinden sein. In seinem Pass (Nr. 57778, ausgestellt am 6. März 1964, aber zum Reisen erstmalig am 11. Februar 1966 benutzt) ist als Geburtsdatum der 6. April 1945 angegeben. Cedella Marley Booker, Bobs Mutter, sagte mir bei mehreren Anlässen, dass Bob, so gut sie sich erinnern könne, auf den Tag genau zwei Monate vorher geboren sei. Da sie zu jener Zeit jedoch in einer abgelegenen Gegend wohnte, dauerte es viele Wochen, bis sie es schaffte, zum nächsten Registrierungsbeamten zu kommen, um die Geburt offiziell mitzuteilen, und da sie eine schüchterne junge Frau war, wollte sie »keinen Ärger mit denen« bekommen. (Bis zu diesem Tag wissen viele arme Leute vom Lande und auch aus der Stadt nicht genau, wann und wo sie geboren und wer ihre Eltern sind.)
Es bedarf noch gründlichster Nachforschungen in allen möglichen Aufzeichnungen, bis jamaikanische Archivare vielleicht Bob Marleys Geburtsurkunde auffinden –
und seine Rasta-Brüder nehmen das mit einem weisen Kopfnicken zur Kenntnis, denn sie glauben, dass Marley wie der Kaiser Haile Selassie I. von Äthiopien niemals geboren wurde und deshalb auch nicht sterben konnte. (»Him was de inheritor of Jah’s legacy, him cyan’t die. Rasta nuh fear death, because Rasta never live, an’ never die.« »Er war der Erbe von Jah’s Vermächtnis, er kann nicht sterben. Rasta fürchtet nicht den Tod, denn Rasta lebt niemals und Rasta stirbt niemals.«)
Ähnliche Schwierigkeiten tauchen auf, wenn es um die Veröffentlichungsdaten der meisten jamaikanischen Singles und Langspielplatten geht, denn Aufzeichnungen darüber wurden, wenn überhaupt, nur ganz selten gemacht, und eine 45er konnte in einer ganzen Anzahl von Vorabversionen unter den Leuten sein, bevor sie tatsächlich auf dem normalen kommerziellen Markt erhältlich war. Die Veröffentlichungsdaten in diesem Buch beziehen sich, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, auf Jamaika, nicht auf Großbritannien, wo so viele jamaikanische Hits später herauskamen. Die Informationen erhielt ich durch Interviews mit den Produzenten oder, wenn möglich, mit dem Künstler selbst oder gar beiden, und sie lassen sich meistens auf den Monat zurückverfolgen. (Im Anhang des Buches findet sich eine umfassende Diskographie der Wailers und ihrer erweiterten musikalischen Familie.)
Im gesamten Buch wird immer wieder das jamaikanische Patois benutzt. Der Rhythmus dieses Dialekts gleicht dem eines Gummiballs, der die Treppen hinunterspringt und dann sanft von einem Kind aufgefangen wird. Was die Schreibweise und die Bedeutung der meisten Patois-Wörter betrifft, die im Text immer wieder auftauchen, bin ich dem Dictionary of Jamaican English, herausgegeben von F. G. Cassidy und R. B. Le Page, zu großem Dank verpflichtet, denn ohne dieses Wörterbuch hätte ich viele meiner Interviews niemals transkribieren können. Andere Schreibweisen bei der Wiedergabe der eigenartigen Inselsprache folgen so eng wie möglich dem allerdings leicht uneinheitlichen Stil des Daily Gleaner, Jamaikas 160 Jahre alter Tageszeitung.
Gegen Ende des Buches wird erwähnt, dass unter den jamaikanischen Rasta-Brothers der Verdacht weitverbreitet war, dass während der siebziger Jahre und Anfang der 1980er Jahre die Central Intelligence Agency (CIA) ihre Aktivitäten allgemein und die Karriere Bob Marleys im Besonderen überwachte. Unter Inanspruchnahme des Gesetzes über Informationsfreiheit (Freedom of Information Act, 5 U.S.C. 552) fand ich 1982 CIA-Dokumente, die bestätigten, dass der Geheimdienst und andere Regierungsbehörden der USA tatsächlich Akten über die jamaikanische Reggae-Szene, die Bewegung des Rastafarianismus und die Aktivitäten von Bob Marley angelegt hatten.
Für die erweiterte und ergänzte Ausgabe von 1991 habe ich nicht nur zusätzliche Fakten gesammelt, Feldforschung betrieben und Notizen gemacht, sondern über den Zeitraum von neun Jahren hinweg auch eine Vielzahl nachträglicher Interviews erstellt, die hin und wieder lange kolportierte Fehleinschätzungen korrigieren. So wurde in den letzten beiden Jahrzenten beispielsweise oft geschrieben, Rod Stewart habe auf dem Ska-Klassiker ›My Boy Lollipop‹ die Mundharmonika gespielt. Rod sagt dazu: »Ich war’s nicht, Alter! Ich glaube mit ziemlicher Sicherheit, es war der Typ, der in den sechziger Jahren in einer alten R&B-Band – Jimmy Powell and the Five Dimensions –
mein Nachfolger wurde. Ich habe zwar nicht so gut gespielt wie er, aber er hatte die gleiche verdammte Frisur – und das hat mich mehr geärgert als alles andere.« Auch sind verschiedene Informationen und Archivare auf mich zugekommen, um mir frische Details anzubieten oder mir dabei zu helfen, die eine oder andere Tatsache hinzuzufügen. Doch war die Welt Bob Marleys eine solche, in der man Meinung, Erinnerung, Interpretation und Glauben oft höher bewertete als pure Fakten, und so macht die schiere Masse widersprüchlicher Auffassungen, exotischer Rückbesinnungen, engagiert vorgetragener Lehren und dem Jenseits zugeneigter Glaubenssystem, die in alles eingeflochten sind, einen Großteil der Philosophie und der Prämissen dieses Buches aus. Es gibt in dieser Geschichte mehr oder weniger drei eigenständige Phänomene: Bob Marley, Jamaika und die Macht des Glaubens. Hat der Leser die schroffen Wahrheiten und den tieferen Hintergrund des Kapitels »Riddim Track« erst einmal verarbeitet, lade ich ihn ein in die Welt Bob Marleys aus der Betrachtungsweise jener, deren erstaunliche Glaubenskraft sie beseelte und noch immer beseelt.
Übernatürliche Ereignisse und metaphysische Koinzidenzen werden in diesem Buch erwähnt. In dem Kapitel über Haile Selassie wird geschildert, welche Glaubensansichten unter den äthiopischen Bauern und ihren gleichermaßen leichtgläubigen Führern anzutreffen waren – viele der heldenhaften Taten und übernatürlichen Fähigkeiten, die Hailie Selassie zugesprochen wurden, sind jedoch, wie berichtet wird, von dem Kaiser selbst erfunden und entsprechend von der Zentralregierung und der koptischen Priesterschaft in Umlauf gebracht worden. Weitere Informationen und Einzelheiten in späteren Teilen des Buches entstammen den Lehren einer ganzen Schar von Exponenten jamaikanischer Magie, Volksheilkunde und schwarzer Künste sowie denen von Pseudo-Rasta-Führern und Rasta-Führern, darunter Robert Athlyi Rogers, Leonard Percival Howell, B.L. Wilson, H. Archibald Dunkley und Claudius Henry. Diese zum Teil auch aus alten Zeiten stammenden Lehren sind oftmals gefiltert durch die Erinnerungen und persönlichen Katechismen Bob Marleys und seiner engen Verwandten und Freunde.
Ob der Leser solch ›übernatürliche‹ Ereignisse für glaubwürdig halten mag oder nicht, ist allein seine oder ihre Entscheidung. Mir ging es bei dem Versuch, diese Geschichte von der persönlichen Warte ihrer Protagonisten aus zu erzählen, darum, die Tatsache zu vermitteln, dass die Menschen um Haile Selassie und Bob Marley – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – wirklich an ›Magie‹ glaubten und glauben und daher ihr Leben in Übereinstimmung mit dieser Übersetzung führten und führen.
Boston, März 1991
Timothy White
»Tatsachen? Über Jamaika? Aha! Ich liebe es, wenn die Leute vom
Lande sagen, es gäbe keine Tatsachen auf Jamaika. Das klingt so
poetisch und geheimnisvoll, aber sie haben natürlich absolut recht.
Wenn man darüber nachdenkt, gibt es wirklich keine. Keine einzige.«
Chris Blackwell, 1982
»Tatsachen und Tatsachen, und Sachen und Sachen, das ist alles
verdammter Unsinn. Glaubt mir! Es gibt keine Wahrheit außer der
einen Wahrheit, und das ist die Wahrheit von Jah Rastafari!«
Bob Marley, 1978
»Der eine, der hat’s zu tun mit Information. Und der andere, der hat’s
zu tun mit einer Vorstellung von Wahrheit. Und dann ist da wieder
einer, der hat’s zu tun mit Magie. Information, die fließt um dich
herum, und die Wahrheit, die fließt auf dich zu. Aber Magie, die fließt
durch dich hindurch.«
Nernelly, ein jamaikanischer »bush doctor«, 1982
Es war kurz vor Mitternacht, und in den Beifall des auserwählten Publikums mischten sich die Rufe der zerlumpten Leute, die in Massen über die Mauern kletterten, von denen das Rufaro Stadion in Salisbury, der Hauptstadt von Simbabwe, umgeben ist. Plötzlich drehte sich der Wind, und Wolken von Tränengas, das die Polizei außerhalb der Arena benutzte, um die Menge im Zaum zu halten, trieben über das Gelände und reizten die Augen des Mannes, der auf der kleinen Bühne in der Mitte der Arena auftrat. Für einen Augenblick verlor er die Orientierung und lief aufgeregt hin und her, bis er schließlich durch ein Loch in dem Dunst, der so furchtbar in den Augen brennt, hervorstolperte. Soldaten, die M16-Gewehre schwenkten, führten ihn seitlich von der Bühne hinunter in einen Wohnwagen, wo er sich die Augen mit einem wassergetränkten Lappen abtupfte.
Das Konzert, das seit ungefähr zwanzig Minuten in Gang war, gehörte zu den offiziellen Feierlichkeiten am 18. April 1980, dem ersten Tag der Unabhängigkeit des neuen Nationalstaates Simbabwe. Die zahlenden Gäste und Würdenträger (unter ihnen der marxistische Premierminister Robert Mugabe und Prinz Charles von England), die sich versammelt hatten, um zu feiern, dass man endlich die Tyrannei der weißen Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte, wurden jetzt Zeugen einer anderen Art von Unterdrückung: Tausende von begeisterten Bauern und untersten Dienstgraden der Revolutionsarmee hatten sich vor der Arena versammelt, weil sie hofften, den Auftritt des international höchstgeschätzten Reggae-Musikers Bob Marley miterleben zu können, des Helden der schwarzen Freiheitskämpfer allerorten und des charismatischen Botschafters des modernen Pan-Afrikanismus. Von den pulsierenden Reggae-Rhythmen mitgerissen, die herausklangen, versuchten die Fans in immer neuen Angriffswellen die Tore zu stürmen. Die Polizei reagierte mit Tränengas und Gewehrsalven über die Köpfe des wogenden Mobs, aber die Leute ließen sich nicht zurückhalten und drängten über die Mauern.
Marley schob die dicken, zopfartigen Strähnen seiner Dreadlocks (lange, verfilzte Haarstränge) aus seinen geschwollenen Augen und warf einen suchenden Blick hinaus in die Dunkelheit jenseits des blendenden Bühnenlichts. Schreie und Rufe waren zu hören und das dumpfe Geräusch von Polizeiknüppeln, die auf Körper trafen. Aus der Entfernung sah es so aus, als würde eine wahre Menschenflut, die drohte, über die Brüstungen des Stadions hereinzubrechen, zurückschlagen. Sie waren zusammengeströmt, um begeistert die Befreiung von dem Joch weißer Unterdrückung zu feiern, und jetzt musste ein großer Teil der schwarzen Bevölkerung dieser Stadt für das simple Recht kämpfen, Reggae hören zu dürfen.
»Wahnsinn«, sagte Marley leise. Er spürte den festen Griff einer Soldatenhand an seinem linken Arm und wurde in Sicherheit geleitet. Fünfundvierzig Minuten später war dann die Ordnung wiederhergestellt, und Marley kehrte zurück auf die Bühne, um jenen Schlachtgesang darzubieten, den er im Jahr zuvor über den revolutionären Kampf dieses Landes geschrieben hatte.
To divide and rule
Could only tear us apart
In everyman chest
There beats a heart
So soon we’ll find out
Who is the real revolutionaries
And I don’t want my people
To be tricked by mercenaries
Natty dread it in a Zimbabwe …
Africans a liberate Zimbabwe …
Zu teilen und zu herrschen
Kann uns nur auseinanderreißen
In jedermanns Brust
Schlägt ein Herz
Und bald werden wir feststellen
Wer die wahren Revolutionäre sind
Und ich will nicht, dass mein Volk
Betrogen wird von Söldnern
Natty Dread in Simbabwe …
Afrikaner befreien Simbabwe …
Aber Marleys Gesang fehlten Biss und Schärfe. Das Schauspiel, das er zuvor hatte miterleben müssen, hatte seine Vision schwarzafrikanischer Solidarität erschüttert, mit der er nach Simbabwe gekommen war.
Vier Jahre zuvor hatte Bob Marley mit der Hand auf einen Tisch in der Küche seines Hauses in Kingston, Jamaika, geschlagen und erklärt, warum er und seine Rasta-Brüder ausziehen wollten aus Babylon – einem Land ohne Grenzen, in dem die Menschen sündigen und dafür leiden –, um zurückzukehren zu Mutter Afrika, nach Äthiopien.
»Die oberen Leute in der Regierung von Jamaika, die sollten aufräumen auf den Müllhalden und in den Slums und meinem Volk zu essen geben, meinen Kindern!«, hatte Marley gesagt. »Ich lese Zeitung und ich schäme mich. Und darum müssen wir diesen Ort verlassen und zurückkehren nach Afrika. Wenn Jamaika meine Heimat wäre, dann würde ich Jamaika lieben, und ich würde mich fühlen, wie ich fühle: dass dieser Ort nicht meine Heimat ist. Ich will nicht gegen die Polizei kämpfen, die durch ihre Grausamkeit den Aufruhr erst anstachelt, aber wenn ich nach Afrika gehen will, und sie sagen nein, dann werde ich persönlich kämpfen müssen.«
Doch als Marley schließlich zum ersten Mal im Dezember 1978 nach Afrika kam, musste er dieselben Slums und hungrigen Gesichter sehen, die er auf Jamaika hinter sich gelassen hatte, dieselben korrupten Regierungen, die, von Macht besessen, blind waren für das Elend. Dieses Afrika war der einzige Kontinent, wo noch kein politischer Führer der Neuzeit in Frieden von seinem Amt abgewählt worden war. Aus Kenia kam er in das vom Bürgerkrieg zerrissene Äthiopien und musste erfahren, dass sein geliebter Haile Selassie, der Mann, den er als Gott verehrte, in Ehrlosigkeit gestorben war und dass man ihn in einem Grab verscharrt hatte, das nicht gekennzeichnet war. Dass es keinen Gedenkstein gab für diesen Mann und dass die Äthiopier ihres ehemaligen Kaisers mit unverhüllter Verachtung gedachten, hatte Marley extrem erschüttert.
Und jetzt, in Simbabwe, wurde er auch noch seiner letzten Illusionen beraubt. Seine rechte große Zehe, ohne Nagel und von Geschwüren zerfressen, schmerzte fürchterlich. Wiederholt hatte er der Presse mitgeteilt, unter dem Verband verberge sich nur eine Fußballverletzung, aber der pulsierende Schmerz erinnerte ihn ständig an das, was die Ärzte ihm in den vergangenen beiden Jahren gesagt hatten: entweder die Zehe amputieren lassen oder seinen Frieden schließen mit dem Leben. Wenn er sich nicht einer radikalen Behandlung seines Krebses unterziehe, würde er viel früher als geplant heimfliegen müssen nach Zion, um seinen Lohn im Himmel zu empfangen.
»Rasta duldet keine Amputation!«, hatte er sie angefaucht. »I and I (ich und meine Brüder) erlauben nicht, dass man einen Menschen verstümmelt. Jah, der lebendige Gott, Seine kaiserliche Majestät Haile Selassie I., Ras Tafari, Siegreicher Löwe des Stammes von Juda, zweihundertfünfundzwanzigster Herrscher des dreitausendjährigen äthiopischen Kaiserreichs, der Lord der Lords, König der Könige, Erbe des Throns von Salamon. Er wird mich heilen mit den Meditationen meines Ganja-Kelches, meines Cutchies (Wasserpfeife aus Ton), oder Er wird mich als Seinen Sohn aufnehmen in Sein Königreich. Kein Skalpell wird mein Fleisch schneiden! Jah können sie nicht töten, Rasta können sie nicht töten! Rastamann lebt weiter!«
Zwölf Monate zuvor wäre er vielleicht noch in der Lage gewesen, sich zu retten. Hätte er aufgehört, die Ärzte ›samfei‹ zu nennen, im Jamaika-Patois die Bezeichnung für den Betrüger, der die Leichtgläubigen hinters Licht führt, indem er den Eindruck erweckt, über die Kraft des ›obeah‹ (Hexerei) zu verfügen. Hätte er sich einer Chemotherapie unterzogen oder einer Strahlenbehandlung und der unausweichlichen Tatsache gestellt, dass seine Löwenmähne aus Dreadlocks ihm in Klumpen vom Kopf gefallen wäre. Hätte er nicht den vollgekifften Speichelleckern geglaubt, die um ihn herumscharwenzelten und behaupteten, er sei der ›talawa (furchtlose und unüberwindliche) Tuff Gong‹, einer der stählernen Finger an der Hand des allmächtigen Jah. (Marley verdiente sich den Titel Tuff Gong durch seinen wilden Mut als Straßenkämpfer. Gong war zudem der Beiname des früheren Rastafari-Führers Leonard Howell. Die Bedeutung des Beinamens stützt sich auch auf die Tatsache, dass es in einigen Rasta-Siedlungen Sitte ist, dass ein neues Mitglied am Eingang einen Gong schlägt, um seinen ersten Schritt in die Obhut der Gemeinde zu verkünden. Nach Bobs Tod behauptete Bunny Wailer, der Begriff habe ursprünglich ›Tuff Gang‹ geheißen, wobei Bunny der Chef der Gang gewesen sei.)
Und jetzt liefen die bösartigen und absichtlich nicht behandelten Krebszellen Amok, suchten sich ihren Weg in Marleys spindeldürren Körper wie die gefräßigen und in Bäumen wohnenden jamaikanischen ›Stinkameisen‹, die hinaufeilen in die Zweige des Ackee und die reifen Früchte von innen heraus aufzehren. Er rechnete damit, noch ein Jahr in Qual verbringen zu müssen, vielleicht auch zwei, bevor das Ende kam. Er fragte sich, ob er vielleicht im Schoß des weißen Amerika sterben würde, wenn er sich dort auf seiner bevorstehenden Tournee befand, und er sann nach über die Ironie, die in einem solchen Schicksal lag.
Als Schallplattenkünstler hatte er seine größten kommerziellen Erfolge ebenso wie bei den Kritikern in Amerika und Europa gehabt, wo die jungen Weißen fasziniert waren von der ethno-politischen Kraft seiner bissigen Reggae-Hymnen und hypnotisiert von ihrem rhythmischen Pulsschlag, dessen Betonung gegen alle Erwartung ist. Auf Jamaika, wo er geboren war, verehrte man ihn als Rockstar und als Volkshelden, und er war ebenso berühmt dafür, dass es ihm gelang, das weiße amerikanische und europäische Publikum mit seinen Songs über die schwarze Vergeltung zu fesseln, wie dafür, dass er die Mitglieder der jamaikanischen Kreolen-Kultur veranlasste, mit Stolz zu dem Herzschlag ihres eigenen Kummers und ihrer Narretei zu tanzen. Und von den Großstadtzentren Japans bis zu den Diskotheken in Rio de Janeiro hatten Millionen von Menschen ihre ureigenen Gründe, sich von Marleys Magie verhexen zu lassen.
Später an jenem Abend in Salisbury sollte er miterleben, wie sich die rhodesischen und britischen Standarten senkten und die neue Flagge von Simbabwe aufgezogen wurde, wie einundzwanzig Kanonen kaum fünfzig Meter von ihm entfernt Salut schossen. Noch war der erste Tag der offiziellen Freiheit nicht zu Ende gegangen, und schon hatten sich die Menschen gegeneinander erhoben.
In Afrika wurde er verehrt als Apostel des Pan-Afrikanismus, als charismatischer Entertainer, dessen elementare Leidenschaft auf dem Kontinent, wo die sprechende Trommel erfunden worden war, bereitwillig ins Herz geschlossen wurde. Doch als er von der Bühne miterleben musste, wie die Menge den Kampf gegen sich selbst ausfocht, erkannte er, dass man seiner Musik und seiner Botschaft nicht zugehört hatte. Und er fühlte, dass man ihm anscheinend nirgends genügend Aufmerksamkeit schenkte, um zu hören, was immer stärker in ihm brodelte, um nachzuempfinden, welche Furcht da in jemandem wütete, der versuchte, einen religiösen Gedanken zu erklären, den er sich schon vor langer Zeit zu eigen gemacht hatte, aber in eben diesem Moment besonders intensiv erlebte: dass es keinen sicheren Ort gäbe für den sterblichen Menschen.
Der millenarisch-messianische Kult des Rastafarianismus, den Marley durch seine Musik propagiert, verdankt einen Teil seiner Ideologie den Lehren des Marcus Mosiah Garvey, eines Fürsprechers der ›Rückkehr nach Afrika‹. Am 17. August 1887 in der Stadt St. Ann’s Bay in dem jamaikanischen Pfarrbezirk St. Ann geboren, war Garvey (mit dem Beinamen ›Mose‹) eines von elf Kindern eines ehemals wohlhabenden Druckers. Er stammte ab von den Maroons, einer Gruppe von ursprünglich fünfzehnhundert afrikanischen Sklaven, die 1655 von ihren spanischen Herren freigelassen worden waren und sich in das undurchdringliche Innere der Insel zurückgezogen hatten, als Cromwells Truppen Jamaika besetzten. (Maroon ist eine verfälschte Form des spanischen Wortes ›cimarron‹, das ›aufrührerisch‹ bedeutet.) Garvey kam nach Kingston, bevor er zwanzig wurde, und sammelte während eines größeren Druckerstreiks im Jahre 1907 einige Erfahrungen als Arbeiterführer und Redner.
Nachdem der Arbeitskampf beigelegt war (zugunsten der Unternehmer, da sich die Gewerkschaft aufgelöst hatte, nachdem ihr Schatzmeister sich mit den Rücklagen davongemacht hatte), verließ Garvey Jamaika, um längere Zeit zu reisen. Finanzieren tat er das durch Gelegenheitsarbeiten. Zuerst machte er in Costa Rica Station, wo er gegen die beklagenswerten Arbeitsbedingungen für Schwarze bei dem britischen Konsul protestierte. Auf seinen Protest erfolgte keine Reaktion. Als Nächstes begab er sich nach Bocas del Toro in Panama, wo er seine nur kurzlebige Zeitung mit dem Namen La Prensa gründete. Auf seinen weiteren Reisen durch Ecuador, Nicaragua, Honduras, Kolumbien und Venezuela konnte er immer wieder beobachten und erleben, wie man die billigen Arbeitskräfte in den Minen und auf den Tabakfeldern ausbeutete. Mit ihnen diskutierte er ihr bedauernswertes Los in dem von den Weißen beherrschten Westen.
Als er sich 1912 zu einem Besuch in London aufhielt, machte er die Bekanntschaft des sudanesisch-ägyptischen Gelehrten Duse Mohammed Ali, Autor des hochgeschätzten Buches In The Land of the Pharaohs, und ihre Diskussionen vermittelten Garvey Einsichten in die historische und religiöse Bedeutung der schwarzen Diaspora. Auch beschäftigte er sich sehr intensiv mit den Schriften von Booker T. Washington, insbesondere mit Up from Slavery. Größten Einfluss auf Garvey hatte wahrscheinlich Ethiopia Unbound – Studies in Race Emancipation von Casely Hayford, das 1911 in London erschien und dort bei den Mitgliedern der kleinen schwarzen Intellektuellengemeinde auf der Stelle zu einem Klassiker wurde. Der Roman Ethiopia Unbound erzählt die Geschichte eines jungen Afrikaners, der die Goldküste verlässt, um in England zur Schule zu gehen, und der wieder nach Hause zurückkehrt, um sich dem politischen Protest zu widmen. Die Vorstellungen des Buches über die Errettung der afrikanischen Rasse hatte der Autor Casely Hayford bezogen aus dem Werk des Missionars und Professors Edward Wilmot Blyden aus Sierra Leone, des anerkannten ›modernen Propheten‹ schwarzer Emanzipation.
»Das Werk von Männern wie Booker T. Washington und W.E. Burghart Du Bois ist exklusiv und provinziell«, sagt der Protagonist des Buches in einer Szene im Hörsaal. »Das Werk von Edward Wilmot Blyden ist universell, umfasst die ganze Rasse und das ganze Problem.« Der Dozent geht gar so weit, Blyden zu beschreiben als »den größten lebenden Exponenten des wahren Geistes afrikanischer Nationalität und afrikanischen Menschentums«.
Solche heroische Ideen und die erhabenen Namen derjenigen, die sie verraten, schwirrten ihm im Kopf, als Garvey im Frühsommer 1914 in Southampton an Bord eines Dampfschiffes ging. Am 15. Juli betrat er wieder jamaikanischen Boden. Ungefähr zwei Jahre war er fort gewesen, und es dauerte weniger als einer Woche in Kingston, da gründete er die Universal Negro Improvement and Conservation Association and African Communities League, eine Organisation, deren Hauptziel es war, ein College-System nach dem Prinzip der Rassentrennung, aber Gleichberechtigung für die schwarzen Jamaikaner einzurichten, das sich an dem Tuskegee Institute von Booker T. Washington orientierte. Das Motto der Vereinigung, offensichtlich angeregt durch eine Zeile aus Ethiopia Unbound, lautete: »Ein Gott! Ein Ziel! Ein Schicksal!«
Die altehrwürdige britische Tradition, sich zu identifizieren mit den ›Höherstehenden‹, hatte die vorwiegend kreolische Bevölkerung der Insel zu Menschen gemacht, die auf naive Weise danach strebten, die soziale Stufenleiter zu erklimmen, und sich sehnten, ›als Weiß gelten zu können‹. Garvey schrieb später: »Männer und Frauen, so schwarz wie ich oder gar noch schwärzer, hatten sich unter der westindischen Gesellschaftsordnung für weiß gehalten. Es war einfach unmöglich für jemanden, offen die Bezeichnung ›negro‹ zu gebrauchen; und doch nannte ein jeder im Flüsterton den schwarzen Menschen einen ›nigger‹.«
Die Mehrzahl seines eigenen Volkes blieb Garveys Gedankengängen gegenüber feindlich gesinnt. Es liegt eine besondere Ironie darin, dass seine enthusiastischen Anhänger der Bürgermeister von Kingston und der römisch-katholische Bischof waren, beide Weiße.
1915 korrespondierte ein entmutigter Garvey mit Booker T. Washington, und sie planten eine persönliche Begegnung in Alabama, die jedoch nicht zustande kam, weil Washington vorher starb. Als er den jamaikanischen Widerstand gegen seine Idee von schwarzem Stolz satthatte, ging Garvey 1916 in die Vereinigten Staaten, um dort Anhänger zu finden. Nachdem er in ungefähr fünfunddreißig Staaten ein zugänglicheres Publikum gesucht hatte, fand er schließlich eines in Harlem, und im nächsten Jahr verkündete er die Gründung der Universal Negro Improvement Association (UNIA) als eine Bruderschaftsorganisation für ortsansässige Politiker, führende Leute aus dem Geschäftsleben und ehrgeizige, an Bürgerrechten interessierte Schwarze. Garvey war jedoch nicht zufrieden mit der Politik, und bald schon nutzte er die Vereinigung als Kanzel, von der er das schwarze Repatriierungsprogramm predigte, das er als die einzige Lösung für die Rassenspannungen zwischen Schwarz und Weiß in Amerika, ja in der ganzen Welt ansah.
Garvey war ein genialer Medienmanipulator und zeichnete verantwortlich für eine Zeitung namens The Negro World, eine Monatszeitschrift mit dem Titel The Black Man sowie für ein Schifffahrtsunternehmen, das er Black Star Line getauft hatte. Er behauptete, die UNIA habe eine Mitgliederschaft von über zwei Millionen, und organisierte spektakuläre Paraden und Versammlungen im Madison Square Garden, wo er seine Gefolgsleute mit seiner ›Äthiopien, Land unserer Väter!‹-Rhetorik zu Begeisterungsstürmen brachte. Erfindungsreich in seiner Absicht, allenthalben Respekt für schwarze Menschen zu gewinnen, entsandte er sogar eine Kommission zur Konferenz des Völkerbundes, die nach dem Ersten Weltkrieg in Genf stattfand, und ließ von ihr beantragen, dass bestimmte Territorien, die unter der Herrschaft Deutschlands standen, den amerikanischen Schwarzen als Dank dafür überlassen wurden, dass sie geholfen hatten, den Krieg zu gewinnen.