Pilgern mit Paddel

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Aus der Reihe: Abenteuer & Fernweh
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Pilgern mit Paddel
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TIMM KRUSE

PILGERN MIT PADDEL

AUF DEM JAKOBSWEG MIT SUP



There will always be

a »lie« in »believe«,

an »over« in »lover«,

an »end« in »friend«,

an »us« in »trust«,

and an »if« in »life«.

Banksy

INHALT

VORWORT

BASKENLAND

1. Tag: Hendaye bis Pasaia

2. Tag: Pasaia bis San Sebastián

3. Tag: San Sebastián bis Getaria

4. Tag: Getaria bis Mutriku

5. Tag: Mutriku bis Mundaka

6. Tag: Mundaka bis Galdakao

KANTABRIEN

7. Tag: Galdakao bis Limpias

8. Tag: Limpias bis Berria

9. Tag: Berria bis Langre

10. Tag: Langre bis Cóbreces

11. Tag: Cóbreces bis Pendueles

12. Tag: Pendueles bis Ribadesella

ASTURIEN

13. Tag: Ribadesella bis Llastres

14. Tag: Llastres bis Gijón

15. Tag: Gijón bis Luanco

16. Tag: Luanco bis San Juan de Nieva

17. Tag: Navia bis Cudillero

18. Tag: Cudillero bis Playa la Barquera (Castañeras)

19. Tag: Playa la Barquera bis Lluarca

20. Tag: Lluarca bis Navia

GALICIEN

21. Tag: Navia bis Ribadeo

22. Tag: Ribadeo bis Lourenzá

23. Tag: Lourenzá bis Gontán

24. Tag: Gontán bis Vilalba

25. Tag: Vilalba bis Raposeiro

26. Tag: Raposeiro bis Sobrado dos Monxes

27. Tag: Sobrado dos Monxes bis Os Mañas

28. Tag: Os Mañas bis Santiago de Compostela

NACHWORT

P. S.:

DANKE

VORWORT

Eine alte Freundin riet mir für dieses Abenteuer, ich möge in Furcht vor Gott pilgern. Da ich bisher weder Furcht noch Gott sonderliche Beachtung in meinem Leben geschenkt habe, ziehe ich also aus, das Fürchten zu lernen. (BILD 1)

BASKENLAND


1. TAG: HENDAYE BIS PASAIA

So habe ich das Meer noch nie gesehen: Es blubbert wie tausend Hexenkessel. Aus allen Richtungen strömen Wellen auf mich ein. Die Oberfläche ist wabbelig wie ein Pudding, in dem Chinakracher explodieren. Zwischendurch läuft eine Dünung, die ihre Gischt unkontrolliert verspritzt. Der Wind fegt über mich hinweg, ohne mich zu berühren. Er scheint vor der Steilküste Spaniens zu fliehen und abzuheben, um das hügelige Hinterland zu zerfleddern. Vielleicht befinde ich mich auch in einem Luvstau – der Wind weht gegen die Küste, weiß nicht wohin und bildet dort einen Stau, der wie eine Flaute wirkt. Es ist gespenstisch, durch diese schweigende, strubbelige Geleesee zu paddeln. Fürchten tue ich mich nicht. Ich bin höchstens sauer, dass mir das Schicksal eine solche See zumutet. (BILD 4)

Seit Stunden sitze ich auf meinem Brett – an Stand-up-Paddeln ist nicht zu denken. Ich betreibe Sit-down-Paddeln und mache lächerliche zwei Kilometer pro Stunde durch diese infernalische Biskaya. Stehend könnte ich mich keine drei Sekunden auf meinem Brett halten. Zum Glück habe ich mir vor der Reise ein Kanupaddel gekauft, das mir jetzt großartige Dienste leistet. Ein solches Paddel hätte mir auf meiner 3.000 Kilometer langen Reise auf der Donau vor drei Jahren sehr geholfen. Auch dort hatte ich mit Gegenwind zu kämpfen. Aber was war das schon im Vergleich zu dem Wahnsinn heute?

Immer wieder schaue ich mich um. Hinter mir paddelt Turtle, ein Freund aus Kiel, der sich spontan entschieden hat, mich zu begleiten. Er ist ein exzellenter Windsurfer und Wellenreiter und hat dank Corona endlich Zeit, mich auf einer Abenteuertour zu begleiten. Er ist Eventveranstalter und verdient in diesem Jahr so viel Geld wie zuletzt mit neun – nämlich nichts. Auch mir geht es als Reporter nicht viel besser. Wir teilen das gleiche Schicksal und werden uns nicht fügen, sondern das Beste aus dieser Situation machen – in diesem Fall von der französisch-spanischen Grenze bis auf die Höhe von Santiago de Compostela zu paddeln, um von dort die letzten Tage zu Fuß durchs Land bis zur berühmten Kathedrale zu wandern.

Offenbar brauchten wir die Corona-Krise, um uns wieder daran zu erinnern, was jenseits unserer eingeschliffenen Alltagswelt möglich ist: Wir werden die ersten Menschen sein, die den nördlichen Jakobsweg Stand-up-paddeln. Unser Ziel ist natürlich die berühmte Kathedrale, wo sich der Legende nach das Grab des Apostels Jakob befindet, eine Art Mohammed und Jesus in einem für die iberischen Völker. Jahrhunderte nach seinem Tod tauchten Legenden über ihn auf. Er sei aus dem fernen Palästina gekommen, um auf der spanischen Halbinsel das Evangelium zu verkünden. Beerdigt wurde der heilige Jakobus in Santiago und Gläubige aus den umliegenden Dörfern fingen an, zu seinem Grab, das angeblich unter der Kathedrale liegt, zu pilgern und dort zu beten und zu meditieren. Vielleicht erhofften sie sich auch Heilung von einem Ort, an dem die Gebeine eines der zwölf Apostel liegen. Später kamen Menschen aus immer entfernteren Ländern, zunächst aus Spanien und Portugal, dann aus Frankreich, aus Deutschland, Skandinavien oder Italien. Im Laufe der Jahrhunderte entstand eine weltweite Pilgerbewegung, an der Könige und Bischöfe, Gesunde und Kranke, Reiche und Arme teilnahmen. Der Name Compostela kommt aus dem Lateinischen: Campo, das Feld und Stela, der Stern. Denn angeblich hatte ein Bischof über einem Feld einen Stern oder ein Licht gesehen, das ihm das bis dahin vergessene Grab des Apostels gezeigt haben soll.

Mittlerweile ranken sich so viele Legenden um den heiligen Jakobus, dass er sich langsam zum prominentesten Apostel entwickelt. An der Kathedrale von Santiago kommen jedenfalls täglich mehr als 1.000 Pilger an und beenden dort ihre Pilgerreise – zumindest in Jahren, in denen keine Pandemie herrscht. Und angeblich ist jeder von ihnen Gott oder sich selbst – oder beiden – nach dieser Reise ein gutes Stück nähergekommen.

Mit dem ersten Paddelschlag betreten wir das Reich des Meeres. Vielleicht ist es auch umgekehrt und das Meer nimmt von uns Besitz, dringt in unser Leben ein. Wir lassen die Geräusche des Landes hinter uns, die Gerüche und den festen Boden. Jetzt sind wir in einer schwankenden Welt angekommen, einer Welt, die ich über alles liebe. Die mir schon häufig mehr Heimat war als das Festland. Auf dem Wasser ist alles gut, denke ich. Die Probleme beginnen an Land.

Schon eine halbe Stunde nachdem wir heute früh vom Strand im französischen Hendaye aufgebrochen sind, hält uns die Wasserschutzpolizei an. (BILD 3) Wir würden keine Rettungswesten tragen, hätten keine wasserdichten Lampen am Mann und wären weiter als 300 Meter vom Ufer entfernt. Ich erkläre dem Gendarmen, dass wir in wenigen Metern das Gebiet der Grande Nation verlassen würden und sich dann die spanischen Behörden unserer annehmen dürften. Der Beamte schüttelt den Kopf und lässt uns tatsächlich weiterpaddeln. Vermutlich befinden wir uns schon jenseits der Grenze. Am Ufer sehe ich noch unsere Wohnmobile stehen. Sie sind winzig klein und für unbestimmte Zeit nicht mehr unser Zuhause. Vier Wochen waren Turtle und ich gemeinsam mit unseren Liebsten in Frankreich unterwegs und genossen den schönsten Urlaub. Unsere Partnerinnen fahren die Fahrzeuge zurück nach Deutschland. (BILD 2) Ich sehe ihre Tränen beim Abschied vor mir und konzentriere mich aufs Paddeln, um nicht schon am Anfang dieser Reise zu heulen.

 

Als wir das Ende der Bucht erreichen und an den spitzen Felsen einer vorgelagerten Insel vorbeipaddeln, bläst uns der Wind direkt ins Gesicht und das Meer fängt an, verrückt zu spielen. Als hätte es nur auf uns gewartet, um uns unsere Grenzen aufzuzeigen. Als wollte es uns sagen: »Was? Ihr zwei Spargeltarzane wollt mich pilgernd bezwingen? Auf dem Wasser? Euch zeige ich erst mal meine ungemütliche Seite.« (BILD 5)

Vor meinem Aufbruch sprach ich mit einer alten Freundin über die Tour – sie ist mit ihren 90 Jahren tatsächlich alt, hat im Krieg ihre drei Brüder und ihren Vater verloren, hat sich der Spiritualität gewidmet und eine Weisheit erreicht, wie sie vermutlich nur wenige Menschen mit ganz besonderen Schicksalen erlangen. Sie riet mir, ich solle für eine solche Reise einen bien compañero mitnehmen. Also einen Freund, zu dem eine gewisse Seelenverwandtschaft besteht. Wenn sich für die Reise ein solcher Freund nicht finden lasse, solle ich lieber allein reisen. Als Zweites riet sie mir, nicht in Zeiten von Krieg oder Seuchen loszuziehen. Denn dann würde die lebenswichtige Infrastruktur für Pilger nicht funktionieren. Als Drittes: Absolut fit in dieses Abenteuer zu gehen. Und damit meinte sie nicht nur körperlich, sondern vor allem auch psychisch. Ich müsse bereit sein, alles anzunehmen, was mir das Schicksal biete – gut oder schlecht. Ein stabiler Magen sei auch von größtem Vorteil. Viertens möge ich es mit der Nahrungsaufnahme nicht zu genau nehmen. Auf solchen Touren gehe es darum, genügend Nahrung zu sich zu nehmen. Für Vegetarier-Schnickschnack oder gar vegane Eskapaden sei dann kein Raum. Fünftens solle ich mich ausschließlich tagsüber fortbewegen, vor allem nicht nachts aufs Meer gehen. Es sei kein Ort für nächtliche Ausflüge, selbst wenn dann das Wetter besser sein sollte und die Sonne nicht so brenne. Und ein letzter Tipp: Ich möge in der Furcht vor Gott pilgern. Wenn dies altmodisch klinge, so solle ich diesen wichtigsten Ratschlag für mich so interpretieren, dass ich ihn verstünde. Ich solle mich auf die Wandlung freuen, sagte sie, denn diese komme auf einer längeren Pilgerreise mit absoluter Sicherheit.

Ihre Ratschläge gehen mir draußen auf dem Wasser nicht aus dem Sinn. Vor allem der letzte: Ich solle in der Furcht vor Gott pilgern.

Dabei glaube ich noch nicht einmal an Gott – zumindest nicht an einen religiösen Gott. Vielleicht sollte ich das Wort Gott mit »Existenz« oder »Universum« gleichsetzen, wobei mir diese Begriffe zu gekünstelt erscheinen. Für mich passt »alles, was ist« ganz gut. Oder soll ich der Einfachheit halber doch lieber Gott sagen? Wenn ich diese Wellenberge um mich herum sehe, bekomme ich zumindest Furcht – aber ist es die Furcht vor Gott?

Wer ist Gott überhaupt? Und was will er? Wenn ich mir vorstelle, ich wäre Gott – man möge mir diesen Gedanken verzeihen, dann würde ich von den Menschen erwarten, dass sie alles aus diesem von mir geschenkten Leben herausholen. Sich also keine Gedanken über die Altersvorsorge machen (für ihr Alter bin ja ich, Gott, zuständig), abends mehr leisten, als die Batterie ihrer Fernbedienung zu wechseln (sie dürfen gerne meine Schöpfung bewundern und einen Spaziergang machen) und weniger lamentieren, jammern, verzweifeln, heulen und streiten. Wäre ich also Gott und hätte den Menschen einen freien Willen gegeben, würde ich mir wünschen, dass sie dieses Leben täglich zelebrieren – ohne Rauschmittel. Dass sie sich von der Schöpfung berauschen lassen und keine Götter haben neben mir. Seid nett und feiert, Leute!

Wie viele Menschen haben mich vor dieser Tour gewarnt? Wer wusste nicht alles Horrormeldungen über das Meer zwischen Frankreich und Spanien zu berichten? Auch ich selbst kann grauenhafte Geschichten von der Biskaya erzählen: 2003 bin ich gemeinsam mit drei Franzosen auf einer 42-Fuß-Segelyacht vom französischen Nantes bis in die Südsee gesegelt. In unserer ersten Nacht auf der Biskaya hörten wir plötzlich Mayday-Mayday-Rufe. Ein französischer Fischkutter war von einem Frachtschiff gerammt worden. Es war Februar, die Wassertemperatur betrug höchstens zehn Grad, sechs Beaufort ballerten übers Meer und zwölf Seemänner ertranken oder erfroren innerhalb kürzester Zeit. Wir waren zu weit entfernt, um helfen zu können. Bis heute rauschen die verzweifelten Funkrufe des Kapitäns durch meine Träume.

Bei meiner zweiten Querung der Biskaya war ich mit einem befreundeten Skipper allein auf einem Katamaran unterwegs. Wir wollten über die Kanaren in die Karibik segeln. Wie so häufig orgelte starker Südwest durch die Biskaya. Wir wechselten uns alle drei Stunden am Steuer ab. Nach fünf Tagen waren wir beide vollständig am Ende unserer Kräfte und beschlossen, im portugiesischen Cascais ein weiteres Crewmitglied an Bord zu holen. Auf unsere Anzeige »Hand gegen Koje« im Internet hatte sich als einziger ein ehemaliger nordkoreanischer Soldat gemeldet. Er sei zwar noch nie auf See gewesen, dafür aber fitter als jeder Turnschuh der nördlichen Hemisphäre. Wir nahmen dieses Kraftpaket also an Bord und hatten kaum die Kaimauer von Cascais hinter uns gelassen, als der Kerl schon über der Reling hing und so laut kotzte, dass wir zunächst dachten, er würde einen Scherz machen. Als wir jedoch sein grünes Gesicht sahen, war klar, dass wir zumindest für die erste Nacht nicht mit unserem neuen Crewmitglied am Steuer rechnen konnten. Als wir fünf Tage später die Kanaren erreichten, hatte er sich immer noch nicht erholt und schwor, nie wieder in seinem Leben ein Segelboot zu betreten.

Jetzt bin ich also zum dritten Mal auf der Biskaya, und dieses Meer zeigt sich heute schlimmer als alles, was ich auf den sieben Weltmeeren bisher erlebt habe. Es müssen Unterwasserströmungen sein, die von den Felsen zurückschwappen, als unkontrollierte Wellenberge an der Oberfläche erscheinen und mein Brett in alle Richtungen durchschütteln. Hinzu kommen die wirr durcheinanderlaufenden Wellen, die von der Steilküste wie Bumerangs zurückschießen und als taumelnde Boxer blind in alle Richtungen hauen. Anders lässt sich dieses Inferno weder beschreiben noch erklären. Da mich Wind und Dünung Richtung Küste drängen, paddele ich fast ausnahmslos auf der linken Seite. Meine Schulter sticht ab der dritten Stunde permanent, was ich aber noch weitere drei Stunden ertragen muss. Ich würde gern zwischendurch eine Pause einlegen, aber an einen Landgang ist hier nicht zu denken, denn die Steilküste trägt ihren Namen zurecht und das Meer würde mich zerschmettern. Wieder wird mir klar, dass wir Menschen Landlebewesen sind. Was treibt mich bloß immer wieder raus aufs Wasser?

Jetzt – beim Schreiben an Land – fällt es mir wieder ein. Auf dem Wasser zu sein, macht mich glücklich. Es gibt nur wenige Dinge, die mich mit einer größeren Freude erfüllen als das SUPen. Sobald ich auf dem Brett stehe, das Paddel ins Wasser steche und vorwärts gleite, überkommt mich ein Glücksgefühl. Vor allem auf dem Meer hat diese Art der Fortbewegung etwas Natürliches, fast Graziles, das mit nichts zu vergleichen ist. Ich stehe auf dem Wasser, komme mit der idealen Geschwindigkeit voran, lasse mit den ersten Paddelschlägen den Alltag hinter mir und bin glücklich. Außer, die Natur spielt nicht mit. So wie heute. Auf einem solchen Abenteuer lebe ich also entweder glücklich oder unglücklich. Es scheint nichts dazwischen zu geben, keine Grauzone. Kein so Lala.

Auf dem Meer wirken Entfernungen anders als an Land. Gerade bei schlechten Bedingungen scheint es geradezu aberwitzig, dass das Ziel immer noch nicht in Sicht ist und ein weiteres Kap umrundet werden muss. Ich sitze im Schneidersitz und kämpfe mit jedem Paddelschlag gegen die Schmerzen in der Schulter an, gegen die Blasen an meinen Händen und Füßen und vor allem gegen die Angst, wegen der Strömung nicht weiterzukommen. Auf meinem linken Arm, der sich in Lee befindet, auf der windabgewandten Seite, trocknet das Meerwasser und hinterlässt einen weißen Salzfilm. Es sieht aus, als würde ich einen Gips tragen.

Während Turtle und ich uns anfangs noch angefeuert haben, paddeln wir nun schweigend nebeneinander her. Es bleibt keine Kraft mehr für Witze oder gutes Zureden. Nur einmal, als die See besonders absurd blubbert, schauen wir uns an und müssen lachen. Was machen wir hier bloß? Warum machen wir das? Wie lange soll das gutgehen? Nach langen, zähen, schmerzhaften Stunden sehen wir ein Frachtschiff vor einer Bucht liegen. Könnte das unser Ziel sein, die enge Passage zur Bucht von Pasaia? Wir müssten doch längst da sein – immerhin paddeln wir hier draußen schon seit fünf Stunden und hatten uns für die erste Etappe noch nicht mal zwanzig Kilometer vorgenommen. (BILD 6) Kurz bevor wir das Schiff erreichen, schmeißt es den Motor an und fährt davon – als würde es vor uns flüchten. Ein Fischkutter fährt an einem riesigen Felsen vorbei und hält irgendwo vor der grünen Küste an. Haben wir uns zu früh gefreut? Müssen wir das nächste Kap auch noch umrunden? Ich denke nicht, dass mir dafür die Kräfte reichen würden. Das Handy herauszuholen und eine unserer Navigationsapps zu checken, kommt hier draußen nicht infrage, denn die Gefahr, dem Hexenkessel das Handy zu opfern, ist viel zu hoch. Doch dann taucht ein Ozeanriese aus dem Nichts auf und verlässt die Einfahrt von Pasaia. Wir sind also doch richtig, müssen aber noch eine Stunde gegen Wind und Strömung durch die brodelnde Kreuzsee paddeln.

Als sich die Passage endlich vor uns öffnet, komme ich mir vor wie in einem Film. An 100 Meter hohen Klippen kreisen Seevögel, ein Fels fällt senkrecht ins Wasser und das Inferno hat sofort ein Ende. Ich sehe Kletterer, Taucher und Spaziergänger, die nichts von alldem ahnen, was da draußen los ist und was wir durchgemacht haben. Wir betreten eine Urlaubswelt aus guten Restaurants, Schnellfähren, Aussichtsbänken und Uferanlagen. Es scheint eine unsichtbare Trennlinie zwischen Land- und Wasserbewohnern zu geben. Beide folgen eigenen Gesetzen und beäugen einander misstrauisch.

Durch eine höchstens 50 Meter breite, von steilen Felsen umgebene Einfahrt gelangen wir in einen riesigen, natürlichen Hafen. Allein für diesen Anblick und dieses Naturparadies hat sich die Quälerei gelohnt.

Nach Stunden im Schneidersitz versuche ich, auf meinem Brett zu stehen. Meine Knochen sind so steif, dass ich fast nicht hochkomme. Als ich schließlich aufgerichtet bin, komme ich mir vor, als würde ich zum ersten Mal auf einem Brett stehen. Das Inferno da draußen hat mein Gefühl für ruhiges Wasser durcheinandergebracht. Wackelig lassen wir uns vom Nordwestwind durch die wunderschöne Bucht treiben, ohne die Paddel ins Wasser stechen zu müssen.

Als wir an einem Steg festmachen und die Bretter anbinden, kommen mir die sechs Stunden Kampf gegen Wind und Welle im Schneidersitz schon fast wie ein Traum vor. (BILD 7) Ich kenne dieses Phänomen: Sobald ich Land betrete, lasse ich die Welt des Wassers hinter mir – und umgekehrt. Das große Paradoxon eines jeden Seemanns ist es, dass er es nicht erwarten kann, abzulegen und in See zu stechen. Doch sobald er draußen ist, möchte er so schnell wie möglich zurück zum Festland.

Die einzige Herberge des Orts hat wegen Corona geschlossen, und ich erinnere mich an den Rat meiner Freundin, nicht in Zeiten von Krieg oder Seuchen zu pilgern – zu spät. Wir beschließen, dem Rummel des Dorfzentrums zu entfliehen und schleppen unser Gepäck und die Bretter mehrere Dutzend Stufen auf einen Berg. Direkt unterhalb einer Kirche auf einer Wiese schlagen wir unsere Zelte auf. Turtle schaut sich seine Füße an: Die Zehen haben vom stundenlangen Knien auf der Oberseite schlimme Blasen davongetragen, und seine Knie sind grün und blau. (BILD 8) Auch meine Füße schmücken Blasen, und kleinere ältere Wunden sind wieder aufgebrochen und sehen eitrig aus. Wir schauen uns besorgt an. So kann es morgen keinesfalls weitergehen.

 

Jetzt ist es zwei Uhr nachts, und das schrille Gebimmel der Kirchenglocke lässt mich nicht schlafen, ermöglicht es mir damit aber, diese Zeilen zu schreiben.

2. TAG: PASAIA BIS SAN SEBASTIÁN

Das Dreiuhr- und das Vieruhrklingeln sind mir entgangen. Ansonsten war die Kirchenglocke über den Dächern von Pasaia mein treuer Begleiter während der gesamten Nacht. Ich liebe Kirchen. Das kann auch diese Kirche mit ihrem Gebimmel nicht ändern.

Vor jedem Abenteuer suche ich am Aufbruchsort eine Kirche auf, setze mich in die dritte Reihe (ich habe am 03.03. Geburtstag), schließe die Augen und warte auf Worte oder Gedanken, die in mir aufsteigen. Meist breitet sich Friede in mir aus, häufig kommt Dankbarkeit für das Leben auf, das ich führen darf, und irgendwann entsteht ein Impuls, der sagt: »Jetzt kannst du gehen.« Dann verlasse ich die Kirche und bedanke mich bei ihr oder meinem Glauben, der keineswegs religiös ist.

In dieser ersten Nacht meines neuen Abenteuers hat mich diese verfluchte Kirchenglocke sicherlich zehnmal geweckt. Schon auf meiner Reise auf der Donau habe ich mich gefragt, was sich die christliche Kirche eigentlich einbildet, einen solchen Lärm zu veranstalten? Lieben wir nicht die Stille der Gotteshäuser? Die Heimeligkeit? Heiligkeit? Die Geborgenheit? Warum also dieser Lärm? Für wen hält sich diese Institution, dass sie jedes Dorf der christianisierten Welt beschallen muss? Noch dazu, um die Uhrzeit zu verkünden. Und das in einer Welt, die vor Hektik langsam verrücktspielt und sich längst von der Kirche abgewendet hat. Trotzdem bleibe ich bei meinem Ritual und danke dem Universum, das es mich in eine Welt mit einer gemäßigten Religion hineingeboren hat, in der ich öffentlich über diese schimpfen darf. Natürlich fragte ich mich in dieser Nacht, was ich hier eigentlich mache. Bin ich nicht langsam zu alt für solche Abenteuer? Doch ich wusste, dass zu einer solchen Tour auch Zweifel gehören. Sie sind wie ein Tunnel, den ich irgendwie durchqueren muss, ohne zu wissen, wie lang er ist und was mich auf der anderen Seite erwartet. Jedes Abenteuer ist ein Sprung ins Leere, in eine unbekannte Welt. Das Seltsame an mir und meinem Charakter ist, dass ich mich stets auf das Unbekannte freue.

Als die Entscheidung fiel, diese Pilgerreise wirklich zu machen, gab es kein Zurück mehr. Ich habe diese Entscheidung nicht anderen oder äußeren Umständen überlassen, sondern selbst getroffen. Alleine für mich – und erst viel später an die Konsequenzen gedacht. Nur so kann ich meine Abenteuer angehen: ich folge meinem Traum; und nicht den Träumen der anderen. Dann würde ich nämlich zu Hause bleiben. Neben dem Geläut hielt mich prasselnder Regen vom Schlafen ab. Keine unserer vielen Wetter-Apps hatte den angekündigt. Spaniens Wetter scheint nicht vorhersagbar zu sein – was mir für die zukünftigen Etappen Sorgen bereitet.

Diese ersten Stunden haben nichts mit einem kleinen, gemütlichen Paddelausflug zu tun. Vom Zelt kann ich die Biskaya sehen – sie sieht nach wie vor schwabbelig-kabbelig aus, und die Schaumkronen wirken von Weitem noch höher als gestern. (BILD 9) Das Wetter ist ebenfalls entgegen allen Vorhersagen katastrophal für unsere Paddeltour Richtung Westen. Heute warten bis zu 19 Knoten aus West auf uns – 35 km/h. Der Tag auf dem Wasser könnte noch schlimmer werden als der gestrige. Ein Abenteuer darf gern zwischendurch eine schreckliche Schinderei sein – aber doch nicht ausschließlich! Ich liege daher in meinem Zelt und weiß nicht weiter. Tausend Fragen steigen auf: Soll ich die Tour abbrechen? Gibt es vielleicht gute Gründe, dass noch nie jemand nach Santiago geSUPt ist? Wie komme ich aus dieser Situation heraus? Der Verlag wartet bis Ende August auf ein fertiges Manuskript. Eine Medienagentur wurde extra eingeschaltet, um die Tour und das im Oktober erscheinende Buch professionell zu promoten. Und ich trage mich mit dem Gedanken aufzuhören? Eine Nachricht meiner Freundin baut mich auf: harte Zeiten gehören dazu. Es kommen auch wunderbare Zeiten. Denk an dein Motto: Wünsche dir da zu sein, wo du bist. (BILD 10)

Ich schlafe noch einmal ein und wache vom prasselnden Regen auf meinem Zelt auf. Er scheint das schrille Kirchengeläut abzumildern. Ich weiß, dass irgendwann der Impuls kommen wird, der mir sagt, was zu tun ist. Gegen zehn weiß ich, dass das Meer wartet – egal wie es sich gebärdet. Ich wollte ein Abenteuer – jetzt habe ich mein Abenteuer.

Zum Frühstücken gehen wir runter ins Dorf. Die Sachen lassen wir im Zelt liegen, da sich bei diesem Wetter sowieso niemand auf unseren Hügel verirrt. In einem Café bemerke ich, dass der Plastikstuhl seltsame Hubbel hat – wer lässt sich so ein Design einfallen? Als ich nachschaue, sehe ich, dass der Stuhl vollkommen glatt ist und keinerlei Unebenheiten aufweist. Ich befühle meinen Hintern und stelle fest, dass meine Sitzbeinhöcker vom stundenlangen Sit-down-Paddeln geschwollen sind und sich unförmig anfühlen. Dann sehe ich Turtles Zehen unter dem Tisch hervorstehen: Vor allem die beiden zweiten und dritten Zehen sehen schlimm aus, denn dort hat sich eine weißliche Kruste auf den Wunden gebildet. Aufgrund des Salzwassers auf unserer Haut gibt es kaum eine Möglichkeit, dass Wunden vernünftig abheilen, da die Kruste immer wieder aufweicht. Wenn sich seine Zehen jedoch entzünden, dann ist unsere Tour definitiv beendet.

Auf dem Weg zum Hafen kommen wir an einem Souvenirladen vorbei, der die berühmten Jakobsmuscheln an langen Tampen hängend verkauft. Ich suche uns die zwei schönsten aus, und die Verkäuferin erklärt mir in perfektem Englisch, warum auf den Muscheln ein Kreuzritterzeichen aufgemalt ist. (BILD 12) »In der Zeit der Kreuzzüge war der Weg nach Jerusalem so unsicher geworden, dass sich Santiago zum wichtigsten Pilgerort der Christenheit entwickelte. Und um die Pilger zu beschützen, gründete sich der Santiagoorden, dessen rotes Kreuz bis heute neben der Jakobsmuschel das wichtigste Symbol des Camino ist.«

Bevor wir uns raus in das bekannte Inferno trauen, müssen wir Turtle unbedingt ein Kajakpaddel besorgen. Denn eine weitere Schicht auf Knien wäre sein Ende. Auf dem gegenüberliegenden Ufer befindet sich eine Kanuschule, die wir direkt ansteuern. Als Turtle fünf Minuten später jubelnd ein Paddel über dem Kopf schwenkt, ist klar, dass wir für weitere Etappen auch bei starkem Gegenwind gut gerüstet sind. Ein Kajaklehrer hat ihm das Paddel einfach geschenkt. Es würde seit Jahren nur rumliegen, und niemand wisse, wem es gehöre. Wäre ich gläubig, würde ich sagen, dass uns der Herrgott das Paddel geschenkt hat.

Um zwölf Uhr sind wir startklar und kämpfen gegen den Wind, der wie eine Düse durch die Bucht peitscht, raus auf die Biskaya. (BILD 11) Die See gebärdet sich wie eine betrogene Diva – sie tobt, spuckt, beißt und kratzt. Sie vermöbelt uns, drängt uns gegen die Wand, wirbelt uns durcheinander und scheint schier außer sich zu sein. Dieser Furie möchte ich nicht im Traum begegnen. Die See hat ihre eigene Sprache; eine ganz spezielle Intelligenz. Und nun tobt sie um mein Brett herum und scheint zu sagen, dass ich mich verpissen soll. Die Ansage ist so deutlich, dass ich mich entschließe, umzudrehen. Auf diese See gehört kein SUP. Ich schaue zu Turtle herüber – er paddelt etwa zehn Meter schräg hinter mir, lächelt ruhig und zufrieden, als freue er sich auf die heutige Etappe. Also sage ich lieber nichts und paddele stumpf im Schneidersitz weiter raus aufs Meer. Manchmal hasse ich meinen Stolz. In diesem Fall rettet er uns die Tour.

Zwischendurch kommen die Wellen günstig, und ich kann durch sie hindurchpaddeln wie beim Skilaufen auf einer Buckelpiste.

Dann habe ich das Gefühl, durch einen Wildwasserfluss ohne Strömung zu brettern, und wundere mich, dass ich nicht vom Brett fliege. Die Dünung ist heute mehr als zwei Meter hoch. Ich tröste mich damit, dass ich in den Wellentälern wenigstens keinen Gegenwind spüre. Nach einer halben Stunde habe ich mich langsam an dieses blubbernde Gequirle gewöhnt und Hoffnung keimt auf, diese Etappe doch noch zu schaffen. Allein wäre ich längst umgekehrt. Doch zu zweit ist das völlig anders: Wenn etwas passiert, ist immer noch jemand zur Rettung da. Wenn es nicht mehr weitergeht, ist immer noch Unterstützung da. Wenn Ängste aufsteigen, ist immer noch jemand zur Beruhigung da.

Turtle ist meine Rettung. Wir kennen uns seit mehr als 20 Jahren. Damals haben wir uns bei einem Dreh für SAT.1 kennengelernt. Er arbeitete als Kameramann für alle möglichen Actionformate weltweit und war einer dieser Typen, deren Coolness ich schon immer bewunderte. Ihn brachte nichts aus der Ruhe, er blieb auch in den stressigsten Momenten gelassen und freundlich und hatte immer ein Auge für die Menschen um ihn herum. Das hat sich nie geändert – vielleicht hat er diese Eigenschaften seitdem sogar noch kultiviert. Ihn in dieser See an meiner Seite zu haben, ist wie ein Geschenk. Vielleicht macht er mich sogar zu einem besseren Menschen.

Die Vorzeichen dieser Reise standen schlecht: Vor einer Woche sagte mir ein Freund ab, der mich mit seinem Wohnmobil auf dem Landweg begleiten wollte. Ihm sind die Auswirkungen seines überaus spirituellen Lebens in die Quere gekommen, denn er deutete auf den angerissenen Zahnriemen seines Pkw, finanzielle Engpässe und Beziehungsthemen als Zeichen des Universums, mich nicht zu begleiten. Ich frage mich, wo die Grenze zwischen Spiritualität und Aberglaube verläuft. Als mich sein Anruf erreichte, spürte ich eine drastische Veränderung meines Innenlebens – als schaltete mein Unterbewusstsein einen Gang höher. Ich war plötzlich wacher, nahm die Reise sehr viel ernster, beschäftigte mich intensiver mit den Wetterverhältnissen auf der Biskaya und plante meine Vorbereitungen mit einer Zuverlässigkeit, die mir sonst nicht zu eigen ist.

Körperlich wollte ich mich auf dieses Abenteuer durch SUP-Surfen in Frankreich vorbereiten. Zwischenzeitlich waren wir 17 norddeutsche Freundinnen und Freunde an einem Strand mit grandiosen Wellen in der Nähe von Biarritz und versuchten, mit den Kräften des Meeres zu spielen und auf den Brechern zu reiten. Ein besseres Training gibt es für mich nicht, denn das Wellenreiten auf einem SUP gleicht einer Fullpower-Ganzkörper-Trainingseinheit, die auch noch Spaß macht. Mir wuchsen Schwielen an den Händen, mein Körper gewöhnte sich an die harte Belastung im Salzwasser, mein Gleichgewichtsgefühl steigerte sich und meine Seele konnte sich langsam darauf einstellen, demnächst mehrere Wochen in diesem brausenden Element zu verbringen.