Wirtschaftsphilosophie

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2.1.2 Aristoteles und die Anfänge der oikonomia

Aristoteles (384-322 v. Chr.), der zweite große Grieche, dem wir hier einige Aufmerksamkeit widmen, steht mit dem ersten Buch seiner Politik am Anfang einer langen, bis in die Neuzeit hineinreichenden philosophischen Literatur zur »Ökonomik«, zunächst also zur gesetzmäßigen, rationalen Leitung des Hauswesens72. Streitigmachen könnte ihm diesen Rang allenfalls Xenophon (ca. 430-355 v. Chr.), der bekannteste Sokratesschüler neben Platon, der immerhin einen nicht unbeachtlichen Oikonomikos, das heißt ein »Gespräch über die Hauswirtschaft« verfaßt hat, in dem Sokrates die Prinzipien für die Leitung eines landwirtschaftlichen Betriebes erläutert. Xenophon hat mit diesem Text nicht nur ein »Lob der tüchtigen Hausfrau« geliefert, die hier in auffallender Weise als Mitarbeiterin des Mannes erscheint, sondern, wie Werner Jaeger es einmal ausgedrückt hat, überhaupt auf »das Land als den niemals alternden Wurzelboden aller Humanität hingewiesen«73. Dennoch erreicht Xenophon wirkungsgeschichtlich wie vom systematischen Gewicht seines Beitrags her den Rang des Aristoteles nicht. Wir wenden uns zunächst dem relativ kurzen Text aus der Politik zu, um dann – vor allem aus Gründen der Wirkungsgeschichte – auch noch auf ein anderes Werk, das zumindest unter dem Namen des Aristoteles überliefert ist, einen kurzen Blick zu werfen74.

2.1.2.1 Ökonomik und Chrematistik in der Politik

Die aristotelische Politik zählt zu den wegen ihrer Prägnanz und Klarheit in der Problemerfassung immer besonders bewunderten Schriften des Denkers aus dem nordgriechischen Stagira, der im Jahre 367 v. Chr. an die Türen der platonischen Akademie klopfte und wegen seiner hohen Begabung auch rasch die Aufmerksamkeit Platons auf sich gezogen hat. Gleichzeitig ist gerade dieses Werk ein Beleg für die Spannung, die zwischen Lehrer und Schüler in vielen Fragen bestand, ja sich zunehmend entwickelt hat. Einer der Haupteinwände des Stagiriten gegen Platon ist, daß dieser bereits in der Politeia die Grundform staatlicher Herrschaft verkannt habe, indem er sie letztlich an der monarchischen Form der Herrschaft im Hause orientiert habe: Aristoteles verwendet hier das musikalische Bild, daß Platon versucht habe, einen Akkord in einen von allen zu singenden gleichen Ton oder einen gegliederten Rhythmus in ein mechanisches Gleichmaß zu verwandeln75. Gegen das platonische Verbot von Privateigentum wird eingewandt, daß damit nicht nur eine Quelle legitimen Vergnügens, das mit der natürlichen Selbstliebe (die etwas anderes ist als ein für die Perspektive des Anderen blinder Egoismus) einhergeht, verstopft, sondern auch die Gelegenheit abgeschnitten wird, sich in der Tugend der Freigebigkeit zu üben76. Schließlich führt Platons Politik auch nicht zur Einheit, sondern gerade zu einer Spaltung des Staates in zwei Staaten, insofern nämlich die Wächter gleichsam als »Besatzer« unter den anderen Bürgern leben; sie bilden einen »Staat im Staate«, statt sich einem vielstimmigen, aber harmonisch geordneten Ganzen einzuordnen77. Diesen Kritikpunkten werden noch eine ganze Reihe anderer angefügt, die teilweise auch aus der praktischen Undurchführbarkeit der platonischen Bestimmungen genommen sind, die jedoch zugleich nicht übersehen lassen sollten, daß Aristoteles seinerseits einen Idealstaatsentwurf verfaßt hat, der in den Büchern VII und VIII der Politik enthalten ist. Wie Platon, der seinen eigenen Weg in die Philosophie aus den unheilbar korrupten politischen Zuständen seiner Zeit begründet hat, denen konstruktiv nur dann etwas entgegengesetzt werden könne, wenn man das Wesen und den tragenden Grund der menschlichen Vergemeinschaftung tatsächlich erkannt hat78, so hält auch Aristoteles die Staatenwelt, wie sie sich zu seiner Zeit und vor seinen Augen darstellte, keineswegs für den Ausdruck eines auch wünschenswerten Zustands. Aber während sein zumindest in der Politik bedeutendster Schüler – Alexander der Große – die Lösung der politischen Zeitfragen in der Errichtung eines auch bis dato verfeindete Nationen umfassenden Imperiums sieht, plädiert Aristoteles, in dieser Hinsicht ein durchaus »konservativer« Grieche und auch in Übereinstimmung mit Platon, für die Abkehr von allem Expansionismus und für einen Staat, der so viele Einwohner und ein so großes Staatsgebiet besitzt, daß sich alle von den Landesprodukten ernähren können, der aber zugleich klein genug ist, daß alles leicht überschaut werden kann79. Der angestrebten Selbständigkeit (Autarkie) des Staates entspricht dabei eine möglichst weitgehende Freiheit der Bürger – zumindest der politisch aktiven, eigentlich freien Bürger. Der wohlgeordnete Staat, sagt Aristoteles, kennt dabei auch keinen »Alleinherrscher (mónarcov), der bei allem, was geschieht, dabei sein müßte, sondern jeder Einzelne tut das Seine, wie es immer schon in der Ordnung ist«80.

Kommen wir aber sogleich zu den wirtschaftsphilosophisch relevanten Fragen! Aristoteles läßt in der Politik den Staat (die »Polis«) als eine Form der Zweckverwirklichung auftreten: dies jedoch nicht in dem »modernen« oder doch neuzeitlichen Sinne, daß der Staat ein »Zweckbündnis« wäre, das z. B. Sicherheit und Wohlstand garantieren soll, sondern in dem Sinne, daß erst in der Form des Staatslebens der Mensch seine Natur als »politisches Lebewesen« in ganzem Umfang verwirklicht81. Außerhalb einer eigentlich staatlichen Gemeinschaft vermag nach Aristoteles nur zu leben, wer entweder weniger oder mehr als ein Mensch ist; der Mensch aber, wie ihn die Natur, übrigens als Krone der Schöpfung82, geschaffen hat, gelangt zu seinem Zweck – einem freien, auf das umfassend Gute ausgerichteten Leben – nur in der (staatlich verfaßten) Gemeinschaft mit seinesgleichen. Der Staat geht in gewisser Weise auch den kleineren Einheiten, aus denen er sich zugleich aufbaut, nämlich der Ehe, dem Haus (zu dem auch die Kinder und Sklaven gehören) und dem Dorf, voraus, wie immer das Ganze seinen Teilen in bestimmtem Sinne vorausgeht83. Zugleich wird er als das umfassende Ganze menschlicher Vergemeinschaftung auf andere Weise beherrscht, als etwa das Haus beherrscht wird: denn im Staat haben wesentlich Freie einen Ausgleich darüber zu finden, wer jeweils für wie lange und in welchen Formen herrschen soll, wer beherrscht sein soll; die bei Aristoteles sonst vorausgesetzten Asymmetrien zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Freien und Sklaven finden hier nicht statt; die »politische Herrschaft wird über von Natur Freie ausgeübt«84. Unterscheidet sich aber auch das Wirtschaften in der Dimension des Staates von der der Hauses – und wenn ja, in welcher Hinsicht?

Aristoteles untersucht die Fragen der Ökonomie vom achten Kapitel des ersten Buchs der Politik an. Wichtig ist zunächst die grundlegende Unterscheidung zwischen der »Kunst der Haushaltsführung«, der »Ökonomik«, auf der einen, und der »Beschaffungskunst«, der »Chrematistik«, auf der anderen Seite85. Dabei wird herausgestellt, daß eine ganz bestimmte Art der »Erwerbskunst« (kthtikä) durchaus zur Ökonomik gehört, nämlich die unmittelbare Produktion derjenigen Güter, »die für das Leben unerläßlich sind und der staatlichen und häuslichen Gemeinschaft förderlich (cräsimon) sind«86. Wie es kein Lebewesen gibt, das nicht sozusagen von Natur schon auf eine bestimmte Nahrung angewiesen, ja zunächst auch mit ihr versorgt wird, so sind auch die »Lebenseinheiten« des Hauses und des Staats gehalten, sich die Mittel ihrer Subsistenz durch eigene Tätigkeit zu beschaffen – etwa der Hausherr, der in der im wesentlichen agrarisch bestimmten Welt beheimatet ist, die Aristoteles vor Augen hat, indem er Landbau, Vieh- und Bienenzucht betreibt; der Staat, indem er auch auf anderen Gebieten, etwa beim Bergbau oder mittels der Ermöglichung des Handels durch Einführung der Münze, die Bereitstellung der lebensnotwendigen Güter bzw. des für das Gemeinschaftsleben Erforderlichen besorgt. Aristoteles spricht für diesen Bereich der, wie wir sagen können, »Elementarwirtschaft«, von »wahrhaftem Reichtum«, der genau dadurch definiert ist, daß mit ihm »ausreichende Mittel für ein gutes Leben« bereitgestellt sind87. Im Griechischen erscheint hier das Wort au¬tárkeia, also »Autarkie«, die, wie erwähnt, Aristoteles tief in der Natur verwurzelt sieht (das Ei beispielsweise ist Ausdruck der »Absicht« oder des Zwecks der Natur, dem Jungen die »Autarkie« zu ermöglichen) und die jetzt zugleich den Sinn und Zweck der Erwerbswirtschaft definiert. Der »wahrhafte Reichtum« ist nämlich der, welcher der Selbständigkeit des Hauses oder des Staates als Mittel dient, der also nicht selbst als Zweck angesehen und gesucht wird, sondern umgekehrt vom Zweck der häuslichen bzw. staatlichen Gemeinschaft her seine Limitation empfängt. Ähnlich wie bei Platon begegnen wir hier wiederum einer (zunächst noch ganz abstrakten) Warnung vor einer Verselbständigung des Erwerbs zu einem Erwerb um des Erwerbs willen, in der sich auch hier die urgriechische Furcht vor einer »schlechten Unendlichkeit«, einem »Grenzenlosen« artikuliert, das in die natürlichen oder doch auf die Natur bezogenen Ordnungen einbrechen und sie zerstören kann. Aristoteles beruft sich auf die Autorität Solons, der mit dem Wort »Keine sichtbare Grenze des Besitzes ist den Menschen festgelegt«88 bereits davor gewarnt hatte, beim Erwerb ins Ungemessene zu streben. Denn wir erwerben niemals den Zweck unseres Daseins, sondern nur die Mittel, ihn zu verwirklichen – Mittel aber sind bei der wirklichen (nicht vielleicht der imaginären) Realisierung des Zwecks immer endlich viele: kein Handwerker, der eine ganz bestimmte Aufgabe erfüllen soll und dies auch kann, benötigt dazu, unendlich viele Mittel, im Gegenteil halten wir sogar den für den geschicktesten, der mit den wenigsten Mitteln zu seinem Zweck kommt. Wenn wir, was Aristoteles hier lehrt, sogleich auf eine aktuelle Ebene extrapolieren, heißt dies, daß für Aristoteles eine bloße Expansion der Wirtschaft (im Sinne eines unbeschränkten ökonomischen Wachstums) nicht nur kein Ziel der Wirtschaftspolitik sein kann, sondern daß damit sogar alle Wirtschaftspolitik untergraben, nämlich der Staatszweck (das wirkliche Gute) untergraben wird. Der Zweck des Staats, die Realisierung der Gemeinschaftsnatur des freien Menschen in seiner höchsten Ausprägung, wird hier vielmehr zum einen – auf die Unendlichkeit – vertagt, zum anderen aber in der »kleinen Münze« der Erweiterung unseres Mittelbestandes ausgezahlt, so als ob der Besitz von 1000 Zangen besser wäre als der von 10, mit denen der Klempner sehr wohl zu seinem Zweck kommen kann. Damit ist sicher nicht gesagt, daß ein für allemal feststünde, wo genau die konkrete Grenze des »wahrhaften Reichtums« verläuft, das heißt bis zu welchem Punkt vor allem auch der Staat den Mittelerwerb besorgen oder begünstigen soll. Aber es ist gesagt, daß es diese Grenze in jedem Fall gibt und sie deshalb auch gefunden werden kann – man wird es als Aufgabe eben der konkreten Politik anzusehen haben, sie zu bestimmen.

 

Aristoteles geht dann jedoch noch einen Schritt weiter. Es geht nämlich, insbesondere für den Staat, nicht nur darum, diese »Wachstumsgrenze« auch konkret zu finden, sondern ebenso darum, eine unkontrollierte Expansion der »Beschaffungskunst« als solcher effektiv zu unterbinden. Die »Chrematistik«, von der jetzt ausführlich die Rede ist (und die uns an die »Chrematisten« erinnert, die wir bei Platon schon kennengelernt haben), lebt von dem problematischen Grundsatz, daß »dem Reichtum und Besitz keine Grenze gesetzt« sei89. Gerade, weil sie keine immanente Grenze kennt, ist sie nach Aristoteles eine »nicht-natürliche« Art der Erwerbskunst – eine Art der Erwerbskunst, in der sich, wie wir auch durchaus positiv wertend sagen können, zunächst einmal die »Emanzipiertheit« des Menschen von der Natur, sein Freiheitswesen manifest wird, das sich über die Vorstellung eines unendlichen Erwerbs zu Tätigkeitsformen motivieren lassen kann, die in der Tat nicht mehr nach Analogie des Verhältnisses von Küken und Ei oder von einer generell fürsorglichen Natur her zu verstehen ist; tatsächlich wird sich zeigen, daß in der Neuzeit eher eine Skepsis gegenüber der Natur herrschend wird und der Mensch sein Wirtschaften gerade auch im Sinne einer der Natur abgetrotzten Selbsterhaltung, nicht als Vollstreckung ursprünglicher Naturimpulse versteht. Rein systematisch können wir insofern (gegen Aristoteles) festhalten, daß sich – zunächst unabhängig von allen sonstigen moralischen Aspekten, die hier ins Spiel gebracht werden können – im unbeschränkten Erwerb überhaupt die Willkürfreiheit des Menschen meldet, die eben darin als Willkürfreiheit manifest ist, daß sie sich auch gegen den Naturzweck bestimmen und diesen nicht als unabänderlich hinnehmen muß. Das Pathos des neuzeitlichen Denkens der Freiheit im Wirtschaften wird, wie wir ebenfalls noch sehen werden, sich zu einem guten Teil daraus speisen, daß die Neuzeit dem Menschen auch im Bereich des Wirtschaftens als einer Art von Kulturtätigkeit die Erfahrung seiner Subjektivität (was mehr und anderes meint als nur materielle Genüsse) eröffnen will. Gerade auf dieser Ebene kommt es aber zu einem wohl dauernden Mißverstand zwischen Aristoteles als einem Repräsentanten des griechischen Maßgedankens und den Neueren, da es im aristotelischen Sinne einen Selbstwert der Subjektivität rein als solcher nicht gibt noch geben kann. Dieser Dissens zwischen den »Antiqui« und den »Moderni« ist übrigens um so bedauerlicher, als die Neueren umgekehrt durchaus Anlaß hätten, sich die (nicht immer bestens beleumundete90) Argumentation des Aristoteles im neunten Kapitel des ersten Buches der Politik zur Chrematistik zu Herzen zu nehmen. Wir machen uns klar, worum es hier eigentlich geht!

Die Chrematistik im Sinne einer nicht natürlichen Erwerbskunst steht in einem bestimmten Analogieverhältnis zu der natürlichen und legitimen, sie ist »mit ihr weder identisch, noch liegt sie weit ab von ihr«91. Ihren Ursprung hat die »unnatürliche« Erwerbskunst in der Erfahrung und Kunstfertigkeit (técnh) des Menschen – darin also, daß der Mensch etwas hervorzubringen vermag, was die Natur gerade nicht hervorbringt92. Da der Mensch jedoch für alle seine Hervorbringungen auf die Natur angewiesen ist (er kann nicht »ex nihilo« schaffen, sondern bedarf eines naturgegebenen Materials, an dessen immanente Gesetze er sich auch anpassen muß), ist »Technik« stets eine wesentlich nicht dem unmittelbaren Naturzweck gehorchende Formierung des unmittelbar natürlichen Materials. Dabei muß es in irgendeiner Hinsicht zu einer Abstraktion von der natürlichen Ordnung der Dinge kommen, die Aristoteles jetzt auch für die Chrematistik nachweist. Er unterscheidet einen »doppelten Gebrauch«, den man von jedem Gut machen kann: einen solchen, der der inneren Zweckbestimmung dieses Guts bzw. Objekts, das ein Gut repräsentiert, entspricht, und einen solchen, der dieses Gut unter eine äußere Zweckbestimmung zwingt, die mit seiner eigentlichen Bestimmung nichts zu tun hat. Das ist beispielsweise – wir nehmen zuerst das eigene Beispiel des Philosophen – bei einem Paar Schuhe so, das der Händler nicht deshalb anschafft, weil er damit gehen (sie also ihrem inneren Zweck entsprechend verwenden), sondern weil er es gegen ein anderes Objekt eintauschen bzw. weil er es gewinnbringend verkaufen will. Der Blick des Händlers auf die Schuhe ist von daher auch ein wesentlich anderer als der des Schusters oder der der Person, die die Schuhe tatsächlich benutzen will. Zwar wird der Händler, um zu seinem Zweck zu kommen, auch das Interesse seines Kunden berücksichtigen müssen; dennoch ist dessen Interesse nicht sein Interesse, was der Kunde übrigens im Nachhinein auch immer wieder einmal zu spüren bekommen kann. Geschmacksfreie Tomaten sind nicht einfach »in den Handel gekommen«, sie sind durch den Handel und dessen Interessen z. B. an langer Lagerfähigkeit oder äußerem Aussehen tatsächlich erst erzeugt worden. Aristoteles unterstreicht, daß in der Tat jedes Gut Warencharakter annehmen kann – auch wenn ursprünglich kein Gut zum Zwecke des Tauschhandels in der Welt ist, die Frucht der Tomatenstaude (die den Naturzweck repräsentiert) so wenig wie der Schuh (der den unmittelbar ökonomischen, jedoch nicht den chrematistischen Zweck repräsentiert). Das bedeutet zuletzt, daß die Chrematistik dazu angetan ist, die kategoriale Ordnung der Welt durcheinander zu bringen – nämlich immer dann, wenn sie in der Einübung des Blicks auf den der Sache äußeren Zweck den Menschen dazu bringt, den inneren, auch seinen inneren, zu vergessen. Auch wenn Aristoteles sich eine Durchökonomisierung der Lebenswelt, wie wir sie heute kennen – einer Welt, in der vom einfachen Brunnenwasser bis zu den Radiowellen, von der embryonalen Stammzelle bis umweltschädlichen Emissionen, von Schuldscheinen bis zu Firmenanteilen alles »handelbar« und darum »käuflich« geworden ist –, gewiß nicht hat vorstellen können, sieht er dennoch scharf das Problem, das mit der Verschiebung unseres Blicks auf die Welt vom inneren hin zum äußeren Zweck entsteht: das Problem, daß den Dingen so nämlich kein Selbstsein mehr zugesprochen werden kann, sondern sie in bloßen Relationen auf arbiträre Zwecke aufzugehen beginnen. Um zu verstehen, wieso es zu dieser Verschiebung im Blick kommen konnte, zeichnet Aristoteles die Geschichte des menschlichen Tauschhandels nach: am Anfang stand hier die Erfahrung von der ungleichen Güterverteilung, die durch den Handel ausgeglichen wird. Daher gibt es die mit der Chrematistik entstehende »Entfremdung« im Haus auch noch nicht, da hier alle an den gleichen Gütern teilhaben und kein Ausgleich erforderlich ist. Das ist vielmehr erst dann der Fall, wenn die Menschen »getrennt voneinander leben« und dabei »viele Güter von jeweils unterschiedlicher Art« besitzen93. Es entsteht so der unmittelbare Tauschhandel, den Aristoteles noch bei den Barbaren seiner Zeit findet und bei dem ein nützliches Gut gegen ein anderes eingetauscht wird – Getreide z. B. gegen Wein, Wolle gegen Öl oder um welche elementaren Güter es sonst gehen kann. Ausdrücklich wird vermerkt, daß ein Tauschhandel dieser Art noch nicht »naturwidrig« ist94, was auch dadurch verständlich ist, daß hier ein konkretes Elementarbedürfnis gegen ein anderes, nicht aber ein konkretes Bedürfnis gegen die abstrakte Idee einer unbestimmten Bedürfnisbefriedigung aufgewogen wird; dieser Tauschhandel dient der »Autarkie«, dem Genügen, und er bedient gerade nicht das ewige Ungenügen, das Gewinnstreben ohne inneres Ziel. Dennoch mußte in gewisser Weise die Chrematistik aus der gesunden Ökonomik entstehen: dann nämlich, als man die Handelsbeziehungen immer weiter ausdehnte und dabei dazu überging, das Münzgeld (nómisma) einzuführen. Dem Gedanken, daß das (Münz-)Geld für den Außen- bzw. Fernhandel erforderlich ist, sind wir schon bei Platon begegnet95, und wir dürfen dabei nicht übersehen, daß Platon und sein Schüler sich hier auf eine kulturgeschichtlich recht neue Errungenschaft beziehen: denn wenn es alte Formen des Geldes wie das Kleider-Geld, Leergeld usw. im Sinne eines Wertmessers für Güter oder Dienstleistungen schon im alten Orient gegeben hat, taucht das Münzgeld doch erst in der 2. Hälfte des siebten Jahrhunderts v. Chr. in Kleinasien auf96; ab 500 v. Chr. schuf dann der Perserkönig Darius I. mit dem Dareikos, einer Goldmünze, und dem Siglos, seinem silbernen Gegenstück, das erste mehr als lokal akzeptierte Geld. Im fünften Jahrhundert schließlich, teilweise auch noch zu Platons und Aristoteles’ Zeiten, beherrschte die athenische Silbermünze, der Stater bzw. das Tetradrachmon, den Mittelmeerhandel weitgehend, und Alexander der Große hat in seinem eigenen Reich nach persischem Vorbild eine Einheitswährung eingeführt, die sich auf den athenischen Münzfuß stützte. Aristoteles nun sieht am Anfang des Geldwesens eine »Vereinbarung« stehen, die darin bestand, daß ein bestimmter, selbst »brauchbarer« Gegenstand (etwa Eisen oder Silber) gegen die jeweils zu handelnden Güter ausgetauscht werden sollte. Über den Wert sollte dabei Größe und Gewicht (des Metalls) entscheiden, bis man durch Münzprägung dazu überging, das jedesmalige Gegenwiegen überflüssig zu machen. Das Geld besitzt damit zunächst eine doppelte Eigenschaft: es ist einerseits selbst Ware bzw. Gebrauchsgegenstand von bestimmtem Wert (und nicht nur Zeichen für einen Wert, wie es im Falle der späteren »nominalistischen« Geldtheorien der Fall sein wird); es ist aber andererseits eigentlich Geld oder in Geltung erst dadurch, daß es kraft Konvention97 an Stelle beliebiger Tauschobjekte eingetauscht werden kann, also das allgemeine Tauschobjekt ist98. Die Existenz dieses allgemeinen Tauschobjekts wird dann jedoch das Einfallstor jener »technischen«, auf die Erfahrung der Händler gestützten Reflexion, die nicht mehr im Tausch das eigene Bedürfnis, sondern den Tausch selbst zum Thema macht und dabei den Tauschgewinn zu optimieren versucht. Das Geld wird jetzt das Werkzeug des »Tauschtechnikers«, der seine Subsistenz nicht in dem gleichen Sinne »durch den Tausch« sichert, wie dies noch etwa in der reinen Naturalienwirtschaft der Fall war. Ähnlich, wie man Schuhe in zweifacher Hinsicht »verwenden« konnte, nämlich einmal als Mittel für eine perfektionierte Fortbewegung, dann auch als Mittel des Erwerbs überhaupt, so kann man auch den Tausch in zweifacher Hinsicht vollziehen: einmal sozusagen im Blick auf das Objekt und »material«, dann aber auch im Blick auf das Tauschen selber oder »formal«99. Der Zweck des Händlers ist dabei immer das Geld – nicht die Sache, nicht das konkrete Bedürfnis, nicht die Autarkie, sondern die Relationalität aller Dinge, die ihre Substantialität hier gleichsam zu überlagern beginnt. Aristoteles kommt hier auf den König Midas der Sage zu sprechen, dem sich alles, was er berührte, in Gold verwandelte, so daß er am Ende nichts mehr zu essen hatte und so gerade an seiner Geldgier zugrunde ging. Die Sage wird hier zum Bild für ein nicht mehr substantiell gehaltenes, für ein »nihilistisches« Weltverhältnis, das in demselben Maße, wie es kein Selbstsein der Dinge mehr kennt, auch in den Selbstverlust im verabsolutierten Tauschgeschehen führt. Noch einmal wird darauf hingewiesen, daß die auf den bloßen Gewinn abzielende Erwerbskunst »grenzenlos« (a¢peirov) ist100. Das hat sie zwar in gewisser Weise mit anderen »Künsten« oder »Techniken« gemein, denn auch die Medizin ist, insofern sie sich stets vervollkommnen kann, »grenzenlos« – was uns heute, etwa im Falle eines technisch fast unbegrenzt lange hinauszuzögernden Sterbens, auch schon verhängnisvoll scheinen kann. Aber während die Medizin durch ihren Zweck, die Wiederherstellung der Gesundheit, doch auch wieder begrenzt ist (die Gesunden bedürfen des Arztes nicht), ist die Chrematistik es nicht auf die gleiche Weise – wohl aber die eigentliche Ökonomik, der es niemals um unbegrenzten Reichtum zu tun ist101. Aristoteles präzisiert noch einmal den Punkt, um den es hier zuletzt geht: während es dem Erwerbsstreben, das von inneren Zwecken geleitet ist (dem Sachzweck, z. B. der Schuhe, ebenso wie dem Hauptzweck der Ökonomie, der Autarkie) und das deshalb auch eine Grenze hat, um das wahrhaft gute Leben geht, geht es seinem Pendant, das alles dem äußeren Zweck des perfektionierten Tausches und damit des im Prinzip »unendlichen« Gelderwerbs subsumiert, nur um das Leben überhaupt, das hier in gewisser Weise in Form einer blinden Begierde (e¬piqumía) erstrebt wird102. Allenfalls ist das »Gut«, das der »reine« Chrematist erstrebt, selbst das Objekt blinder Begierde, das heißt er erstrebt »das Leben in körperlichen Lüsten«, ist also ein Hedoniker, der zugleich »alle Künste«, die es in einem Gemeinwesen sinnvollerweise gibt, also z. B. auch die Medizin oder die Feldherrenkunst, zu »Mitteln« macht, »Gewinn zu erzielen«103. Es ist höchst aufschlußreich, daß Aristoteles hier in wenigen Worten, aber äußerst präzise zwei Hauptmerkmale gerade auch der neuzeitlichen Entfaltung des ökonomischen Prinzips, wie wir sie bei Autoren wie Jeremy Spencer und John Stuart Mill wiederfinden, umreißt: zum einen die Koppelung von (isoliertem) Ökonomie- und Lustprinzip, was gleichbedeutend ist mit der Tatsache, daß der vielleicht entscheidende Motivationshorizont des Ökonomischen und seiner Proliferation (im neuzeitlichen Sinne) der Hedonismus ist; zum anderen aber die Feststellung, daß das Ökonomieprinzip auf eine universelle Anwendung hin angelegt ist, weshalb denn auch von der ökonomischen Klassik an die Ökonomen einen umfassenden Anspruch auf die Erklärung, ja die Gestaltung gesellschaftlicher Zusammenhänge erheben, der in dieser Form der aristotelischen Überordnung der Politik über die Ökonomik bzw. Chrematistik gerade entgegengesetzt ist. Diese Überordnung versteht sich zuletzt daraus, daß bei Aristoteles die Politik ethisch gebunden bzw. selbst eine Disziplin der Ethik ist. Die aristotelische Politik weiß in diesem Sinne überhaupt um das Gute wie speziell um das für den Menschen seiner Natur nach Gute; sie weiß, daß es sich dabei um ein der Eudämonie, das heißt dem selbstbewußten und vernunftgemäß darstellbaren Glück korreliertes Gutes, nicht einfach um die Befriedigung unmittelbarer Begierden handelt104. Aus dieser ethischen Rückbindung des menschlichen Wirtschaftens ergibt sich bei Aristoteles dann übrigens auch eine klare Abstufung menschlicher Produktiv- und Erwerbstätigkeit ihrem Rang nach. Den höchsten Rang nehmen klarerweise jene Tätigkeiten ein, die am nächsten bei der Natur bzw. der »Aufgabe« (e¢rgon) der Natur stehen, den Menschen mit dem Notwendigen zu versorgen – also Viehzucht und Ackerbau, wozu dann noch, neben dem Fischfang oder der Geflügelhaltung, die (in der Antike von Homer bis Plinius d. Ä. ja gemeinhin hochgeschätzte) Bienenzucht tritt105. Die zweite Stufe nimmt dann die Rohstoffbeschaffung wie etwa im Bergbau oder in der Forstwirtschaft ein, die beide bereits in den Handel übergehen, der die dritte und niedrigste Stufe des Erwerbs darstellt: er reicht vom Fernhandel, wie ihn der Reeder betreibt, und dem Fuhrunternehmer bis zum Einzelhändler am Markt – und wird »nach unten« noch durch den »Geldverleih gegen Zinsen« sowie die Lohnarbeit teils der Handwerker, teils ungelernter Kräfte unterboten. Wir erwähnen hier nur noch, daß Aristoteles bereits im zehnten Kapitel der Politik erinnert hatte, daß der Wucher (also der Erwerb aus dem Verleihen von Geld) mit Recht allgemein »gehaßt« werde: denn so, wie das Geld schon als solches den Charakter der Gegenstände verändert, die es zu Tauschobjekten macht (wir denken noch einmal an den Schuhhändler, der Schuhe nicht zum Gehen anschafft), so entsteht eine regelrechte »Perversionsspirale«106, indem nun das Geld, das eigentlich zur Erleichterung des Tausches bereitgestellt wurde, selbst Gegenstand von Tauschhandlungen wird und sich dabei »vermehren« soll. Die mittelalterlichen Wucherverbote werden – neben ihrem religiösen Ursprung – hier ansetzen und sich auf den Stagiriten berufen können. Wir halten für unsere Zwecke fest, daß es nach Aristoteles jedenfalls eine axiologische Stufung in den menschlichen Wirtschaftsweisen gibt, der entsprechend der Mensch in der einen oder der anderen dieser Weisen seinem eigentlichen Ziel – der Glückseligkeit – näher oder ferner sein kann. Die höheren Stufen sind dabei jene, die sowohl der Natur und dem natürlichen Bedürfnis näher stehen als auch die Dinge in ihrer primären Sachlogik nehmen; die niederen die, die tendenziell eine widernatürliche (parà fúsin) Ordnung der Dinge etablieren und die Dinge in einer »Sekundärlogik« nehmen, mit deren Etablierung nach Aristoteles stets der Einbruch einer schlechten Unendlichkeit und allenfalls des Hedonismus droht. Für den wahrhaft freien Menschen ist entsprechend die Grenze seines wirtschaftlichen Interesses mit der Besorgung der eigenen Autarkie und seines Hauses gezogen. Einer so verstandenen »Ökonomik« geht es dann, wie Aristoteles unterstreicht, »mehr um die Menschen als den unbeseelten Besitz, mehr um die Tugend als den Besitz, der Reichtum heißt«107. Die Frage, ob die sich hier aussprechende Position nur »historisch« zu verstehen ist und mit der sich selbst entfaltenden Dynamik der »schlechten Unendlichkeit« einer vom Maß der Polis und gar des Hauses emanzipierten Ökonomie verschwinden mußte, lassen wir für den Moment ohne Antwort – vergessen aber die ersten kategorialen Resultate, die Aristoteles für den Begriff der Wirtschaft entfaltet hat, nicht.