Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Impressum

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung durch den Autor reproduziert werden, egal in welcher Form, ob durch elektronische oder mechanische Mittel, einschließlich der Speicherung durch Informations- und Bereitstellungs-Systeme, außer durch einen Buchrezensenten, der kurze Passagen in einer Buchbesprechung zitieren darf.

Autor und Verlag waren um größtmögliche Sorgfalt bemüht, übernehmen aber

keine Verantwortung für Fehler, Ungenauigkeiten, Auslassungen oder Widersprüche.


5. überarbeitete und erweiterte Auflage

10/2020

© J-K-Fischer Versandbuchhandlung Verlag und

Verlagsauslieferungsgesellschaft mbH

Im Mannsgraben 33

63571 Gelnhausen Hailer

Tel.: 0 60 51 / 47 47 40

Fax: 0 60 51 / 47 47 41

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.j-k-fischer-verlag.de

Layout, Satz/Umbruch, Bildbearbeitung:

Lettero Verlagsservice, Rheine, www.lettero.de

ISBN 978-3-941956-95-7

Jegliche Ansichten oder Meinungen, die in unseren Büchern stehen, sind die der Autoren und entsprechen nicht notwendigerweise den Ansichten des J-K-Fischer-Verlages, dessen Muttergesellschaften, jeglicher angeschlossenen Gesellschaft oder deren Angestellten und freien Mitarbeitern.

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch:

Vorwort

Einleitung

Teil 1: Putins berühmtesten internationalen Reden und die Geopolitik

Bundestagsrede vom 25.9.2001

Münchener Sicherheitskonferenz

UNO 2015

Wie sich Putin und seine Politik zwischen den drei Reden von 2001 bis 2015 veränderten

Wie Putins Ideen mit den Interessen der USA kollidieren

Geopolitik

Teil 2: Putins Sicht auf die wichtigsten internationalen Themen der letzten Jahre

Kaukasus-Krieg

Ukraine

Sanktionen

Syrien

Migranten und das Ende des westlichen Liberalismus

Terrorismus

Verhältnis zum Westen

Wahlbeeinflussung

An die Presse

Über den 2. Weltkrieg

Iran

Klima und Energie

Finanzkrise 2008

Wirtschaft und Dollar

Privates

Teil 3: Die Valdai-Konferenzen

Valdai 2013

Valdai 2014

Valdai 2015

Valdai 2016

Valdai 2017

Quellen

Zum Buch:

In den westlichen Medien wird viel über Putin geschrieben. Aber Putin kommt praktisch nie selbst zu Wort und wenn doch, dann stark verkürzt. Man kann Putin mögen oder auch nicht, aber man sollte wissen, was Putin selbst zu den drängendsten Fragen unserer Zeit sagt, um die Entscheidung darüber treffen zu können.

Thomas Röper lebt seit 1998 überwiegend in Russland, spricht fließend Russisch und lässt den russischen Präsidenten Vladimir Putin selbst in diesem Buch in ausführlichen Zitaten zu Wort kommen.

Sehen Sie, was Putin zu den drängendsten internationalen Problemen sagt, ob zu Syrien, der Ukraine, der weltweiten Flüchtlingskrise, zu dem Verhältnis zu Europa und Deutschland oder auch zu Fragen der Pressefreiheit. Putins Aussagen einmal komplett zu lesen, anstatt nur Zusammenfassungen oder aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitte zu lesen, ergibt eine interessante Sicht auf die Probleme der heutigen Welt.

Das Ergebnis ist eine schonungslose Kritik an der Politik des Westens, wenn Putin die Dinge mal mit Humor und mal mit bitterem Ernst deutlich beim Namen nennt, denn – egal ob dies gut oder schlecht ist – er ist kein Diplomat und findet sehr deutliche und unmissverständliche Worte. Putin redet nicht um den heißen Brei herum und nach dieser Lektüre kann jeder für sich entscheiden, wie er zu Putins Thesen steht.

Aber um diese Entscheidung treffen zu können, muss man erst einmal wissen, was Putin tatsächlich selber sagt und denkt. Und ob seine Positionen einem gefallen oder nicht, eines ist unstrittig: Seine Positionen sind seit 18 Jahren unverändert.

Machen Sie sich selbst ein ungefiltertes Bild von dem, wofür Präsident Vladimir Putin steht!

Vorwort

Ich möchte hier kein langes Vorwort schreiben, sondern nur kurz auf die Frage eingehen, warum ich dieses Buch geschrieben habe.

Wenn man sich eine Meinung über jemanden bilden möchte, muss man wissen, was der Mensch sagt und denkt. Ob man ihn dann mag oder nicht mag, ist jedem selbst überlassen. Aber man sollte zumindest wissen, wofür er steht, um die Entscheidung darüber zu treffen, ob man sich der Meinung anschließen kann oder nicht.

Ich kenne Russland seit 1991 und habe seit 1998 fast ununterbrochen in Russland gelebt. Entsprechend spreche ich inzwischen auch gut Russisch. Und mir ist aufgefallen, dass in Deutschland zwar viel über Putin geschrieben wird, aber er selbst kommt fast nie zu Wort. Und wer kein Russisch versteht, hat kaum eine Möglichkeit, sich darüber zu informieren, was Putin eigentlich selbst über wichtige aktuelle Themen sagt.

Hinzu kommt – dafür werden wir in diesem Buch einige Beispiele finden –, dass Interviews mit Putin im Westen so verkürzt werden, dass der westliche Zuschauer zwar glaubt, er habe die Aussagen Putins gehört, in Wirklichkeit werden sie aber so aus dem Zusammenhang gerissen oder so zusammengeschnitten, dass sich nicht selten der Sinn des Gesagten verändert.

Daher hatte ich die Idee, einfach ein Buch mit Zitaten von Putin zu schreiben, einfach ihn selbst ganz ungefiltert zu Wort kommen zu lassen. Leider stellte ich schnell fest, dass das gar nicht so einfach ist, denn nicht jeder in Deutschland kennt die jüngere russische Geschichte und die Situation im Land selbst. Oft weiß man gar nicht mehr, wann eigentlich z. B. die Ukraine-Krise war. Aber um die Aussagen eines Politikers zu verstehen, muss man auch wissen, in welchem Zusammenhang er etwas gesagt hat. Und so kam es, dass ich doch eine Menge Erläuterungen einfügen musste. Aber ich versuche, diese so kurz wie möglich zu halten.

Das Buch besteht daher nun aus drei Teilen. Im ersten Teil zitiere ich nach einer Einleitung über Russland und seine jüngere Geschichte aus den drei wichtigsten internationalen Reden Putins. Diese Reden sind interessant, weil sie aufzeigen, wie sich seine Sicht auf die internationale Politik mit den Jahren verändert hat.

Im zweiten Teil handele ich verschiedene Themen ab, zu denen sich Putin geäußert hat. Auch hier kann man, zum Beispiel bei den Themen Ukraine und Syrien, gut sehen, wie sich seine Rhetorik mit der Zeit veränderte und auch, ob und wie seine Aussagen zu seinen Handlungen passten.

Im dritten Teil geht es um den Valdai-Club. Das ist eine hochkarätig besetzte internationale Tagung zu weltpolitischen Themen, die jedes Jahr in Russland stattfindet und wo Putin jedes Mal stundenlang an der Podiumsdiskussion teilnimmt. Ich werde sowohl seine Reden als auch weite Strecken der Diskussionen im Wortlaut wiedergeben. Natürlich wird sich einiges dabei wiederholen, das ist unvermeidbar, denn zum Beispiel die Themen Ukraine oder Syrien sind ja seit Jahren aktuell, und entsprechend kommen sie auch immer wieder vor. Trotzdem finde ich es auch hier interessant, zu beobachten, wie sich die Formulierungen mit der Zeit entwickeln. Aber ich will nicht vorgreifen.

Für das Buch habe ich als Quellen im Wesentlichen russische Dokumentarfilme über Putin sowie Podiumsdiskussionen und Interviews mit Putin genutzt. Putin ist einer der ganz wenigen Staatschefs der Welt, der sich viel Zeit nimmt, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen und stundenlang internationalen Experten und Journalisten Rede und Antwort zu stehen. Die wichtigsten Quellen waren daher für mich einerseits das schon erwähnte Valdai-Forum sowie das Petersburger Wirtschaftsforum, das alljährlich stattfindet und zu dem das Who-Is-Who der internationalen Wirtschaft anreist.

 

Leider sind diese Konferenzen im Westen unbekannt, weil die Medien schlicht nicht über sie berichten, dabei treffen sich dort tatsächlich weltweit führende Politiker, Wissenschaftler, Wirtschaftslenker und andere Entscheidungsträger, die unser Leben ganz wesentlich beeinflussen.

Entsprechend hochrangig besetzt sind auch die Podiumsdiskussionen. 2013 saß neben Putin auch Merkel auf dem Podium, Macron war schon dabei, die Regierungschefs von Österreich, Finnland, Indien und so weiter ebenfalls. Moderatoren sind meist führende Journalisten aus den USA von Fox, CBS, Bloomberg und anderen Fernsehsendern, die sich teilweise sichtlich bemühen, Putin in die Enge zu treiben. Es handelt sich also nicht etwa um handzahme russische Journalisten, die Angst vor kritischen Fragen haben oder russische Propaganda verbreiten wollen, wie man leicht vermuten könnte, wenn man den deutschen Medien glaubt, was sie über die Pressefreiheit in Russland berichten.

Zum Schluss noch ein Wort zu Formulierungen: Sie werden sehen, dass Putin ständig von den „westlichen Partnern“, den „amerikanischen Partnern“ oder seinen „Kollegen“ spricht. Die Formulierung, die USA als „amerikanische Partner“ zu bezeichnen, egal wie schlecht die Beziehungen zwischen den USA und Russland auch sein mögen, ist keine Erfindung von Putin. Vielmehr war das schon zu Gorbatschows Zeiten und früher die Formulierung, die russische Politiker eben benutzen. Und wenn Putin von seinen „Kollegen“ spricht, dann meint er damit meistens andere Regierungschefs und Politiker.

So, genug der Vorrede, ich hoffe, Sie finden hier viel Neues, was Sie in den deutschen Medien so noch nicht gehört haben und lade Sie ein, sich nun selbst ein Bild von Putin, seiner Politik und seinen Zielen zu machen. Ob Sie dies danach gut finden oder nicht, ist ganz allein Ihre Entscheidung, ich möchte Ihnen nur Zugang zu Putins Aussagen geben, die man zur Meinungsbildung nun einmal braucht.

Einleitung

Bevor wir Putin selbst zu Wort kommen lassen, müssen wir erst einmal über Russland reden, denn im Westen wissen die meisten Menschen wenig über dieses Land. Aber wenn man einordnen will, was jemand sagt oder denkt, dann muss man die Hintergründe kennen. Daher will ich so kurz wir möglich auf die Vorgeschichte Putins und Russlands eingehen.

Ende der 1980er Jahre war der Westen von der „Gorbimanie“ erfasst, Gorbatschow war das neue Gesicht der Sowjetunion. Er ging auf den Westen zu, beendete den Kalten Krieg und schenkte den Deutschen die Wiedervereinigung. Kein russischer Politiker vorher oder nachher war im Westen so populär wie Gorbatschow.

In Russland sehen die Menschen das anders, denn mit Gorbatschow verbinden sie den Niedergang ihres Landes und die Verarmung der Menschen.

Keine dieser Positionen ist vollkommen richtig oder falsch. Gorbatschow ging nicht ganz freiwillig auf den Westen zu, er war dazu gezwungen, da Reagans Politik die Sowjetunion in die Pleite getrieben hatte. Reagan setzte dazu auf zwei Methoden, erstens ein teures Wettrüsten und zweitens gleichzeitig – mit Unterstützung Saudi-Arabiens – eine Senkung der Ölpreise, was den Strom von Devisen in die Sowjetunion reduzierte. Diese von Reagan geführte Politik zwang die Sowjetunion, bei sinkenden Einnahmen die Ausgaben zu erhöhen, und sie verbrauchte binnen kurzer Zeit die staatlichen Reserven, bis sie faktisch pleite war.

Für die Menschen dort bedeutete das spätestens ab Ende der 1980er Jahre die totale Verarmung. Geld war nichts mehr wert und Lebensmittel gab es nur noch auf Bezugsscheine, sogar eine Hungersnot drohte. In dieser Situation war Gorbatschow in einer denkbar schwachen Verhandlungsposition und machte dem Westen die Zugeständnisse, die ihn im Westen so populär machten.

Dies führte dazu, dass Ende 1991 die Sowjetunion auseinanderbrach und die ehemaligen Sowjetrepubliken selbstständige Staaten wurden, der größte dieser Staaten war die Russische Föderation, in der der kurz zuvor gewählte Boris Jelzin Präsident war.

Jelzin war ein recht leicht zu manipulierender Mann, der dazu noch ein Alkoholproblem hatte. In dieser Situation gingen im Kreml westliche Berater ein und aus, sie schrieben ganze Gesetze für den jungen Staat. Vor allem aber empfahlen sie, möglichst alles möglichst schnell zu privatisieren, um die Wirtschaft aus dem ineffektiven staatlichen System in „effektive“ private Hände zu überführen, damit die Einnahmen daraus dem Staatshaushalt zugute kamen, denn auch Russland war genau so pleite wie zuvor die Sowjetunion.

In dieser Zeit schlug die Stunde der später so genannten Oligarchen. Das waren junge Männer, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und die nötige Portion Skrupellosigkeit mitbrachten, die es braucht, wenn man sich gegen alle Gesetze und Moralvorstellungen ein Vermögen zusammenklau(b)en will. Sie nutzten Beziehungen und Geld, um sich große Firmen zu minimalen Preisen unter den Nagel zu reißen. Oft wurden dabei auch Mafiamethoden angewendet, Morde gehörten im Russland der 1990er in der Geschäftswelt zum Alltag. Im Westen erreichte damals die „Russische Mafia“ zweifelhafte Berühmtheit.

In der Folge konnten zwar die Lebensmittelmarken wieder abgeschafft werden und die Bevölkerung war mit dem Allernötigsten versorgt, aber es herrschten Inflation und bittere Armut, während auf der anderen Seite einige wenige die Aktiva der Sowjetunion unter sich aufteilten.

Jelzins Wirtschaftsreformen und die radikalen Privatisierungen hatten starke Gegner im Land, und im August 1993 kam es zu einem offenen Konflikt zwischen dem (frei gewählten) Parlament und dem (ebenfalls frei gewählten) Präsidenten. Jelzin löste das Parlament, das seine Absetzung vorbereitete, kurzerhand verfassungswidrig auf, und als sich dagegen Widerstand erhob, ließ Jelzin den Sitz der Regierung mit Panzern beschießen, was hunderte Tote zur Folge hatte.

Diese verfassungswidrige Aktion Jelzins fand im Westen jedoch breite Zustimmung, denn Jelzin galt als Garant der pro-westlichen Reformpolitik, sodass man Verfassungsbruch und Militäreinsatz inklusive hunderter Tote bereitwillig in Kauf nahm.

Da die Bevölkerung immer noch in Armut lebte und Jelzins öffentliche Alkoholeskapaden nicht gut ankamen, war seine Popularität auf Werte zwischen drei und fünf Prozent gesunken, als 1996 Präsidentschaftswahlen anstanden. Der Chef der Kommunisten, Sjuganow, war haushoher Favorit. Da aber sowohl die Oligarchen, denen inzwischen die Medien gehörten, als auch der Westen keine Rückkehr eines Kommunisten in den Kreml wollten, schickte Bill Clinton die besten Wahlkampfmanager nach Russland, um Jelzins Image aufzupolieren, und die Oligarchen stellten ihre Medien dafür zur Verfügung. In einer beispiellosen Kampagne wurde Sjuganow schlecht gemacht und Jelzins Image aufpoliert. So gelang es ihm, im ersten Wahlgang 35 Prozent der Stimmen zu bekommen, gefolgt von Sjuganow mit 32 Prozent. In der Stichwahl gewann Jelzin seine zweite Präsidentschaft.

Da Russland immer noch pleite war, fehlte auch Geld für dringend nötige Investitionen in die Öl- und Gasförderung. Westliche Ölkonzerne waren gerne bereit, zu „helfen“. Dazu wurden sogenannte PSA-Verträge (Production Sharing Agreement) geschlossen. Bei solchen Verträgen verspricht der Investor Investitionen, bekommt aber dafür einen Großteil des geförderten Öles. Und zwar so lange, bis seine Investitionen eingespielt sind. Das wiederum kann man problemlos manipulieren, indem man die Investitionen und Kosten künstlich aufbläht. Dazu gibt es viele Möglichkeiten, die einfachste – aber bei weitem nicht einzige – ist es, mit der Mutterfirma einen Beratervertrag zu schließen und auf diese Weise völlig überhöhte Beraterhonorare, die man sich de facto selbst zahlt, in die Kosten einzurechnen. Auf diese Weise erhöht man den eigenen Gewinn zu Hause und die Kosten im Lande des PSA-Abkommens. Also muss man dem Staat, mit dem man das PSA-Abkommen geschlossen hat, nur einen Bruchteil des geförderten Öls oder Gases abgegeben.

Im Falle Russlands führten diese Verträge dazu, dass Russland kaum mehr als 20 Prozent seines geförderten Öls und Gases selbst verbrauchen oder verkaufen konnte, der Rest ging direkt an westlichen Ölkonzerne wie Shell. Damit hatte der ohnehin bankrotte Staat ohne Not auf einen Großteil seiner Staatseinnahmen verzichtet und die Schulden wuchsen weiter.

Im Westen wurde Jelzin als der Hüter der russischen Demokratie dargestellt, während die Berichte über Russland wahlweise von unendlich reichen Mafiosi oder unsäglicher Armut und obdachlosen Kindern handelten.

So war das Bild Russlands im Westen in den 1990er Jahren geprägt von dem Bedauern für die armen Menschen, dem Unverständnis für den Reichtum von Oligarchen und Mafiosi, während Russland gleichzeitig als Demokratie dargestellt wurde, obwohl es eine reine Oligarchie war, in der die Oligarchen ihren Einfluss auf die Politik ausbauten. Und am Ende der 1990er Jahre war das Land fest in den Händen der Oligarchen.

Die 1990er sind denn auch bis heute im Gedächtnis der Russen die schwärzeste Zeit der jüngeren Geschichte.

Im August 1998 kam es zur Staatspleite in Russland, der Staat konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen und die Währung brach komplett zusammen. Das ist etwas, was man tatsächlich erlebt haben muss, um es zu verstehen. Zunächst gab es fast eine Woche lang schlicht keine Wechselkurse, weil niemand wusste, was der Rubel nun wert war. Die Geschäfte räumten ihre Regale leer, weil sie nicht wussten, zu welchem Preis sie verkaufte Waren nachkaufen können, also konnten sie auch keine Preise für die vorhandenen Waren nennen. Ich bin damals einen ganzen Tag lag durch die Millionenstadt St. Petersburg gefahren, um ein paar Rollen Toilettenpapier zu suchen.

Nach etwa einer Woche gab es endlich wieder Wechselkurse und die Waren kehrten in die Regale zurück. Allerdings war der Rubel, der vorher 3 Rubel für eine D-Mark gekostet hatte, nun bei 15 Rubel für eine D-Mark, und somit waren die meisten Preise nun um das Fünffaches gestiegen. Man kann sich kaum vorstellen, was es bedeutet, wenn fast alles über Nacht fünfmal soviel kostet wie vorher. Und das in einem mittlerweile bettelarmen Land, in dem die Menschen ihre ohnehin minimalen Löhne oft mit Monaten Verspätung ausgezahlt bekamen.

Dazu machte damals ein Witz die Runde in Russland: Fragt ein Direktor den anderen: „Kommen Deine Arbeiter auch immer noch zur Arbeit, obwohl Du ihnen keinen Lohn auszahlst?“

„Ja“

„Vielleicht sollten wir in Zukunft am Fabriktor Eintritt nehmen?“

Ein weiteres Problem damals war, dass es seit 1994 in dem zu Russland gehörenden Gebiet Tschetschenien einen blutigen Krieg gab. Zwischen 1994 und 1996 wurde dort gekämpft, und am Ende bekam das Gebiet eine Autonomie, die de facto eine Unabhängigkeit war. In dem Gebiet wurde die von Saudi-Arabien geprägte wahhabitische Auslegung des Islam inklusive Scharia eingeführt.

Zu diesem Krieg gibt es zwei Sichtweisen. Die westliche Sichtweise spricht von dem Unabhängigkeitskampf des tschetschenischen Volkes, die russische Sichtweise ist eine andere: Es waren keineswegs die Tschetschenen, die für ihre Unabhängigkeit kämpften, sondern eingesickerte arabische Salafisten, die dort – Zitat der Rebellen damals – „einen islamischen Staat, ein Kalifat“ errichten wollten. Diese Begriffe, die im Westen erst ab 2012 bekannt wurden, als arabische wahhabitische Islamisten im Irak und in Syrien ihr Terrorregime errichteten, waren in Russland bereits seit 1994 ein Thema.

Das Ziel der Islamisten war es, den gesamten Kaukasus, also das russische, aber islamisch geprägte Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, unter Kontrolle zu bekommen.

Nachdem es ab 1996 über zwei Jahre lang relativ ruhig war, begann im August 1999 ein Angriff der Islamisten auf die islamisch bewohnte und zu Russland gehörende Teilrepublik Dagestan. Nun stand die Bevölkerung auf, und noch bevor die desolate russische Armee eingreifen konnte, kämpften die Dagestaner gegen die angreifenden Islamisten. Dies war der Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges, an dessen Ende der Sieg Russlands und die Wiedereingliederung Tschetscheniens in den russischen Staat stehen sollte.

 

In diesem Krieg wurden ohne Zweifel Kriegsverbrechen begangen, und es geht in diesem Buch nicht um Tschetschenien und darum, ob man der westlichen Sichtweise folgt oder der russischen. Es geht darum, zu verstehen, wie der Standpunkt des Anderen ist. Und zum Verständnis ist es wichtig, dass man beide Sichtweisen kennt. Nur wer auch die Sichtweise des Anderen kennt, ist in der Lage, ihn zu verstehen und die Welt mit seinen Augen zu sehen. Ich wiederhole es: Man muss dieser Sichtweise nicht zustimmen, aber man sollte sie zumindest kennen, um für sich selbst entscheiden zu können, welcher man sich anschließt.

Wer nur eine Sichtweise kennt, kann diese Entscheidung nicht treffen, sie wurde für ihn bereits von anderen getroffen.

1999 ging es den Russen schlecht, und die Stimmung im Land war mies. Die Bevölkerung war verarmt, der Staat pleite, und ein Krieg im Süden des Landes drohte das ganze Land zu destabilisieren.

Die Zentralregierung verlor immer mehr an Macht und ganze Regionen weigerten sich, ihren Anteil am Staatsbudget nach Moskau zu überweisen. Das wäre so, als wenn sich Niedersachsen weigern würde, Steuereinnahmen an den Bund zu überweisen, die aber dem Bund nach geltendem Gesetz zustehen.

Das geflügelte Wort lautete „Moskau ist weit“ und das Land stand vor dem Auseinanderbrechen, denn neben der Weigerung ganzer Regionen, sich an Gesetze zu halten und ihren Anteil zum Staatshaushalt beizutragen, gab es auch Ideen für die Bildung eigener Staaten wie der „Republik Ural“ und anderen.

Jelzin wechselte in dieser Situation die Premierminister ständig aus – von August 1998 bis Ende 1999 hatte Russland fünf Premierminister. Ein Land, das nun eigentlich einen Plan zur entschlossenen Bekämpfung der verschiedenen Krisen brauchte, war politisch lahmgelegt.

Aber im Jahr 2000 standen Präsidentschaftswahlen an und die Oligarchen begannen, darüber nachzudenken, wie sie einen Wahlsieg der Kommunisten verhindern und Jelzin, der gemäß Verfassung und auch wegen seiner Gesundheit nicht mehr antreten konnte, durch einen neuen Präsidenten ersetzen konnten, der ihnen auch weiterhin treu ergeben war.

Einer der führenden Oligarchen dieser Zeit war Boris Beresowski, der darüber hinaus Chef der Präsidialverwaltung und damit quasi die graue Eminenz Russlands war. In Russland war die Politik unter Jelzin komplett von den Oligarchen beherrscht. Später erklärte Beresowski in Interviews, dass er es war, der Putin als neue Marionette der Oligarchen auserkoren hatte. Und er fügte hinzu, dass er dachte, mit Putin „gleiche Werte“ zu teilen und es in der Folge bereut habe, Putin gefördert zu haben. Denn Putin hatte sich nach seiner Wahl zum Präsidenten in den Kopf gesetzt, die Macht der Oligarchen zu brechen. Dazu später mehr.

Putin selbst bestätigte die Geschichte von Beresowski in Interviews, in denen er sagte, dass er die Berufung zum neuen Präsidenten mehrmals abgelehnt habe. In dieser Zeit, in der Morde zur russischen Politik und Wirtschaft gehörten, wollte Putin – so sagte er – die eigene Familie nicht gefährden. Denn er hatte klare Vorstellungen davon, was sich in Russland alles ändern musste. Und er konnte nicht sicher sein, Erfolg zu haben. Und im Falle eines Misserfolges hätte nicht nur seine Entmachtung, sondern auch eine blutige Rache derer gedroht, denen er dabei auf die Füße treten musste.

Putin musste 1999 von Oligarchen und Mitgliedern der damals so genannten „Jelzin-Familie“, die im Kreml die Fäden zog, zur Kandidatur überredet werden. Dies bestätigen seine Anhänger und Gegner einhellig.

Und die späteren Gegner waren sich sicher, dass jemand, der zur Präsidentschaft überredet werden musste, sich ihnen kaum in den Weg stellen würde. So wie Beresowski es offen zugab, so haben diesen Irrtum auch einige andere Oligarchen kurz darauf bitter bereut.

Im März 2000 wurde Putin im ersten Wahlgang zum Präsidenten Russlands gewählt. Und zu Anfang hatte er im Westen – heute kaum noch vorstellbar – durchaus eine positive Presse. Er war mit Mitte vierzig jung, pro-westlich und speziell pro-deutsch. Privat hat er mit seiner Familie zu Hause deutsch gesprochen, da die Töchter in der DDR geboren worden waren.

Als erstes und bis heute einziges russisches Staatsoberhaupt durfte er vor dem Bundestag eine Rede halten. Wie auch Jelzin zuvor wurde er zwar für das harte Vorgehen in Tschetschenien kritisiert, aber insgesamt sah man ihn im Westen positiv.

Jedoch setzte Putin nun zum Kampf gegen die verwunderten Oligarchen an, denn nach seinen Vorstellungen sollte nicht die Wirtschaft – zumal eine derart mafiöse Wirtschaft – das Land regieren, sondern das Land sollte über die Wirtschaft regieren. Aufgrund der in vielen Fällen ungesetzlich und durch Gewalt, Vetternwirtschaft und Schmiergelder erfolgten Privatisierungen, die die Oligarchen zu Milliardären gemacht hatten, sprach Putin nun davon, dass in Russland „eine Diktatur des Gesetzes“ herrschen müsse. Also mit anderen Worten, dass Gesetze wieder befolgt werden müssten.

Schon kurz nach der Wahl traf sich Putin mit den Oligarchen im Kreml. Derartige Treffen hatte es unter Jelzin oft gegeben und die Oligarchen hatten den Ton angegeben. Nun war die Überraschung groß, als Putin vor laufenden Fernsehkameras andere Töne anschlug.

In dem russischen Dokumentarfilm „Präsident“ erinnert sich der Oligarch Wladimir Potanin an das Treffen: „Ich erinnere mich noch sehr gut an das Treffen im Sommer 2000. Es war das erste Treffen von Präsident Putin mit den Vertretern der Wirtschaft in so einem großen Kreis. Wir wollten wissen, was wir von Putin zu erwarten hatten, was für einen Staat er bauen wollte, und ihm war es wichtig, uns zu sagen, welches Verhalten er von uns, den Vertretern der Wirtschaft erwartete.“

Putin sagte bei der Sitzung vor laufenden Kameras:

Ich möchte hier sofort an Ihre Ehre appellieren, daran, dass Sie diesen Staat selbst geformt haben. Zum großen Teil mithilfe von politischen und politnahen Strukturen, die Sie selbst kontrollieren.

Potanin fährt in dem Interview fort: „Putin war ganz ruhig, da war keine Aggressivität. Er sagt ganz ruhig, von nun gelten andere Regeln, wir bauen jetzt ein anderes System auf. Und Sie sollen zu diesem Aufbau Ihren Beitrag leisten. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Sie Ihre Geschäfte ab sofort transparent führen sollen, dass Sie ab sofort Steuern bezahlen müssen, dass Sie die Arbeiter nicht bis zum Letzten ausquetschen dürfen, sondern normale Gehälter bezahlen und zwar pünktlich.“

Da die Oligarchen nicht legal an ihre Vermögen gekommen waren, machte Putin ihnen ein einfaches Angebot: Der Staat wird für die Vergangenheit niemanden zur Rechenschaft ziehen, der ab sofort nach den neuen Regeln spielt und sich an die Gesetze hält. Wer das nicht möchte, den trifft die Wucht des Gesetzes für die Verbrechen der Vergangenheit.

Putin konnte die Privatisierungen nicht einfach komplett rückgängig machen, egal wie ungesetzlich sie gewesen sein mögen. Denn Russland brauchte Investitionen aus dem Ausland. Bei einer Rückabwicklung der Privatisierungen hätte es auch ausländische Investoren getroffen, die zum Beispiel von einem Oligarchen auch nur ein Grundstück für eine neue Fabrik gekauft hatten, das der Oligarch sich vorher ungesetzlich einverleibt hatte.

Daher schlug er den Deal vor, dass die Vergangenheit in Ruhe gelassen wird und ab sofort neue Regeln gelten sollten. Es gab Oligarchen, die sich dem anschlossen, und solche, die glaubten, es könne weitergehen wie unter Jelzin. Die Letzteren erwischte die Macht der Gesetze, und kein Staatsanwalt musste lange suchen, um Anklagepunkte zu finden. Mehrere Oligarchen, zum Beispiel Gusinski und Beresowski, verließen Russland fluchtartig und verloren ihr zusammengeklautes Vermögen zum größten Teil.

Der Sturste unter ihnen war Chodorkowski, der wusste, dass Putin keine ausländischen Investoren verprellen wollte. Daher versuchte Chodorkowski, Teile seiner Ölfirma Jukos, damals die größte in Russland, an ausländische Investoren zu verkaufen, um sich so unangreifbar zu machen. Daraufhin wurde er verhaftet und der geplante Deal fand nicht statt. Chodorkowski wurde unter anderem wegen Steuerhinterziehung und Betrug zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

Die Verurteilung Chodorkowskis wurde vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als rechtens bestätigt. Der Gerichtshof kritisierte lediglich die Umstände der Festnahme und einen Teil der Haftbedingungen. Außerdem bestätigte der Gerichtshof 2011, dass Chodorkowski kein politischer Gefangener war. In der Sache gab der Europäische Gerichtshof Russland Recht: Chodorkowski ist ein überführter Steuerhinterzieher und Betrüger.

Putin hatte damit die Macht der Oligarchen gebrochen und machte sich nun daran, auch gegen die PSA-Abmachungen vorzugehen, denn nach fast zehn Jahren müssten die westlichen Ölkonzerne ihre Investitionen doch langsam mal eingespielt haben und Russland wieder vollen Zugang zu den eigenen Bodenschätzen gewähren. Natürlich führte dies zu Konflikten, und im Westen hatte Putin nun keine gute Presse mehr. Aber es gelang ihm mit einigen Winkelzügen 2003, die PSA-Abkommen auszuhebeln, und Russland profitierte wieder von den eigenen Bodenschätzen. Mit diesen Einnahmen und den Steuereinnahmen der verbliebenen Oligarchen ging es dem seit über zehn Jahren bankrotten Staatshaushalt Russland auf einen Schlag viel besser und Russland erwirtschaftete Überschüsse anstatt Defizite.

Russland, das noch 1998 Staatsbankrott anmelden musste, war schon 2006 praktisch schuldenfrei und hatte auch die gesamten Altschulden der Sowjetunion, die auf Russland übergegangen waren, zurückgezahlt.