Der Fluch von Shieldaig Castle

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Der Fluch von Shieldaig Castle
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Der Fluch von

Shieldaig Castle

Victorian – Romance

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2017 Kim Sofie Kampert

Coverfoto:

© 2017 @ viperagp, Depositphotos, ID 11622312

Impressum Copyright: © 2017 Thomas Riedel Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast,

wird es dir an nichts fehlen.«

Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.)

»Das Herz gehorcht keinem Gesetz

außer seinem eigenen;

es entkommt der Knechtschaft;

nur freiwillig gibt es sich her.«

Jean-Jacques Rousseau

(1712-1778)

Kapitel 1

»Löschen Sie bitte die Lampen, George, ich möchte dem Gewitter zuschauen.«

Lady Scarlett Cunningham erhob sich bei diesen Worten vom frühviktorianischen Sofa und trat zur Terrassentür. Ihre schmale, schlanke Hand schob behutsam den Wolkenstore zurück.

»Grandios«, murmelte sie verhalten.

Ein Blitz zuckte vom Himmel herab. Gleich darauf barst ein krachender Donner.

Lady Scarlett, zierlich von Gestalt, schwarzhaarig, zweiundvierzig Jahre alt, starrte in die entfesselte Natur.

»Können Sie sich auch nur im entferntesten an ein ähnliches Gewitter erinnern, George?«, fragte sie kaum vernehmbar.

George, Diener und Vertrauter zugleich, denn er hatte die Geburt von Scarlett Cunningham schon einst miterlebt, trat hinter seine Herrin.

»Sie sollten besser vom Fenster zurücktreten, Mylady«, erwiderte er leise und ruhig, ganz wie es seine Art war.

»Ich kann nie genug bekommen von dem Anblick einer entfesselten Natur«, gab sie ihm zur Antwort.

»Die meisten Menschen fürchten ein Gewitter, Mylady. Aus gutem Grund, wie ich mir hinzuzufügen erlaube.«

»Ach, George! Ich konnte das noch nie verstehen.« Sie lächelte verträumt und rezitierte ein Gedicht, ohne ihren Blick abzuwenden. »Im Zickzack zuckt der Blitz hernieder, der Donner kracht und dröhnt und grollt, blinkt lächelnd drauf die Sonne wieder, scheint uns die Erde doppelt hold.« Sie schob den Wolkenstore noch ein wenig weiter zur Seite, um besser sehen zu können. »Ich liebe es, wenn uns der Himmel zeigt, wie klein wir Menschen doch wirklich sind.«

Als müsste der Himmel die Bestätigung bringen, blitzte es erneut, und der Donner folgte im gleichen Augenblick. Das heftige Gewitter stand genau über dem alten ›Shieldaig Castle‹, dass vor Jahrhunderten am Steilhang zum ›Loch Torridon‹ erbaut worden war.

Von der Terrasse aus hatte man einen weiten Blick in den riesigen Garten, der die Burg auf drei Seiten umschloss.

Wo sonst erholsame Stille herrschte, wütete jetzt die Naturgewalt.

Die kleinen Büsche, ja selbst die mittelgroßen Bäume bogen sich vor dem Sturm, der peitschenden Regen mit sich führte.

Irgendwo im ›Castle‹ zerbarst eine Fensterscheibe. Es klirrte, aber es war nur ein winziger Laut im Vergleich zu dem Sturm, der das alte Gemäuer umheulte.

Wahre Sturzbäche flossen die Gartenwege entlang, dessen Boden die Menge an Wasser nicht aufnehmen konnte.

»Einfach grandios«, wiederholte Lady Scarlett aus ihren Gedanken heraus.

Der alte George, mit schlohweißem Haar, ausgeprägtem Backenbart und leicht gebeugtem Rücken, antwortete nicht. Er schaute ebenfalls in den Garten hinaus und bedauerte den Gärtner, der nach diesem Unwetter alle Hände voll zu tun haben würde.

›Shieldaig Castle‹ war ein riesiger Bau. Die Burg stand auf einer Anhöhe und gab dem kleinen Dorf im Westen Schottlands einen ganz besonderen Reiz. Sie schien die Ansiedlung zu beschützen, denn so weit das Auge reichte, gehörten die riesigen Wälder und Ländereien zu der Burg, der keine kriegerische Auseinandersetzung bisher etwas anhaben konnte. Unzählige Male war sie umgebaut, restauriert und erweitert worden – und doch hatte sie sich etwas Romantisches bewahrt.

Alle glaubten, dass Lady Scarlett der letzte Spross der Familie Cunningham war. Noch immer war sie unverheiratet, und wenn sie sich Elizabeth I. zum Vorbild nahm, würde der Name mit ihr aussterben, aber die Burg – sie würde noch viele Generationen überdauern.

»Holen Sie mir bitte meinen Mantel und vergessen Sie mir Pelerine und Hut nicht, George«, sagte sie plötzlich aus einer Laune heraus.

»Aber, Mylady! … Sie wollen doch nicht etwa …«, begehrte er auf, kam aber nicht weiter, denn sie unterbrach ihn.

»Aber natürlich will ich hinaus, George«, lachte sie fröhlich. »So ein Schauspiel bekommt man nicht alle Tage geboten. Man sollte wirklich nicht nur zuschauen, so etwas muss man erleben.«

Kopfschüttelnd ging George die gewünschten Sachen holen. Nur zögernd half er ihr hinein. Er wagte keinen Einwand mehr, öffnete ihr aber nur widerstrebend die Terrassentür.

Während er im schützenden Gesellschaftszimmer stehen blieb, trat Lady Scarlett unerschrocken in das Unwetter hinaus.

Die Blitze und mahlenden Donnerschläge schienen sie nicht im Geringsten zu stören. Sie zog sich den Wachshut tief ins Gesicht. Langsam schritt sie den Gartenweg entlang. Einmal hob sie sogar ihr Gesicht und schaute in die drohenden Wolken, die über ›Shieldaig Castle‹ lagen.

»Manchmal hat sie recht eigenartige Angewohnheiten«, murmelte George vor sich hin. »Es gefällt mir einfach nicht, was sie da tut«, fügte er noch hinzu, während er mit unbewegtem Gesicht ihren Weg verfolgte. »Sie wird sich dabei noch einmal eine Lungenentzündung und den Tod holen.«

Es blitzte erneut und der Donner folgte augenblicklich. Ein rötlich-gelblicher Schein lag über der Festungsanlage. Ein Geruch von Schwefel lag in der Luft. Plötzlich war sie seinen Blicken entschwunden.

Erschrocken riss George die Terrassentür auf. Suchend spähte er hinaus – und dann sah er sie auf dem Boden liegen.

Er achtete nicht mehr auf das Wetter, ja, nicht einmal den Donner hörte er noch. Ohne sich etwas überzuziehen eilte er, so schnell es seine alten Beine erlaubten, hinaus. Er spürte nicht einmal den stürmischen Regen, der ihm ins Gesicht schlug und sofort bis auf die Haut durchnässte. Alles was er sah war die zarte Gestalt seiner Herrin, die von einem Blitz getroffen vor ihm am Boden lag.

Er zögerte kurz, ehe er es wagte, sie zu berühren. Dann bückte er sich mit Tränen in den Augen über sie, die junge Frau, die er so tief verehrt hatte. Er begriff sofort, dass es für sie keine Rettung mehr gab. Gott hatte sie auf seine Art zu sich genommen.

Aber George kniete nicht nieder und er betete auch nicht. Ganz im Gegenteil, er ballte seine Rechte zur Faust und reckte sie drohend gen Himmel.

»Hast du mit deinem Fluch noch immer nicht genug?! Wird das ewig so weitergehen? Willst du ›Shieldaig Castle‹ auch noch vernichten?!«

George sprach nicht mit dem Allmächtigen. Seine ganze Verzweiflung richtete sich an Lady Scarletts Großvater, der vor ewiger Zeit einen Fluch ausgesprochen hatte – damals, ehe er starb – und es war, als würde dieser Fluch jeden Menschen vernichten, der die alte Burg liebte.

Weinend hob George ihre leichte Gestalt auf und trug sie in den schützenden Salon zurück.

»Warum nur habe ich sie hinausgehen lassen. Ich hätte es verhindern müssen«, brummte er, sich Vorwürfe machend. »Ich hätte es auf keinen Fall zulassen dürfen.«

Aber jetzt kam jede Hilfe zu spät. Für Lady Scarlett hatte die irdische Welt aufgehört zu existieren.

George alarmierte sofort das übrige Personal. Er wich nicht von der Seite seiner Herrin, als man die Letzte aus dem Geschlecht der Cunninghams auf das Totenlager bettete. Still harrte er an ihrem Bett aus, während im Haus alles wie bisher weiterging.

Fünf Kerzen brannten in einem silbernen Kandelaber am Kopfende. Die Fenster des Zimmers waren abgedunkelt. Nach einer Weile, gerade so, als müsste er die unerträgliche Stille durchbrechen, flüsterte er vor sich hin:

»Nun ist auch sie gegangen – und sie war doch so schön. Niemals habe ich so herrliches schwarzes Haar gesehen, niemals so wunderschöne, große graublaue Augen. Warum nur, Gott, musste sie gehen? Warum hast du nicht mich geholt. Ich bin schon sehr alt und am Ende meines Lebens angekommen. Ich würde es gern hingeben, wenn ich sie damit wieder lebendig machen könnte.«

Gott antwortete ihm nicht – und im Zimmer blieb es still, und das Lächeln von Lady Scarlett majestätisch kühl.

George wischte sich seine Tränen aus dem Gesicht. Erneut fühlte er die bedrückende Stille.

»Es war alles so herrlich«, sprach er weiter vor sich hin, »als ich damals auf die Burg kam. Ich war ein junger Mann mit vielen Träumen. Nur für ein paar Jahre wollte ich als Kammerdiener tätig sein – aber es wurde der Beruf meines Lebens.«

Er erschauerte, als er an Lady Scarletts Großvater dachte, den er damals zu bedienen gehabt hatte. Es war ein garstiger alter Mann gewesen. Niemand konnte ihm etwas recht machen, und so tyrannisierte er seinen Sohn und auch seine Schwiegertochter, die damals gerade in guter Hoffnung gewesen war.

Jahrelang hatte er sich und anderen Menschen zur Qual gelebt. Er hatte es geschickt für sich zu nutzen gewusst, dass er an beiden Beinen gelähmt war – eine alte Kriegsverletzung, wie er immer zu betonen wusste. Ehe er starb, hatte er die Burg verflucht und gebrüllt: ›Verflucht sollt ihr alle sein – alle, die ihr diese Burg liebt – denn sie gehört mir!‹

 

Das war inzwischen zweiundvierzig Jahre her – und doch kroch George bei der Erinnerung daran noch heute eine Gänsehaut über den Rücken.

Es war ihm, als wären die Worte des Mannes noch deutlich in seinen Ohren.

»Ja«, stöhnte er auf, »ja – und dieser verdammte Fluch hat seine Wirkung noch immer nicht verloren. Wieder liegt der Schatten des Todes über der Burg.«

Er atmete schwer, als er an das Leben zurückdachte, das gefolgt war, nachdem der alte Burgherr seine Augen für immer geschlossen hatte.

Zunächst schienen die Bewohner von ›Shieldaig Castle‹ richtig aufzuleben. Wie wohltuend war doch die Ruhe, da das ständige Nörgeln des alten Mannes verstummt war. Aber es war eine trügerische Ruhe, die nicht lange währte. An dem Tag, an dem Lady Scarlett geboren wurde, verstarb ihre Mutter an den Folgen der Entbindung.

Scarletts Vater reagierte kopflos. Er hatte nun nicht nur ein winziges kleines Mädchen, er hatte auch noch für seine ältere Tochter Gracelynn zu sorgen.

George überlegte, wie alt Gracelynn damals gewesen war.

»Dreizehn muss sie wohl gewesen sein«, murmelte er vor sich hin. »Ja, dreizehn … und sie hatte viel von ihrem Großvater geerbt, denn auch sie war zänkisch, und sie ist es bis zum heutigen Tag geblieben.«

Er erinnerte sich noch gut daran, wie das ganze Personal bei der Taufe von Scarlett geweint hatte, und wie sehr sich seine Lordschaft Cunningham gegrämt hatte.

Aber auch mit diesem Opfer hatte sich das Schicksal noch nicht zufriedengegeben. Scarlett war erst drei Jahre alt gewesen, als ihr Vater während einer Fuchsjagd tödlich verunglückte. Durch einen unglücklichen Umstand war das Gewehr losgegangen, und die Kugel hat seine Lordschaft tödlich in den Kopf getroffen.

Eine entfernte Verwandte hatte daraufhin ›Shieldaig Castle‹ bezogen und für die beiden Mädchen gesorgt. Scarlett hatte sich sanftmütig entwickelt, Gracelynn aber war herrisch geblieben. Als sie fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte sie die Burg verlassen und geheiratet. Benjamin Gates war ein reicher Bauunternehmer. Er hatte nicht auf ›Shieldaig Castle‹ leben wollen, und soweit sich George erinnern konnte, war Lady Gracelynn wohl ganz froh gewesen, die Burg verlassen zu können. Sie fürchtete den Fluch, der auf dem Gemäuer lag. Später hatte sie sich mit ihrer Schwester geeinigt. Scarlett behielt die Burg und Gracelynn wurde ausbezahlt.

Jetzt aber war die letzte Herrin von ›Shieldaig Castle‹ ebenfalls verstorben und mit ihr der Name Cunningham.

George wischte sich wieder übers Gesicht. Dann hob er leicht den Kopf und einen Blick auf die Tote.

»Jetzt wird sicher der junge Gates hier einziehen, oder er wird es verkaufen … wer weiß das zu sagen? Brantley Gates hat Architektur studiert, soweit ich weiß. Er wird ganz sicher nicht auf einer Burg wohnen wollen.«

Er seufzte schwer. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Regen und der Sturm nachgelassen hatten.

»Arme Lady Scarlett«, kam es ihm über die Lippen, wobei er sich traute, ihr einmal scheu über die gefalteten Hände zu streicheln.

Wieder fragte er ein ›Warum‹ in das stille Zimmer, in dem nicht einmal das Ticken einer Standuhr zu hören war. Aber auch auf diese Frage bekam er keine Antwort. Das Schicksal antwortete nicht.

Als er nach einigen Stunden das Totenzimmer verließ, schien er um viele Jahre gealtert zu sein. Sein Rücken war noch gebeugter.

»Ist Mrs. Gates schon benachrichtigt worden?«, erkundigte er sich bei einem der Dienstmädchen.

»Nein«, erwiderte sie bedrückt. »Wir waren uns nicht sicher, ob nicht …«

»Schon gut, Meredith«, winkte er müde ab. »Ich werde das persönlich übernehmen.«

George fühlte sich dem Haus Cunningham immer noch verpflichtet. Er durfte noch nicht abtreten. Dafür gab es noch viel zu viele Dinge zu erledigen, die er im Sinne Lady Scarletts ausführen musste.

Er verständigte den Rechtsanwalt, benachrichtigte die Schwester Gracelynn, und als er sich schließlich in seine kleine Kammer im Obergeschoss zurückzog, kam er sich uralt vor.

»Jetzt habe ich sie alle überlebt«, flüsterte er aufgewühlt vor sich hin. Plötzlich begann er zu zittern, und wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht.

»Ich hätte sie so gern glücklich gesehen«, murmelte er leise. Sie hätte heiraten müssen. An Freiern hat es ihr wahrhaftig nicht gefehlt, aber sie wollte ja keinen Mann mehr sehen, nachdem ihr Auserwählter bei einem Pferderennen ums Leben gekommen war. Sie hatte sich vollkommen zurückgezogen. »Es gibt kein Glück auf der Burg«, hauchte er nun selbst entsetzt. »Jedes Glück ist hier zum Sterben verurteilt. Alle … alle sind sie gegangen … alle diejenigen, die ›Shieldaig Castle‹ liebten. Man sollte die Burg bis auf die Grundmauern abbrennen, damit der Fluch endlich ein Ende hat.« Aber George fühlte, dass es wohl keinen Menschen geben würde, der es gewagt hätte Hand an dieses herrliche Gebäude zu legen.

»Ich müsste es schon selbst tun«, seufzte er, aber im gleichen Augenblick fühlte er, dass er doch nie dazu imstande sein würde.

Ich gehöre zur Burg, dachte er, sie ist auch mein Schicksal geworden. Ich habe auch nicht geheiratet und bin auf der Burg geblieben, weil sie niemanden mehr loslässt.

Er ließ sich schwer auf sein Bett fallen. Fast augenblicklich überwältigte ihn der Schlaf, aber auch dann erschienen ihm die alten Bilder, die ihn nicht losließen. Im Traum stritt er sich mit seinem ersten Herrn und weinte mit Scarletts Vater über den Verlust dessen Frau. Er bemutterte die kleine Scarlett und merkte mehr und mehr, wie sehr er an diesem sanften und zarten Mädchen hing – wie sehr er sie liebte. Noch einmal durchlitt er ihren Schmerz, als sie von ihrem Auserwählten auf so grausame Weise getrennt wurde – und noch einmal durchlebte er die Schrecksekunde des Gewitters, dass ihm seine über alles geliebte Herrin genommen hatte.

»Nein! Oh, Gott, nein!«, schrie er gellend und richtete sich dabei steil im Bett auf.

Es war Nacht um ihn. Er zitterte wie Espenlaub, tastete nach den Streichhölzern auf dem Nachtisch und atmete auf, als das Kerzenlicht aufflackerte.

Mühsam brachte er seine Beine aus dem Bett und suchte nach einem Tuch, um sich das schweißnasse Gesicht abzuwischen. Noch nie in seinem Leben hatte er ein Schlafpulver eingenommen, aber jetzt tat er es. Er wollte den grausamen Träumen entfliehen. Er musste es einfach, weil er fühlte, dass er die Ruhe nötig hatte.

Kraftlos ließ er sich auf die Kissen zurückfallen. Schon bald hielt ihn Morpheus in seinen Armen, ruhig und fest.

Als George am nächsten Morgen erwachte, strahlte die Sonne bereits vom Himmel herab. Es war ein zauberhafter Junitag. Die Vögel zwitscherten fröhlich, und der Gärtner hatte bereits mit seiner Arbeit begonnen.

Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen und eigentlich deutete nichts mehr darauf hin, dass ›Shieldaig Castle‹ nun ohne Herrin war. Nur die schwarze Fahne auf dem Turm zeigte an, dass die Sanduhr eines Menschenlebens abgelaufen war.

Der Tag begann – und damit seine Pflichten – die eines alten Dieners.

***

Kapitel 2

»Liebst du ihn nun … oder liebst du ihn nicht?«, fragte Ella McKnee ihre Schwester ganz aufgeregt. »Nun sag schon, Morgan.«

Ella hatte helles, fast weißblondes Haar. Sie war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Das Leben schien so überaus einfach für sie zu sein, dass sie jedem neuen Morgen entgegenträllerte.

Ihre Schwester dagegen war ganz anders. Morgan hatte langes, dunkles Haar. Auch ihre Augen waren von einem dunklen Braun. Ihr Gesicht war sehr schmal geschnitten, ihre ganze Figur war im Gegensatz zu Ella, die eher rund und etwas mollig war, recht zierlich.

»Natürlich liebe ich ihn. Du weißt es doch«, erwiderte sie lachend. »Wir haben es ja schon unzählige Male darüber gesprochen.«

»Trotzdem scheinst du dir nicht sicher zu sein«, gab Ella zurück.

»Nicht sicher? Zweifelst du an meinen Gefühlen für Ryan O’Connor?«

Ella blickte ihre Schwester entwaffnend an.

»Ich glaube es dir ja, wenn du es sagst … aber ich frage mich, warum du dann nichts unternimmst?«

»Was soll ich denn tun? Soll ich ihm etwa um den Hals fallen? Du weißt genau, dass es sich für ein Mädchen nicht schickt. Ich möchte nicht, dass er schlecht über mich denkt.«

Morgan McKnee war nur ein Jahr älter als ihre Schwester. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Wenn ich so hübsch wäre wie du …«, antwortete Ella mit einem frechen Grinsen, »ich würde es genau wissen.«

»Ach, Ella, rede doch keinen Unsinn. Ich kann nicht einfach auf Ryan zugehen und ihm sagen: ›Ich liebe dich, nun nimm mich endlich in deine Arme und küsse mich‹.«

»Wie lange kennt ihr euch eigentlich?«

»Na, … ich kenne ihn jetzt …«

»Nein, nein! Du weißt ganz genau, was ich meine«, unterbrach Ella ihre Schwester. »Ich meine eure abendlichen Spaziergänge. Wie lange macht ihr die schon?«

»Ungefähr sechs Monate.«

»Meine Güte«, entfuhr es Ella erstaunt. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie Morgan durchdringend an. »Und in all der Zeit hat er tatsächlich den Anstand gewahrt und es nicht gewagt dich zu küssen?«

»Nein«, gestand Morgan kleinlaut. »Ryan ist ein wahrer Gentleman.«

»Und du tust nichts dazu? Gar nichts?«

»Wir sind wieder einmal am Anfang des Gesprächs, Ella. Wir drehen uns im Kreis«, mahnte Morgan. »Du weißt es doch selbst, dass es mir der Anstand verbietet den ersten Schritt zu machen.«

»Lächelst du ihm denn nicht manchmal aufmunternd zu?« Ella ließ nicht locker.

»Ich bin so befangen, wenn er nur meine Hand ergreift«, entgegnete und senkte den Blick.

»Aber warum denn?«

»Ich weiß es nicht«, seufzte Morgan und ließ die Schultern sinken. »Ich weiß überhaupt nichts.«

»Soll ich mal ein bisschen Cupido spielen? So per Zufall?«, bot sich Ella an. Ihre kleinen Grübchen in den Wangen wirkten fröhlich, und ihre dunklen Augen funkelten unternehmungslustig.

»Untersteh dich«, winkte Morgan lachend ab. »Ich glaube, dann würde er mir niemals seine Liebe gestehen.«

»Wie du meinst«, zog sich Ella zurück. »Was du überhaupt an einem so schüchternen Mann findest, verstehe ich nicht … außerdem ist er Schulmeister.«

»Oh, bitte, Ella«, bat Morgan leise, »nenne ihn nicht Schulmeister. Er ist Lehrer … zugegeben, aber er ist dennoch der beste Mann der Welt. Ich liebe ihn ja gerade, weil er nicht so aufdringlich ist wie all die anderen Gentleman.«

»Dann wirst du dich eben mit seiner Schüchternheit abfinden und abwarten müssen, bis er endlich …«

»Ella«, unterbrach Morgan ihre Schwester, »bitte, rede nicht so, … sonst schütte ich auch dir nie wieder mein Herz aus. Ich liebe ihn eben.«

»Das sagtest du schon, Schwesterherz, aber es dreht sich in mir alles im Leib um, wenn ich dich so leiden sehe.«

»Leiden ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Ich kann nur nicht einsehen, warum er kein Wort der Zuneigung zu mir sagt.«

»Das Essen ist fertig, Kinder! … Kommt bitte herüber«, wurden die beiden jungen Frauen unterbrochen.

Ella und Morgan erhoben sich. Liebevoll blickten sie sich einen Augenblick lang an, dann hakten sich unter und verließen den Raum.

Elizabeth McKnee erwartete sie bereits. Der Tisch war geschmackvoll gedeckt und auch an ein paar Blumen in einer stilvollen Vase fehlte es nicht.

Elizabeth McKnee war eine sanfte Frau, die mit ihren fünfundvierzig Jahren mitten im Leben stand. Sie hatte – wie es jeder in der Gegend wusste – vor einem Dreivierteljahr ihren Mann verloren und bezog eine ausreichende Rente von der ›Equitable Life Assurance‹. Im Gegensatz zu vielen anderen Witwen ihres Alters, brauchte sie deshalb keiner Tätigkeit mehr nachzugehen, was ihr immer wieder geneidet wurde.

Auch Ella und Morgan brauchten nicht zu arbeiten. Ihr Vater hatte es ihnen ermöglicht ein gutes Mädchenpensionat zu besuchen. Nun aber waren sie wieder zurück im elterlichen Haus und gingen ihrer Mutter in der Küche zur Hand, weil diese der Meinung war, dass Mädchen die Kunst des Kochens beherrschen müssen.

›Die Liebe eines Mannes geht eben immer durch den Magen‹, pflegte sie laufend zu sagen. Dabei lachte sie dann spitzbübisch, worauf Morgan in der Regel erwiderte: ›Aber Mutter, du weißt doch, was die Franzosen sagen: Wo die Liebe den Tisch deckt, schmeckt das Essen am Besten.‹

 

Sie setzten sich und nahmen gemeinsam Mahlzeit ein.

»Und was habt ihr beide heute noch vor?«, fragte ihre Mutter neugierig, als Ella die Teller zusammenstellte. »Wie gedenkt ihr beide den Abend zu verbringen?«

Ella verdrehte die Augen und lachte.

»Na, du weißt schon, Mom. Morgan wird mal wieder mit Ryan durch den Park flanieren und auf einen Kuss hoffen … Ich werde etwas Croquet spielen gehen.«

Morgan war bei den Worten ihrer Schwester rot angelaufen

»Aber Ella, du sollst Morgan nicht immer brüskieren. Ich will das nicht!«, schalt ihre Mutter. »Du weißt, sie ist so viel sensibler als du. Bitte, … lass diese Art der Scherze. Du tust deiner Schwester damit weh.«

»Wie kannst du nur zwei so unterschiedliche Töchter haben, Mom?«, reagierte Ella pikiert. Sie bemerkte nicht, dass ihre Mutter unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte, während sie das Geschirr in die Küche brachte.

Elizabeth McKnee ergriff Morgans Hand.

»Liebst du ihn sehr?«, fragte sie leise.

»Ja, Mom.«

»Dann lauf zu ihm, mein Kind … und warte auf das Glück. Warten ist die schwerste Beschäftigung für ein junges Mädchen, aber ich bin sicher, es wird sich für dich lohnen. Ryan O’Connor ist ein guter Mann.«

»Meinst du wirklich, Mom?«

»Ja, mein Herz«, lächelte sie. »Ihr beide gebt ein wunderbares Paar ab.«

Freudig gab Morgan ihrer Mutter einen Kuss, dann eilte sie hinaus. Ein rascher Blick in den Spiegel sagte ihr, dass alles tadellos in Ordnung war. Die Rüschen am Saum ihres Kleides wippten fröhlich, als sie mit pochendem Herz aus dem Haus lief.

*

Sie sah Ryan O’Connor schon an der Gaslaterne stehen, wo er sie immer erwartete.

»Da bist du ja«, begrüßte er sie zärtlich.

Morgan errötete schamhaft, antwortete aber nichts. Lächelnd hakte sie sich an seinem Arm ein, wie sie es schon an so vielen Abenden getan hatte, und schweigend machten sie sich wie auf ein unausgesprochenes Kommando den Weg zum Park.

Es war eine große Grünanlage, in der viele alte Bäume standen. Inmitten des Stadtgartens gab es einen kleinen See, den Morgan ganz besonders, insbesondere der Enten wegen, liebte. Zumeist nahmen sie auf einer Bank an dessen Ufer Platz und betrachteten das Wasser und die Vögel. Auch an diesem Abend war es nicht anders.

Mit wildem, aufgeregtem Geschnatter kam ein Erpel näher, kaum, dass Ryan die erste Brotkrume geworfen hatte. Ihm folgten zahlreiche weitere Enten. Die Tiere waren so zutraulich, dass sie bis dicht zu ihnen an die Bank herankamen.

Morgan und Ryan schwiegen, bis auch das letzte Stückchen Brot verfüttert war. Dann, als die Entenschar durcheinander schnatternd zurück ins Wasser watschelte, ergriff Ryan ihre Hand.

»Morgan«, sagte er sanft, »lange, sehr lange habe ich überlegt, warum du eigentlich an jedem Abend mit mir hierherkommst.«

»Bist du draufgekommen?«, fragte sie leise, mit zum Boden gesenkten Blick.

»Morgan, … liebst … du … mich?«

»Ja, Ryan«, hauchte sie, hob den Kopf und wandte sich ihm zu.

Sie blickten sich zärtlich an – und plötzlich war alles so einfach. Sie verstand ihre Angst und die Ungeduld der letzten Wochen nicht mehr. Sie brauchte nur in die blauen Augen des Mannes zu sehen, der neben ihr saß – und alles war gut.

»Ich liebe dich, Morgan.«

»Ich weiß, Ryan.«

»Woher weißt du es?«

»An deinen Blicken konnte ich es ablesen, dazu jede Handbewegung und jede kleine Geste. All das hat es mir verraten.«

Er ergriff ihre Hand und fuhr sanft mit den Fingerspitzen die feinen Linien der Fläche nach. Dann führte er sie an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss darauf.

Die sanfte Berührung ließ Morgan erbeben. Ihr wurde ganz sonderbar zumute und ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Dann zog er sie zu sich heran, nahm sie in seine Arme, und der Kuss war genauso, wie sie ihn sich erträumt hatte – sanft und besitzergreifend zugleich.

Sie hätte später nicht zu sagen gewusst, wie lange sie nun so dasaßen, sich küssten und streichelten. Sie fuhren erst auf, als sich Schritte des Weges näherten. Aber es war ebenfalls ein Liebespaar – als es Morgan und Ryan bemerkte, entfernte es sich schnell wieder.

Ryan hatte sich eine Zigarette angesteckt und einen Arm um ihre Schultern gelegt.

»Ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen, Morgan«, gestand er ihr. »Ich liebe dich schon sehr lange.«

»Warum hast du es nicht getan, Liebster?«

»Weil …«

»Ja?« Gespannt sah sie ihm in die Augen.

»Weißt du eigentlich, dass ich noch bei meiner Mutter lebe, und dass sie an den Händen gelähmt ist?«

»Das wusste ich nicht, Ryan. Ich glaubte …«

»Meine Mutter verlässt deswegen nicht mehr das Haus, schon seit über fünf Jahren.«

»Seit über fünf Jahren? Aber sehr viel länger wohnst du doch noch gar nicht in ›Shieldaig‹

»Das wollte ich damit zum Ausdruck bringen, Morgan … seit wir hier wohnen. Meine Mutter ist auf Hilfe angewiesen. Ich kann sie nicht verlassen.«

»Ryan«, unterbrach Morgan schnell. »Ich werde deine Mutter bestimmt mögen. Ich liebe dich, und sie hat dir das Leben geschenkt. Wenn sie nicht wäre, würde es dich nicht geben, und du bist der Inhalt meines Lebens.«

»So siehst du es?« Er sah sie erstaunt an.

»Ja.«

»Und ich hatte die Befürchtung, nein, vielmehr Angst, dass … Nun, deswegen hatte ich mich getraut …«

»Weiß sie, dass du mich liebst?«

»Nein.«

»Nein?«

»Sie ist beinahe krankhaft eifersüchtig, Morgan. Wahrscheinlich fürchtet sie den Tag, an dem ich sie verlassen könnte. So oft ich ihr auch gesagt habe, dass das nicht passieren wird, … sie glaubt es mir wohl trotzdem nicht. Sie fürchtet die Frau, der ich meine Liebe schenken könnte.«

»Aber sie braucht mich doch nicht zu fürchten«, begehrte sie lächelnd auf.

»Nein. Ich weiß das. Du bist sanft und wunderbar.«

Wieder gaben sie sich einen Kuss, und für ein paar Augenblicke vergaßen sie die dunkle Wolke, die über ihrer Liebe schwebte.

»Willst du mich heiraten, Morgan«, fragte er sie unvermittelt.

»Ja, Ryan, … ja«, hauchte sie.

»Wirst du auch zu meiner Mutter gut sein können? Sie ist manchmal recht launisch … Aber sie hat eine Pflegerin, die regelmäßig zu ihr kommt, du wirst dich nicht mit ihr zu unterhalten brauchen, wenn du es nicht magst.«

»Du machst dir ganz unnötige Gedanken, Ryan. Ich werde natürlich so viel wie möglich mit ihr reden, wenn du fort bist, und dann können wir alle drei ein wunderbares Leben haben, nicht wahr?«

Ryan versank in brütendes Schweigen.

»Was hast du?«, forschte sie.

»Manchmal glaube ich, … meine Mutter will nicht, dass ich heirate. Schon einmal, ehe wir hierherzogen, hat sie ein Mädchen fortgejagt. Damals, … es liegt viele Jahre zurück, … damals hatte ich mich verliebt. Ich stellte sie meiner Mutter vor, aber sie brachte es binnen einer Stunde fertig, dass sie weinend aus dem Haus lief.«

»Aber was sollte sie gegen eine Ehe haben? Ich verstehe das nicht.«

»Sie fürchtet die Einsamkeit«, erklärte er. »Ich kann sie ja auch verstehen, aber ich will doch auch mein eigenes Leben haben. Ich liebe sie, … aber ich liebe dich ebenfalls. Ja, ich liebe dich sogar mehr, wenn man die Liebe zwischen einer Frau und einer Mutter überhaupt bemessen kann.«

Morgan legte ihren Kopf an seine Schulter und genoss das zärtliche Streicheln seiner Hände.

»Mich wird sie ganz bestimmt nicht fortjagen können«, flüsterte sie, »denn ich liebe wirklich.«

»Ich muss mir das alles von der Seele reden, Morgan«, erklärte er. »Ich habe nachts Angstvorstellungen, sie könnte dich quälen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Habe ich überhaupt ein Recht, eine Frau an mich zu binden? Muss ich nicht viel mehr auf das Unglück meiner Mutter Rücksicht nehmen und für sie dasein?«

»Nein, das musst du nicht«, antwortete sie entschieden, ergriff seine Hand und drückte viele kleine Küsse darauf. »Bitte quäle dich nicht dauernd mit diesen Fragen. Ich werde deine Mutter ganz sicher mögen, aber bitte, … bitte, lass uns glücklich werden.«

»Würde es dich nicht belasten, mit einer behinderten Frau in einem Haus zu wohnen?«